Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010Ein Mädchen aus Enniscorthy
Fremd zu sein an zwei Orten, ist die grundlegende Erfahrung aller Emigranten: Colm Tóibíns zarter Roman "Brooklyn" erkundet, wo die Seele bleibt.
Von Verena Lueken
Dies ist eine einfache Geschichte. Eilis Lacey, ein Mädchen aus dem Irland der fünfziger Jahre, in dem es keine Arbeit und also keine Zukunft gibt, geht nach New York. Nach stürmischer Überfahrt findet sie sich in Brooklyn wieder, in einer Pension für junge Frauen und in Obhut eines irischen Priesters, der ebenfalls aus Enniscorthy an der Südostküste Irlands stammt. Sie nimmt eine Arbeit in einem Modekaufhaus an, in dem bald die ersten schwarzen Frauen einkaufen werden, sie geht zur Abendschule, sie nimmt teil an den Aktivitäten der Gemeinde des Priesters, und sie geht zögernd zum Tanz, bei dem sich einige Italiener unter die Iren mischen. Sie verliebt sich. Und dann reist sie, weil ein schreckliches Unglück geschehen ist, zurück nach Hause.
Zu der einfachen Geschichte gehören komplizierte Gefühle. Und sie sind es, denen Colm Tóibín in diesem zarten, traurigen Buch nachspürt. Er hat es ganz aus der Perspektive von Eilis erzählt, mit der ihm eigenen Diskretion und wie immer ohne jede Effekthascherei und ohne Tricks. Eilis hatte damit gerechnet, in Enniscorthy zu bleiben, zu heiraten und irgendwann dort zu sterben. Sie hatte nie darüber nachgedacht, ob das Leben etwas anderes für sie bereithalten könnte. Aber das sagt sie nicht, als Mutter und Schwester ihre Abreise arrangieren. Und auch die Mutter und die Schwester, mit der Eilis eine bewundernde, tiefe Liebe verbindet, sprechen nicht über den Ursprung ihrer Pläne, die ihrer aller Leben für immer verändern werden. Es ist, als wäre diese Entscheidung über sie gekommen, unabänderbar, und die Gefühle hinkten ihr hinterher.
In den Büchern Tóibíns geht es immer ums Fremdsein, oft ums Fremdsein in der eigenen Familie, um Außenseiter. Eilis nun wird an zwei Orten zur Fremden - das ist die typische Emigrationserfahrung, und Tóibín interessiert, wie sich Orte, Zeit und Bewusstsein zueinander verhalten und wo die Seele dabei bleibt. Ob die Gefühle, die mit den physischen Bewegungen nicht immer mithalten, die Bewegungen des Bewusstseins mitmachen, und was geschieht, wenn der Körper an einem Ort ist, die Gefühle aber an mehreren zugleich. Und die Sprache, nicht die Geschichte, ist sein Medium, diesen Fragen nachzugehen. Leise, pathoslos, mit großer Präzision und in Sätzen von schwebendem Rhythmus, den solche Erkundungen ins innere Erleben brauchen, erzählt er uns von einer Seele im Transit.
Eilis Lacey liegt in ihrem kleinen Zimmer in einer Mädchenpension in Brooklyn auf dem Bett und liest. Sie liest Briefe - von der Mutter, der Schwester und dem Bruder, Briefe von zu Hause. Immer wieder saugt sie ein, was die Mutter und die Schwester aus Enniscorthy zu erzählen haben, während sie vergisst, wo sie selbst gerade ist. Das Wesentliche geschieht in ihrer Vorstellung - wie die Mutter am Küchentisch den Schreibblock bereitlegt, wie sie bemüht ist, die Zeilen aufs Papier zu bringen, ohne ein Wort oder eine Silbe durchzustreichen, während die Schwester Rose ihren Brief wohl im Wohnzimmer geschrieben hatte, auf einem eleganteren weißen Bogen, und ihn dann in einen länglichen Umschlag steckte. Die Mutter faltet ihre Briefe zum Quadrat. Auch der Bruder Jack, der in Birmingham Arbeit gefunden hat, hat geschrieben, aber bei ihm kann Eilis sich nicht vorstellen, wo er sich zum Schreiben hinsetzt, und seine Briefe sind kürzer, als wolle er nicht zu viel preisgeben. Dann fällt ihr auf, dass sie in den letzten Wochen kaum an zu Hause gedacht hatte. Abends, nach der Arbeit in dem Kaufhaus, hatte sie versucht, sich genau zu erinnern, was sie tagsüber erlebt, was sie an Neuem gesehen, was sie an Unbekanntem gehört hatte. Aber jetzt, auf dem Bett, mit den Briefen in der Hand, scheint ihr das alles nichts zu sein im Vergleich zu den Bildern, die von ihrem Elternhaus in ihr hochsteigen, von dem Essen, das es dort gab, den Kleidern, die sie getragen hatte, und der Stille, die überall herrschte.
"Das alles legte sich ihr wie eine entsetzliche Last auf die Seele", heißt es weiter, "und einen Moment lang glaubte sie, gleich weinen zu müssen." Sie spürt eine verzweifelte Mutlosigkeit, ein Gefühl ähnlich dem, das sich in ihr breitmachte, als sie sah, wie der Sargdeckel sich über ihrem toten Vater schloss und ihr bewusst wurde, seine Augen würden die Welt niemals mehr sehen. In Brooklyn ist sie ein Niemand, ohne Freunde und Familie, ohne Erinnerungen an Orte oder Menschen dort, ein Geist, dem nichts irgendetwas bedeutet, weil er nichts erkennt.
Indem sie Erinnerungen verblassen lässt, verschafft sich die Zeit im Bewusstsein Macht. Aber das Bewusstsein wehrt sich und gewinnt immer mal wieder die Oberhand. Um diese inneren Schwankungen eines Mädchens fern von Zuhause, dem eine neue Heimat zuwächst, ohne dass es die alte vergessen wollte (aber ahnend, sie vergessen zu müssen), das sich der Tide der Erinnerungen wie der ganz neuen Eindrücke überlässt, den Schmerz kommen und gehen sieht, sich der Liebe hingibt und doch Abschied nimmt von ihr, um eine neue zu finden, die es dann zurücklässt - um diese Adaptionen der Gefühle und Vorstellungen in der Fremde und unter Fremden kreist dieses Buch. Die Handlung spielt in Enniscorty und Brooklyn, aber worum es vor allem geht, geschieht in der Vorstellung von Eilis.
Wenn ihre Gedanken in die Erinnerung nach Hause gleiten, erinnern wir uns als Leser wiederum daran, wie sie auf den ersten Seiten des Buchs dort ihre Kleider wählte, als sie zum Dorftanz ging, und wie sie später ein Kleid, das die Schwester ihr geschenkt hatte, zusammenfaltete und in den Koffer legte, bevor sie nach Brooklyn aufbrach - so macht unser Bewusstsein beim Lesen eine ganz ähnliche Bewegung wie ihres. Und darin liegt die Wahrheit dieses Buchs, die Wahrheit der Erfahrung, die uns Tóibín durch seine Sprache und durch die genaue Konstruktion dieses Romans mit seiner so einfach wirkenden Geschichte ermöglicht.
Dass das Ganze gleichzeitig auch die Geschichte des Erwachsenwerdens von Eilis ist, die zunächst als verblüffend passiv erscheint und dann, kaum von zu Hause fort, neue Möglichkeiten für sich ausprobiert, einen neuen Tonfall, neue Gesten, das gehört zur Kunst dieses Autors, die bescheiden daher kommt und uns vollkommen in Bann nimmt - als sei Veränderung nur in der Fremde möglich, zu einem hohen Preis, den zu zahlen keine Entscheidung ist, sondern eines dieser Dinge des Lebens, mit denen das Herz klar kommen muss.
Im ruhigen Fluss der äußeren Ereignisse bewegt sich die Imagination von Eilis immer wieder zeitlich im Kreis, und gleitet möglicherweise in einem Nebensatz von der Vergangenheit ins Ausmalen der Zukunft. Und schließlich, wenn ein Abschied bald für sie, die ihn ausspricht, an Bedeutung gewinnen wird, während der Adressat ihn langsam vergisst, wie es sich Eilis am Ende von "Brooklyn" vorstellt, öffnet Tóibín seiner Hauptfigur doch noch die Welt.
Colm Tóibín: "Brooklyn". Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, München 2010. 303 S., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fremd zu sein an zwei Orten, ist die grundlegende Erfahrung aller Emigranten: Colm Tóibíns zarter Roman "Brooklyn" erkundet, wo die Seele bleibt.
Von Verena Lueken
Dies ist eine einfache Geschichte. Eilis Lacey, ein Mädchen aus dem Irland der fünfziger Jahre, in dem es keine Arbeit und also keine Zukunft gibt, geht nach New York. Nach stürmischer Überfahrt findet sie sich in Brooklyn wieder, in einer Pension für junge Frauen und in Obhut eines irischen Priesters, der ebenfalls aus Enniscorthy an der Südostküste Irlands stammt. Sie nimmt eine Arbeit in einem Modekaufhaus an, in dem bald die ersten schwarzen Frauen einkaufen werden, sie geht zur Abendschule, sie nimmt teil an den Aktivitäten der Gemeinde des Priesters, und sie geht zögernd zum Tanz, bei dem sich einige Italiener unter die Iren mischen. Sie verliebt sich. Und dann reist sie, weil ein schreckliches Unglück geschehen ist, zurück nach Hause.
Zu der einfachen Geschichte gehören komplizierte Gefühle. Und sie sind es, denen Colm Tóibín in diesem zarten, traurigen Buch nachspürt. Er hat es ganz aus der Perspektive von Eilis erzählt, mit der ihm eigenen Diskretion und wie immer ohne jede Effekthascherei und ohne Tricks. Eilis hatte damit gerechnet, in Enniscorthy zu bleiben, zu heiraten und irgendwann dort zu sterben. Sie hatte nie darüber nachgedacht, ob das Leben etwas anderes für sie bereithalten könnte. Aber das sagt sie nicht, als Mutter und Schwester ihre Abreise arrangieren. Und auch die Mutter und die Schwester, mit der Eilis eine bewundernde, tiefe Liebe verbindet, sprechen nicht über den Ursprung ihrer Pläne, die ihrer aller Leben für immer verändern werden. Es ist, als wäre diese Entscheidung über sie gekommen, unabänderbar, und die Gefühle hinkten ihr hinterher.
In den Büchern Tóibíns geht es immer ums Fremdsein, oft ums Fremdsein in der eigenen Familie, um Außenseiter. Eilis nun wird an zwei Orten zur Fremden - das ist die typische Emigrationserfahrung, und Tóibín interessiert, wie sich Orte, Zeit und Bewusstsein zueinander verhalten und wo die Seele dabei bleibt. Ob die Gefühle, die mit den physischen Bewegungen nicht immer mithalten, die Bewegungen des Bewusstseins mitmachen, und was geschieht, wenn der Körper an einem Ort ist, die Gefühle aber an mehreren zugleich. Und die Sprache, nicht die Geschichte, ist sein Medium, diesen Fragen nachzugehen. Leise, pathoslos, mit großer Präzision und in Sätzen von schwebendem Rhythmus, den solche Erkundungen ins innere Erleben brauchen, erzählt er uns von einer Seele im Transit.
Eilis Lacey liegt in ihrem kleinen Zimmer in einer Mädchenpension in Brooklyn auf dem Bett und liest. Sie liest Briefe - von der Mutter, der Schwester und dem Bruder, Briefe von zu Hause. Immer wieder saugt sie ein, was die Mutter und die Schwester aus Enniscorthy zu erzählen haben, während sie vergisst, wo sie selbst gerade ist. Das Wesentliche geschieht in ihrer Vorstellung - wie die Mutter am Küchentisch den Schreibblock bereitlegt, wie sie bemüht ist, die Zeilen aufs Papier zu bringen, ohne ein Wort oder eine Silbe durchzustreichen, während die Schwester Rose ihren Brief wohl im Wohnzimmer geschrieben hatte, auf einem eleganteren weißen Bogen, und ihn dann in einen länglichen Umschlag steckte. Die Mutter faltet ihre Briefe zum Quadrat. Auch der Bruder Jack, der in Birmingham Arbeit gefunden hat, hat geschrieben, aber bei ihm kann Eilis sich nicht vorstellen, wo er sich zum Schreiben hinsetzt, und seine Briefe sind kürzer, als wolle er nicht zu viel preisgeben. Dann fällt ihr auf, dass sie in den letzten Wochen kaum an zu Hause gedacht hatte. Abends, nach der Arbeit in dem Kaufhaus, hatte sie versucht, sich genau zu erinnern, was sie tagsüber erlebt, was sie an Neuem gesehen, was sie an Unbekanntem gehört hatte. Aber jetzt, auf dem Bett, mit den Briefen in der Hand, scheint ihr das alles nichts zu sein im Vergleich zu den Bildern, die von ihrem Elternhaus in ihr hochsteigen, von dem Essen, das es dort gab, den Kleidern, die sie getragen hatte, und der Stille, die überall herrschte.
"Das alles legte sich ihr wie eine entsetzliche Last auf die Seele", heißt es weiter, "und einen Moment lang glaubte sie, gleich weinen zu müssen." Sie spürt eine verzweifelte Mutlosigkeit, ein Gefühl ähnlich dem, das sich in ihr breitmachte, als sie sah, wie der Sargdeckel sich über ihrem toten Vater schloss und ihr bewusst wurde, seine Augen würden die Welt niemals mehr sehen. In Brooklyn ist sie ein Niemand, ohne Freunde und Familie, ohne Erinnerungen an Orte oder Menschen dort, ein Geist, dem nichts irgendetwas bedeutet, weil er nichts erkennt.
Indem sie Erinnerungen verblassen lässt, verschafft sich die Zeit im Bewusstsein Macht. Aber das Bewusstsein wehrt sich und gewinnt immer mal wieder die Oberhand. Um diese inneren Schwankungen eines Mädchens fern von Zuhause, dem eine neue Heimat zuwächst, ohne dass es die alte vergessen wollte (aber ahnend, sie vergessen zu müssen), das sich der Tide der Erinnerungen wie der ganz neuen Eindrücke überlässt, den Schmerz kommen und gehen sieht, sich der Liebe hingibt und doch Abschied nimmt von ihr, um eine neue zu finden, die es dann zurücklässt - um diese Adaptionen der Gefühle und Vorstellungen in der Fremde und unter Fremden kreist dieses Buch. Die Handlung spielt in Enniscorty und Brooklyn, aber worum es vor allem geht, geschieht in der Vorstellung von Eilis.
Wenn ihre Gedanken in die Erinnerung nach Hause gleiten, erinnern wir uns als Leser wiederum daran, wie sie auf den ersten Seiten des Buchs dort ihre Kleider wählte, als sie zum Dorftanz ging, und wie sie später ein Kleid, das die Schwester ihr geschenkt hatte, zusammenfaltete und in den Koffer legte, bevor sie nach Brooklyn aufbrach - so macht unser Bewusstsein beim Lesen eine ganz ähnliche Bewegung wie ihres. Und darin liegt die Wahrheit dieses Buchs, die Wahrheit der Erfahrung, die uns Tóibín durch seine Sprache und durch die genaue Konstruktion dieses Romans mit seiner so einfach wirkenden Geschichte ermöglicht.
Dass das Ganze gleichzeitig auch die Geschichte des Erwachsenwerdens von Eilis ist, die zunächst als verblüffend passiv erscheint und dann, kaum von zu Hause fort, neue Möglichkeiten für sich ausprobiert, einen neuen Tonfall, neue Gesten, das gehört zur Kunst dieses Autors, die bescheiden daher kommt und uns vollkommen in Bann nimmt - als sei Veränderung nur in der Fremde möglich, zu einem hohen Preis, den zu zahlen keine Entscheidung ist, sondern eines dieser Dinge des Lebens, mit denen das Herz klar kommen muss.
Im ruhigen Fluss der äußeren Ereignisse bewegt sich die Imagination von Eilis immer wieder zeitlich im Kreis, und gleitet möglicherweise in einem Nebensatz von der Vergangenheit ins Ausmalen der Zukunft. Und schließlich, wenn ein Abschied bald für sie, die ihn ausspricht, an Bedeutung gewinnen wird, während der Adressat ihn langsam vergisst, wie es sich Eilis am Ende von "Brooklyn" vorstellt, öffnet Tóibín seiner Hauptfigur doch noch die Welt.
Colm Tóibín: "Brooklyn". Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, München 2010. 303 S., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2010Willkommen in der großen kleinen Welt
Dieses Buch wird Bestand haben: Colm Toíbín erzählt in seinem Roman „Brooklyn“ von irischen Ausgewanderten in Amerika,
die zu Doppelgängern ihrer selbst werden, und taucht die Metropole New York in das Licht des Alltags Von Lothar Müller
Der amerikanische Schriftsteller Henry James, selbst ein Auswanderer, betrachtete, als er 1905 nach Jahrzehnten aus England wieder nach New York reiste, die dortigen Einwanderer mit unverhohlenem Misstrauen. Die Stadt seiner Kindheit am Washington Square schien ihm untergegangen, das moderne New York ein unberechenbarer, finsterer, von Elektrokabeln eingeschnürter Gigant, der Hafen ein beunruhigendes Einfallstor für Massen von Immigranten. In seinem Buch „The American Scene“ (1906) hielt er sie sich vom Hals, indem er sie in zoologische Metaphern sperrte wie in kleine Käfige. Henry James brachte von seiner Reise in die Heimat noch etwas mit: die Idee für seine Erzählung „The Jolly Corner“ (1908). Darin wird der Held, der nach Jahrzehnten aus Europa nach New York zurückkehrt, um den ererbten Familienbesitz zugunsten eines Neubaus niederreißen zu lassen, sein eigener Doppelgänger.
Colm Toíbín, 1955, in Enniscorthy im Südosten Irlands geboren, entstammt einer großen Auswanderernation. Und er ist ein großer Kenner von Henry James, über dessen Leben er 2004 den großartigen Roman „The Master“ („Der Meister in mittleren Jahren“) schrieb und dessen in New York spielende Erzählungen er in dem Band „The New York Stories of Henry James“ (2006) versammelt und mit einer Einleitung versehen hat, die sowohl den Versuchen des amerikanischen Ausgewanderten nachspürt, die entgleitende Stadt seiner Kindheit wiederzufinden, als auch seinem Schrecken angesichts des New York der Immigranten.
Immer wieder ist Colm Toíbín auf die Städte und Landschaften seiner eigenen Kindheit zurückgekommen, ob im Roman „The Blackwater Lightship“ (1999) („Das Feuerschiff von Blackwater“) oder jüngst in dem Erzählungsband „Mütter und Söhne“ (2009). Aber er gehörte auch selbst zu den zeitweilig Ausgewanderten, hat 1975 Irland Richtung Katalonien verlassen und dort die Aufbruchsjahre nach dem Ende der Franco-Diktatur erlebt, ist gereist, hat Reportagen über das katholische Europa geschrieben und Essays über das Leben der Homosexuellen von Oscar Wilde bis Pedro Almodóvar. Als Erzähler wie als Literaturkritiker gehört er zu den bedeutendsten europäischen Autoren seiner Generation.
Sein neuer Roman „Brooklyn“ ist eine literarische Antwort auf Henry James. Denn Brooklyn, das ist das New York, von dem James seine Welt des Washington Square bedroht sah, das New York der Italiener, der Juden und der Iren. Und der Schwarzen. Es ist im 20. Jahrhundert, vor allem durch das Kino, ein Ort der Gangsterballaden, der Großstadt-Abenteuer geworden. Colm Toíbín aber macht aus diesem Schauplatz etwas, das nur ein Autor tun kann, der nicht vorschnell die Hand ergreift, die der Stoff ihm ausstreckt. Er stellt eine Heldin in den Mittelpunkt, die kein Faible für Katastrophen und dramatische Zuspitzungen hat, eine verhaltene, stille Beobachterin, die nach Brooklyn eher ohne eigenes Zutun gerät, als dass sie dorthin aufgebrochen wäre.
Als diese junge Frau dem Leser im ersten Satz des Romans begegnet, ist sie noch in Enniscorthy: „Eilis Lacey, die am Fenster des Wohnzimmers im Obergeschoss des Hauses an der Friary Street saß, sah ihre Schwester, die mit raschem Schritt von der Arbeit zurückkam.“ In den Romanen und Erzählungen Colm Toíbíns gibt es häufig solche Szenen, in denen eine Figur aus der Distanz auf eine andere blickt. Sie sind Teil des Beziehungsnetzes, an dem dieser Autor unablässig webt, während seine Prosa gelassen und nahezu unmerklich die Handlung in Bewegung setzt.
Schon im nächsten Satz wird die ältere Schwester mit dem raschen Schritt Rose heißen, schon auf der nächsten Seite wird klar sein, dass sie die unternehmungslustigere ist und dass Ellis nicht zu jenen romantischen Frauen am Fenster gehört, die träumerisch in die Ferne blicken, sondern zum Tisch zurückkehren wird, auf dem ihre Lehrbücher über die verschiedenen Methoden der Buchführung liegen.
Rose glaubt man die Auswanderin anzusehen, aber Ellis ist es, die Toíbín nach Brooklyn schickt, und er wird nicht versäumen, dabei en passant ein Rätsel, ein Geheimnis in die Figur der quecksilbrigen Rose hineinzulegen, die ihrer Schwester den Weg weist, den sie selbst nicht geht, von dem sie aber glaubt, dass er ins Glück führt.
Nie mischt sich der Erzähler mit Kommentaren, Erläuterungen, eigenen Ansichten in die Handlungen seiner Figuren ein. Aber er leiht seiner Heldin, die sich in sich selbst nur undeutlich auskennt, seine Stimme, so, wenn er ihr gegen Ende des Romans „das seltsame Gefühl, zwei verschiedene Personen zu sein“, zuspricht. Da hat sie schon zwei Jahre in Brooklyn hinter sich, ist aus einem Grund, der hier nicht verraten werden darf, auf der Heimreise in Irland und hat die Zeit des Heimwehs schon hinter sich. In diesem Heimweh war sie noch eine Person, eins mit der jungen Frau am Fenster. Dann aber wird sie zu zwei Personen, zu Ellis Lacey aus Brooklyn und Ellis Lacey aus Enniscorthy, kurz: die junge Irin wird zu ihrer eigenen amerikanischen Doppelgängerin.
Auswanderer werden Doppelgänger. Diese Idee hat Toíbín von Henry James übernommen. Aber er löst sie ingeniös aus dem Spiel mit dem Erbe Edgar Allan Poes und dem Schauerlichen heraus und überantwortet sie einer Romanform, die nur das Alltagslicht kennt, selbst dann, wenn die Nacht hereinbricht: der Romanform Jane Austens.
Toíbíns Brooklyn ist das der frühen fünfziger Jahre. In den Kinos läuft „The Belle of New York“ mit Fred Astaire, man fährt in überfüllten U-Bahnen hinaus nach Coney Island, die Italiener aus Bensonhurst fiebern mit den Brooklyn Dodgers. Das in der englischen Provinz im frühen 19. Jahrhundert erprobte Romanmodell Jane Austens bewährt sich in der Metropole New York als Medium der messerscharfen Analyse nicht nur der Gefühle der Figuren, sondern zugleich der Gesellschaft, in der sie sich bewegen. Denn Eilis Lacey kommt nicht in eine große, sondern in eine kleine neue Welt.
Die spitzen Zungen von Austens Mrs. Bennett oder Lady Catherine leben in Figuren wie der irischen Pensionswirtin Kehoe in Brooklyn und der Ladenbesitzerin Kelly in Enniscorthy fort. Nicht minder spitz sind die Pfeile des Ressentiments, die in Mrs. Kehoes Pension gegen die Juden oder gegen die schwarzen Frauen abgeschossen werden, die neuerdings bei Bartocci’s bedient werden, wo Eilis als Verkäuferin arbeitet.
Was im Kriminalroman die Aufklärung eines Mordfalls ist, das ist in den Romanen Jane Austens die Aufklärung der Frage, wer wen heiratet. Auf überaus kunstvolle Weise hat Colm Toíbín die Spannung dieser Frage mit der existentiellen Unruhe gekoppelt, die aus der inneren Verdoppelung der Auswanderin hervorgeht. Am Ende rivalisiert eine vollkommen plausible Liebesgeschichte in Enniscorthy, die das Zeug zur Heirat hat, mit einer ebenso plausiblen Liebesgeschichte in Brooklyn, die schon bewiesen hat, dass sie das Zeug zur Heirat hat. Zugleich erhält die scheue Irin, die in Liverpool das Schiff bestieg, eine amerikanische, am Strand von Coney Island gebräunte Doppelgängerin, die als Buchhalterin das Zeug zur modernen Angestellten, nicht lediglich zur Ehefrau hat.
Gute Autoren können es nicht immer gut meinen mit ihren Figuren. Darum geht Eilis Lacey, während die spitzen Zungen die transatlantischen Telefonkabel in ihren Dienst stellen, am Ende in eine ungewisse Zukunft. Der Leser aber verlässt den Roman in der Gewissheit, dass die Geschichte dieser irischen Ausgewanderten Bestand haben wird in der Literatur dieser Zeit.
Colm Toíbín
Brooklyn
Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2010. 302 Seiten, 21,90 Euro.
Dieser Autor ergreift nicht
vorschnell die Hand, die sein
Stoff ihm entgegenstreckt
Gute Erzähler können
es nicht immer gut
meinen mit ihren Figuren
Die spitzen Zungen der Romanfiguren von Jane Austen, ob sie Mrs. Bennett oder Lady Catherine heißen, leben in den Kleinbürgern von Brooklyn fort, in Leuten wie der Pensionswirtin Kehoe oder der Ladenbesitzerin Kelly. Foto: Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos/Agentur Focus
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Dieses Buch wird Bestand haben: Colm Toíbín erzählt in seinem Roman „Brooklyn“ von irischen Ausgewanderten in Amerika,
die zu Doppelgängern ihrer selbst werden, und taucht die Metropole New York in das Licht des Alltags Von Lothar Müller
Der amerikanische Schriftsteller Henry James, selbst ein Auswanderer, betrachtete, als er 1905 nach Jahrzehnten aus England wieder nach New York reiste, die dortigen Einwanderer mit unverhohlenem Misstrauen. Die Stadt seiner Kindheit am Washington Square schien ihm untergegangen, das moderne New York ein unberechenbarer, finsterer, von Elektrokabeln eingeschnürter Gigant, der Hafen ein beunruhigendes Einfallstor für Massen von Immigranten. In seinem Buch „The American Scene“ (1906) hielt er sie sich vom Hals, indem er sie in zoologische Metaphern sperrte wie in kleine Käfige. Henry James brachte von seiner Reise in die Heimat noch etwas mit: die Idee für seine Erzählung „The Jolly Corner“ (1908). Darin wird der Held, der nach Jahrzehnten aus Europa nach New York zurückkehrt, um den ererbten Familienbesitz zugunsten eines Neubaus niederreißen zu lassen, sein eigener Doppelgänger.
Colm Toíbín, 1955, in Enniscorthy im Südosten Irlands geboren, entstammt einer großen Auswanderernation. Und er ist ein großer Kenner von Henry James, über dessen Leben er 2004 den großartigen Roman „The Master“ („Der Meister in mittleren Jahren“) schrieb und dessen in New York spielende Erzählungen er in dem Band „The New York Stories of Henry James“ (2006) versammelt und mit einer Einleitung versehen hat, die sowohl den Versuchen des amerikanischen Ausgewanderten nachspürt, die entgleitende Stadt seiner Kindheit wiederzufinden, als auch seinem Schrecken angesichts des New York der Immigranten.
Immer wieder ist Colm Toíbín auf die Städte und Landschaften seiner eigenen Kindheit zurückgekommen, ob im Roman „The Blackwater Lightship“ (1999) („Das Feuerschiff von Blackwater“) oder jüngst in dem Erzählungsband „Mütter und Söhne“ (2009). Aber er gehörte auch selbst zu den zeitweilig Ausgewanderten, hat 1975 Irland Richtung Katalonien verlassen und dort die Aufbruchsjahre nach dem Ende der Franco-Diktatur erlebt, ist gereist, hat Reportagen über das katholische Europa geschrieben und Essays über das Leben der Homosexuellen von Oscar Wilde bis Pedro Almodóvar. Als Erzähler wie als Literaturkritiker gehört er zu den bedeutendsten europäischen Autoren seiner Generation.
Sein neuer Roman „Brooklyn“ ist eine literarische Antwort auf Henry James. Denn Brooklyn, das ist das New York, von dem James seine Welt des Washington Square bedroht sah, das New York der Italiener, der Juden und der Iren. Und der Schwarzen. Es ist im 20. Jahrhundert, vor allem durch das Kino, ein Ort der Gangsterballaden, der Großstadt-Abenteuer geworden. Colm Toíbín aber macht aus diesem Schauplatz etwas, das nur ein Autor tun kann, der nicht vorschnell die Hand ergreift, die der Stoff ihm ausstreckt. Er stellt eine Heldin in den Mittelpunkt, die kein Faible für Katastrophen und dramatische Zuspitzungen hat, eine verhaltene, stille Beobachterin, die nach Brooklyn eher ohne eigenes Zutun gerät, als dass sie dorthin aufgebrochen wäre.
Als diese junge Frau dem Leser im ersten Satz des Romans begegnet, ist sie noch in Enniscorthy: „Eilis Lacey, die am Fenster des Wohnzimmers im Obergeschoss des Hauses an der Friary Street saß, sah ihre Schwester, die mit raschem Schritt von der Arbeit zurückkam.“ In den Romanen und Erzählungen Colm Toíbíns gibt es häufig solche Szenen, in denen eine Figur aus der Distanz auf eine andere blickt. Sie sind Teil des Beziehungsnetzes, an dem dieser Autor unablässig webt, während seine Prosa gelassen und nahezu unmerklich die Handlung in Bewegung setzt.
Schon im nächsten Satz wird die ältere Schwester mit dem raschen Schritt Rose heißen, schon auf der nächsten Seite wird klar sein, dass sie die unternehmungslustigere ist und dass Ellis nicht zu jenen romantischen Frauen am Fenster gehört, die träumerisch in die Ferne blicken, sondern zum Tisch zurückkehren wird, auf dem ihre Lehrbücher über die verschiedenen Methoden der Buchführung liegen.
Rose glaubt man die Auswanderin anzusehen, aber Ellis ist es, die Toíbín nach Brooklyn schickt, und er wird nicht versäumen, dabei en passant ein Rätsel, ein Geheimnis in die Figur der quecksilbrigen Rose hineinzulegen, die ihrer Schwester den Weg weist, den sie selbst nicht geht, von dem sie aber glaubt, dass er ins Glück führt.
Nie mischt sich der Erzähler mit Kommentaren, Erläuterungen, eigenen Ansichten in die Handlungen seiner Figuren ein. Aber er leiht seiner Heldin, die sich in sich selbst nur undeutlich auskennt, seine Stimme, so, wenn er ihr gegen Ende des Romans „das seltsame Gefühl, zwei verschiedene Personen zu sein“, zuspricht. Da hat sie schon zwei Jahre in Brooklyn hinter sich, ist aus einem Grund, der hier nicht verraten werden darf, auf der Heimreise in Irland und hat die Zeit des Heimwehs schon hinter sich. In diesem Heimweh war sie noch eine Person, eins mit der jungen Frau am Fenster. Dann aber wird sie zu zwei Personen, zu Ellis Lacey aus Brooklyn und Ellis Lacey aus Enniscorthy, kurz: die junge Irin wird zu ihrer eigenen amerikanischen Doppelgängerin.
Auswanderer werden Doppelgänger. Diese Idee hat Toíbín von Henry James übernommen. Aber er löst sie ingeniös aus dem Spiel mit dem Erbe Edgar Allan Poes und dem Schauerlichen heraus und überantwortet sie einer Romanform, die nur das Alltagslicht kennt, selbst dann, wenn die Nacht hereinbricht: der Romanform Jane Austens.
Toíbíns Brooklyn ist das der frühen fünfziger Jahre. In den Kinos läuft „The Belle of New York“ mit Fred Astaire, man fährt in überfüllten U-Bahnen hinaus nach Coney Island, die Italiener aus Bensonhurst fiebern mit den Brooklyn Dodgers. Das in der englischen Provinz im frühen 19. Jahrhundert erprobte Romanmodell Jane Austens bewährt sich in der Metropole New York als Medium der messerscharfen Analyse nicht nur der Gefühle der Figuren, sondern zugleich der Gesellschaft, in der sie sich bewegen. Denn Eilis Lacey kommt nicht in eine große, sondern in eine kleine neue Welt.
Die spitzen Zungen von Austens Mrs. Bennett oder Lady Catherine leben in Figuren wie der irischen Pensionswirtin Kehoe in Brooklyn und der Ladenbesitzerin Kelly in Enniscorthy fort. Nicht minder spitz sind die Pfeile des Ressentiments, die in Mrs. Kehoes Pension gegen die Juden oder gegen die schwarzen Frauen abgeschossen werden, die neuerdings bei Bartocci’s bedient werden, wo Eilis als Verkäuferin arbeitet.
Was im Kriminalroman die Aufklärung eines Mordfalls ist, das ist in den Romanen Jane Austens die Aufklärung der Frage, wer wen heiratet. Auf überaus kunstvolle Weise hat Colm Toíbín die Spannung dieser Frage mit der existentiellen Unruhe gekoppelt, die aus der inneren Verdoppelung der Auswanderin hervorgeht. Am Ende rivalisiert eine vollkommen plausible Liebesgeschichte in Enniscorthy, die das Zeug zur Heirat hat, mit einer ebenso plausiblen Liebesgeschichte in Brooklyn, die schon bewiesen hat, dass sie das Zeug zur Heirat hat. Zugleich erhält die scheue Irin, die in Liverpool das Schiff bestieg, eine amerikanische, am Strand von Coney Island gebräunte Doppelgängerin, die als Buchhalterin das Zeug zur modernen Angestellten, nicht lediglich zur Ehefrau hat.
Gute Autoren können es nicht immer gut meinen mit ihren Figuren. Darum geht Eilis Lacey, während die spitzen Zungen die transatlantischen Telefonkabel in ihren Dienst stellen, am Ende in eine ungewisse Zukunft. Der Leser aber verlässt den Roman in der Gewissheit, dass die Geschichte dieser irischen Ausgewanderten Bestand haben wird in der Literatur dieser Zeit.
Colm Toíbín
Brooklyn
Roman. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2010. 302 Seiten, 21,90 Euro.
Dieser Autor ergreift nicht
vorschnell die Hand, die sein
Stoff ihm entgegenstreckt
Gute Erzähler können
es nicht immer gut
meinen mit ihren Figuren
Die spitzen Zungen der Romanfiguren von Jane Austen, ob sie Mrs. Bennett oder Lady Catherine heißen, leben in den Kleinbürgern von Brooklyn fort, in Leuten wie der Pensionswirtin Kehoe oder der Ladenbesitzerin Kelly. Foto: Henri Cartier-Bresson / Magnum Photos/Agentur Focus
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With this elating and humane novel, Colm Tóibín has produced a masterwork Sunday Times