Im modernen China, einem verrückten Ort zwischen Kulturrevolution und extremem Materialismus, wachsen die Brüder Baldy Li und Song Gang auf. Der eine ein sexbesessener Tunichtgut, der andere ein sensibler Bücherwurm, schwören sie sich, immer Brüder zu bleiben. Dies wird mit den Höhen und Tiefen der Liebe, gewonnenen und verlorenen Millionen, häufig zum Kampf. Tragisch und absurd, mit Mitgefühl und beißendem Humor - der Spiegel eines außergewöhnlichen Landes in einer aufwühlenden Zeit.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2010Zwischen Triebstau und Trickbetrug
Ein Glatzkopf und der Kahlschlag der Modernisierung: Yu Hua erzählt mit deftiger Komik vom chinesischen Kapitalismus - und seinen Absurditäten.
Diese Karriere beginnt auf einer öffentlichen Toilette. Glatzkopf Li ist gerade vierzehn Jahre alt, als er eines Tages seinen kahlgeschorenen Kopf beherzt durch die Sitzöffnung eines altmodischen Aborts steckt. Ohne sich von dem beißenden Gestank aus der Jauchegrube stören zu lassen, widmet er sich ausführlich dem Anblick der Frauen, die sich auf der anderen Seite der dünnen Trennwand niedergelassen haben.
Unter ihnen befindet sich auch die schöne Lin Hong, und Glatzkopf-Li begreift schnell, dass es einen Markt für sein frisch erworbenes anatomisches Wissen gibt. Für eine Portion Nudelsuppe verrät er ab sofort den männlichen Bewohnern seiner Heimatstadt Liuzhen das "Geheimnis von Lin Hongs Hintern" - und stellt damit zum ersten Mal seine angeborene Geschäftstüchtigkeit unter Beweis.
Das ist nur der Anfang: Yu Hua verfolgt in "Brüder" den märchenhaften Aufstieg eines "kleinen Spanners" zum Multimillionär, und auf den ersten Blick könnte man den knapp achthundert Seiten langen Roman des chinesischen Schriftstellers für ein vergnügtes Schelmenstück aus einer ökonomischen Übergangsepoche halten. Die "Klo-Affäre" von Liuzhen fällt in die späten siebziger Jahre. Kurz darauf wird Deng Xiaoping die "Politik der Reform und Öffnung" verkünden. Der kahlköpfige Li nutzt die verhaltene Aufbruchstimmung, um sich als jugendlicher Funktionär an die Spitze der "Geschützten Werkstätten" seiner Heimatstadt zu putschen und gemeinsam mit "zwei Hinkebeinen, drei Debilen, vier Blinden und fünf Gehörlosen" einen eindrucksvollen Profit zu erwirtschaften.
Lange hält er es in dem Staatsbetrieb jedoch nicht aus. Als Anfang der Achtziger plötzlich jedermann in China glaubt, "sich kaufmännisch betätigen zu müssen", macht sich Li mit einer Recyclingfirma selbständig und verdient mit einer Schiffsladung getragener Anzüge aus Japan seine erste Million.
Allein in der Liebe hat der Held keinen Erfolg. Die schöne Lin Hong weicht seinen hartnäckigen Annäherungsversuchen verständlicherweise aus und nimmt stattdessen Song Gang zum Mann, den Bruder des rüden Unternehmers. Damit ist die Parabel auf den kapitalistischen Sündenfall perfekt. Während Glatzkopf-Li ein Wirtschaftsimperium errichtet und sich als "einsamer Millionär" von einer Sexaffäre in die nächste stürzt, wird sein Bruder arbeitslos und verwandelt sich vom glücklichen Ehemann in einen tragischen Modernisierungsverlierer. Song Gang gibt sein letztes Geld für eine "koreanische Brustvergrößerungsoperation" aus und wirbt von nun an im "roten Büstenhalter" für eine sündhaft teure "Busenwunder"-Creme. Das ist das Zwischenergebnis: Die chinesische Spielart des Kapitalismus ist in diesem Roman zunächst einmal nichts anderes als eine monströse Mischung aus Trickbetrug und Triebstau.
Yu Huas distanzierter Blick auf sein Heimatland hat sich bewährt. Zwei Werke des 1960 geborenen Schriftstellers sind bereits auf Deutsch erschienen, und beide zeichneten ein düsteres Bild der Volksrepublik: Der Roman "Leben" - 1992 in China, 1998 in Deutschland erschienen und vom staatlich ebenfalls stark drangsalierten Zhang Yimou verfilmt - erzählt die Geschichte einer Familie, die während der Gründungszeit der Volksrepublik die Macht der Kuomintang zu spüren bekommt. In "Der Mann, der sein Blut verkaufte" von 1995 (in Deutschland 2000 veröffentlicht) opfert sich ein bitterarmer Fabrikarbeiter auf, um Frau und Kinder zu ernähren.
Der Tonfall allerdings hat sich jetzt geändert. Yu Hua war bisher durch eine zarte, melancholische Sprache aufgefallen. In "Brüder" setzt er dagegen auf Slapstick-Szenen und munter über den Text gestreute Kraftausdrücke. Ulrich Kautz' energische deutsche Übersetzung liest sich dann auch streckenweise ausgesprochen komisch. "Alles Scheiße!", flucht der enttäuschte Minnesänger, als er zu ahnen beginnt, dass der "Knackarsch" von Lin Hong nicht ihm, sondern seinem Bruder gehören wird, und droht im gleichen Atemzug einem unschuldigen Passanten eine Tracht Prügel an: "Was guckst du?"
In China ist Yu Hua nach dem Erscheinen seines jüngsten Romans auch für diesen vermeintlich vulgären Stil getadelt worden. In erster Linie haben ihm seine Kritiker jedoch vorgeworfen, sich genau jenem Kapitalismus anzudienen, den er mit literarischen Mitteln zu denunzieren versucht: "Brüder" sei ein auf den westlichen Markt zugeschnittenes Pamphlet, das ein kaufkräftiges Publikum in Europa und Amerika in seinen Vorurteilen bestätigen solle.
Bislang ist die Geschichte von Glatzkopf-Li und seinem bemitleidenswerten Bruder allerdings vor allem ein Erfolg im eigenen Land. 1,5 Millionen Exemplare des umstrittenen Buchs sind allein in China verkauft worden, und Yu Hua dürfte damit einer größten kommerziellen Bucherfolge der letzten Jahre gelungen sein.
Es ist ein kleines Wunder, dass "Brüder" nicht der Zensur zum Opfer gefallen ist, und das, obwohl Yu Hua mit seinem Bestseller nicht nur am Image der Wirtschaftsmacht China kratzt, sondern an ein veritables politisches Tabu rührt: Die ersten zweihundert Seiten des Romans sind der Zeit der Kulturrevolution gewidmet; sieben Millionen Menschen kamen in dieser Zeit ums Leben. Die Eingangskapitel lesen sich keinesfalls so amüsant wie der Rest des Romans. Li und sein Bruder sind noch Kinder, als die Roten Garden im Sommer des Jahres 1966 in Liuzhen einfallen. Ihr Vater wird als "Grundbesitzer" denunziert und zusammen mit anderen "Kapitalisten" und "Konterrevolutionären" in ein provisorisches Gefängnis gesperrt. Yu Hua spart nichts aus: In der gleichen drastischen Sprache, mit der er später die grotesken Auswüchse des Kapitalismus beschreiben wird, erzählt er jetzt davon, wie die Wachen einem der Gefangenen mit einer Drahtbürste die Haut vom Leib reißen und unter lautem Gelächter mit einer brennenden Zigarette foltern. Zuletzt prügeln die Roten Garden den Vater von Li und Song Gang zu Tode und richten den Leichnam so übel zu, dass selbst seine eigenen Kinder ihn nicht mehr erkennen. Wie passt das zusammen? Yu Hua bemüht sich gar nicht erst, den harten Schnitt nach dem ersten Viertel seines Romans erzählerisch zu legitimieren. Den Übergang von den blutigen Ereignissen der "Großen Proletarischen Kulturrevolution" zur leichtfüßigen Satire auf den Kader-Kapitalismus kommentiert er nur mit einem einzigen, beiläufigen Satz: "Lassen wir die Toten ruhen - halten wir's mit den Lebenden!"
In der Lakonie dieser Worte liegt die Brisanz dieses bitterbösen Romans. "Brüder" erzählt davon, dass Massenmord und Marktwirtschaft keinen Widerspruch darstellen, sondern nur eine Frage des politischen Zeitgeschmacks sind. Gut möglich, dass Yu Hua mit dieser Auffassung nicht nur in China anecken wird.
KOLJA MENSING.
Yu Hua: "Brüder". Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 764 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Glatzkopf und der Kahlschlag der Modernisierung: Yu Hua erzählt mit deftiger Komik vom chinesischen Kapitalismus - und seinen Absurditäten.
Diese Karriere beginnt auf einer öffentlichen Toilette. Glatzkopf Li ist gerade vierzehn Jahre alt, als er eines Tages seinen kahlgeschorenen Kopf beherzt durch die Sitzöffnung eines altmodischen Aborts steckt. Ohne sich von dem beißenden Gestank aus der Jauchegrube stören zu lassen, widmet er sich ausführlich dem Anblick der Frauen, die sich auf der anderen Seite der dünnen Trennwand niedergelassen haben.
Unter ihnen befindet sich auch die schöne Lin Hong, und Glatzkopf-Li begreift schnell, dass es einen Markt für sein frisch erworbenes anatomisches Wissen gibt. Für eine Portion Nudelsuppe verrät er ab sofort den männlichen Bewohnern seiner Heimatstadt Liuzhen das "Geheimnis von Lin Hongs Hintern" - und stellt damit zum ersten Mal seine angeborene Geschäftstüchtigkeit unter Beweis.
Das ist nur der Anfang: Yu Hua verfolgt in "Brüder" den märchenhaften Aufstieg eines "kleinen Spanners" zum Multimillionär, und auf den ersten Blick könnte man den knapp achthundert Seiten langen Roman des chinesischen Schriftstellers für ein vergnügtes Schelmenstück aus einer ökonomischen Übergangsepoche halten. Die "Klo-Affäre" von Liuzhen fällt in die späten siebziger Jahre. Kurz darauf wird Deng Xiaoping die "Politik der Reform und Öffnung" verkünden. Der kahlköpfige Li nutzt die verhaltene Aufbruchstimmung, um sich als jugendlicher Funktionär an die Spitze der "Geschützten Werkstätten" seiner Heimatstadt zu putschen und gemeinsam mit "zwei Hinkebeinen, drei Debilen, vier Blinden und fünf Gehörlosen" einen eindrucksvollen Profit zu erwirtschaften.
Lange hält er es in dem Staatsbetrieb jedoch nicht aus. Als Anfang der Achtziger plötzlich jedermann in China glaubt, "sich kaufmännisch betätigen zu müssen", macht sich Li mit einer Recyclingfirma selbständig und verdient mit einer Schiffsladung getragener Anzüge aus Japan seine erste Million.
Allein in der Liebe hat der Held keinen Erfolg. Die schöne Lin Hong weicht seinen hartnäckigen Annäherungsversuchen verständlicherweise aus und nimmt stattdessen Song Gang zum Mann, den Bruder des rüden Unternehmers. Damit ist die Parabel auf den kapitalistischen Sündenfall perfekt. Während Glatzkopf-Li ein Wirtschaftsimperium errichtet und sich als "einsamer Millionär" von einer Sexaffäre in die nächste stürzt, wird sein Bruder arbeitslos und verwandelt sich vom glücklichen Ehemann in einen tragischen Modernisierungsverlierer. Song Gang gibt sein letztes Geld für eine "koreanische Brustvergrößerungsoperation" aus und wirbt von nun an im "roten Büstenhalter" für eine sündhaft teure "Busenwunder"-Creme. Das ist das Zwischenergebnis: Die chinesische Spielart des Kapitalismus ist in diesem Roman zunächst einmal nichts anderes als eine monströse Mischung aus Trickbetrug und Triebstau.
Yu Huas distanzierter Blick auf sein Heimatland hat sich bewährt. Zwei Werke des 1960 geborenen Schriftstellers sind bereits auf Deutsch erschienen, und beide zeichneten ein düsteres Bild der Volksrepublik: Der Roman "Leben" - 1992 in China, 1998 in Deutschland erschienen und vom staatlich ebenfalls stark drangsalierten Zhang Yimou verfilmt - erzählt die Geschichte einer Familie, die während der Gründungszeit der Volksrepublik die Macht der Kuomintang zu spüren bekommt. In "Der Mann, der sein Blut verkaufte" von 1995 (in Deutschland 2000 veröffentlicht) opfert sich ein bitterarmer Fabrikarbeiter auf, um Frau und Kinder zu ernähren.
Der Tonfall allerdings hat sich jetzt geändert. Yu Hua war bisher durch eine zarte, melancholische Sprache aufgefallen. In "Brüder" setzt er dagegen auf Slapstick-Szenen und munter über den Text gestreute Kraftausdrücke. Ulrich Kautz' energische deutsche Übersetzung liest sich dann auch streckenweise ausgesprochen komisch. "Alles Scheiße!", flucht der enttäuschte Minnesänger, als er zu ahnen beginnt, dass der "Knackarsch" von Lin Hong nicht ihm, sondern seinem Bruder gehören wird, und droht im gleichen Atemzug einem unschuldigen Passanten eine Tracht Prügel an: "Was guckst du?"
In China ist Yu Hua nach dem Erscheinen seines jüngsten Romans auch für diesen vermeintlich vulgären Stil getadelt worden. In erster Linie haben ihm seine Kritiker jedoch vorgeworfen, sich genau jenem Kapitalismus anzudienen, den er mit literarischen Mitteln zu denunzieren versucht: "Brüder" sei ein auf den westlichen Markt zugeschnittenes Pamphlet, das ein kaufkräftiges Publikum in Europa und Amerika in seinen Vorurteilen bestätigen solle.
Bislang ist die Geschichte von Glatzkopf-Li und seinem bemitleidenswerten Bruder allerdings vor allem ein Erfolg im eigenen Land. 1,5 Millionen Exemplare des umstrittenen Buchs sind allein in China verkauft worden, und Yu Hua dürfte damit einer größten kommerziellen Bucherfolge der letzten Jahre gelungen sein.
Es ist ein kleines Wunder, dass "Brüder" nicht der Zensur zum Opfer gefallen ist, und das, obwohl Yu Hua mit seinem Bestseller nicht nur am Image der Wirtschaftsmacht China kratzt, sondern an ein veritables politisches Tabu rührt: Die ersten zweihundert Seiten des Romans sind der Zeit der Kulturrevolution gewidmet; sieben Millionen Menschen kamen in dieser Zeit ums Leben. Die Eingangskapitel lesen sich keinesfalls so amüsant wie der Rest des Romans. Li und sein Bruder sind noch Kinder, als die Roten Garden im Sommer des Jahres 1966 in Liuzhen einfallen. Ihr Vater wird als "Grundbesitzer" denunziert und zusammen mit anderen "Kapitalisten" und "Konterrevolutionären" in ein provisorisches Gefängnis gesperrt. Yu Hua spart nichts aus: In der gleichen drastischen Sprache, mit der er später die grotesken Auswüchse des Kapitalismus beschreiben wird, erzählt er jetzt davon, wie die Wachen einem der Gefangenen mit einer Drahtbürste die Haut vom Leib reißen und unter lautem Gelächter mit einer brennenden Zigarette foltern. Zuletzt prügeln die Roten Garden den Vater von Li und Song Gang zu Tode und richten den Leichnam so übel zu, dass selbst seine eigenen Kinder ihn nicht mehr erkennen. Wie passt das zusammen? Yu Hua bemüht sich gar nicht erst, den harten Schnitt nach dem ersten Viertel seines Romans erzählerisch zu legitimieren. Den Übergang von den blutigen Ereignissen der "Großen Proletarischen Kulturrevolution" zur leichtfüßigen Satire auf den Kader-Kapitalismus kommentiert er nur mit einem einzigen, beiläufigen Satz: "Lassen wir die Toten ruhen - halten wir's mit den Lebenden!"
In der Lakonie dieser Worte liegt die Brisanz dieses bitterbösen Romans. "Brüder" erzählt davon, dass Massenmord und Marktwirtschaft keinen Widerspruch darstellen, sondern nur eine Frage des politischen Zeitgeschmacks sind. Gut möglich, dass Yu Hua mit dieser Auffassung nicht nur in China anecken wird.
KOLJA MENSING.
Yu Hua: "Brüder". Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 764 S., geb., 24,95 [Euro].
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