Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.09.2016Ein überwältigender amerikanischer Traum
Der Schriftsteller Richard Ford hat seit 30 Jahren keine Buchkritik mehr verfasst. Doch Bruce Springsteens Memoiren
„Born To Run“ haben ihn so mitgerissen wie ein Konzert des „Boss“. Er musste einfach etwas dazu loswerden
Für die meisten von uns neun Zillionen Bruce-Springsteen-Fans, die bei jedem Wetter seine brandgefährlichen, hochexplosiven, deckensprengenden, sauerstoffspaltenden dreistündigen Riesenspektakel von Konzerten durchgestanden haben, die sich jedes seiner Alben gekauft und nachgekauft haben, die seine Songtexte studiert, sich über sein kompliziertes musikalisches Leben und das seiner Band gebeugt haben und auch die im Dunkel der Privatsphäre gehaltenen Ehe-, Familien- und sonst wie sinnlichen Ausflüge nicht vernachlässigt haben, und deren lebensentscheidende Situationen mit Spuren von „No Surrender“ markiert sind, das durch unser Hirn pulst – für uns alle in seinem weltweiten Publikum – besteht die ewige Faszination von Bruce ( ich schwöre, dass ich bei keinem einzigen Konzert Bruce! gerufen habe) schlicht und ergreifend darin: Wie schafft man es verdammt noch mal so weit in 50 kurzen Jahren aus Freehold in New Jersey? Es erinnert an den alten Bauer in Maine, der auf die Frage, wie man zur Stadt hinter dem Hügel gelangt, nur sagt, dass es nicht möglich ist. Und wirklich schafft man es weder in Springsteens noch im Leben eines anderen von hier aus nach dort. Doch er, er hat es geschafft. Und wir können es alle bezeugen.
Die neue Autobiografie vom Boss, „Born to Run“ (Heyne Verlag, München, 2016. 672 Seiten, 27,99 Euro) müsste im Grunde das Mysterium, das sich in diesem Paradox verbirgt, durchdringen und offenlegen. Über weite Strecken gelingt das auch.
Praktisch jeder, der mit Bruce Springsteen im Lauf der Jahre zusammengetroffen ist – angefangen von den Besitzern des schlichten „Upstage“ im Asbury Park von 1969 und den legendären Hit-Produzenten John Hammond und Clive Davis bei der Columbia, den ebenso verlässlichen wie nörglerischen und leidenden Mitspielern bei der unverzichtbaren E-Street-Band, über Ronald Reagan und Pete Seeger bis zu Barack Obama, haben erkannt, dass Springsteen einzigartig ist – einer, der es jeden Abend auf der Bühne bewiesen hat, jemand, der über eine ungeheure Erfahrung verfügt, jemand, den man unausgesetzt anschauen muss, jemand, dem man nicht lange böse sein kann, obwohl er als junger Mann grotesk unbescheidene Vorstellungen von seinen Fähigkeiten hatte, der seine Bandkollegen wie Lieblingsangestellte behandelte und dabei sagenhaft launisch sein konnte, autistisch bis dorthinaus, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Das Gleiche ließe sich mit anderen Worten auch über die Gebrüder Morrison, Jim wie Van, über Otis Redding, Marvin Gaye, Janis Joplin, selbst über Eric Burdon und ganz bestimmt auch über den Big Bopper sagen. Sie sind und waren einzigartig, jeder auf seine Weise. Doch „einzigartig“ allein reicht nicht aus für Bruce Springsteen vor 90 000 Menschen über mehr als 30 Jahre in 40 verschiedenen Ländern und das bei unverminderter Härte wie zuletzt am vorigen Mittwochnachmittag bewiesen.
Wer Kunst nur von außen sieht – von den Zuschauerplätzen aus, wie es auch sein soll –, begreift oft nicht, wie Kunst entsteht. Genau das aber zieht die Fans in Massen zu Springsteen. Die Gesamtheit seines Werks – die Songs, die Musik, die Gitarre, die Stimme, das Image, die Verrenkungen, die Rezitative, die Inszenierung, das, was Springsteen die „Summe meiner Teile“ nennt – ist so kompakt, so konzentriert und wirkt so authentisch, dass fast nichts mehr gilt, was wir glauben über die Fähigkeiten Normalsterblicher zu wissen. Da ich viele Konzerte mit ihm erlebt habe, kann ich bestätigen, dass man oft vollkommen überwältigt wird von dem, was man zu hören und zu sehen bekommt. Es ist eine Erfahrung, die einen auf sich selbst zurückwirft – man bekommt das Beste und Schönste, aber man merkt zum Beispiel auch, wenn man geleimt wird.
In „Born to Run“ wirkt Bruce Springsteen am unmittelbarsten, wenn er berichtet, wie man Bruce Springsteen wird. Nichts beschäftigt ihn mehr als seine und die „Authentizität“ seiner Musik, obwohl er nie vergisst, dass eine Show eine Show ist. Es grenzt an Demut, wie er von seiner Wandergesellenzeit als Musiker spricht, oder davon, dass Rockmusik im Grund „eskapistische Unterhaltung“ ist oder wenn er zugibt, dass Rock ’n’ Roll insgesamt als Träger für Ideen (was mir immer schon fragwürdig vorkam) auf dem Weg nach draußen ist.
Daneben erklärt er ganz offen, was das Unternehmen Springsteen erfordert. Talent. Gut, das wäre das eine. Eine großartige Band, die einem über die Jahre beisteht. Zweitens. Aber auch die alarmierende Selbstgewissheit in aberwitzig jungen Jahren („Es ist letztlich meine Bühne“, „meine Band“, „mein Plan“, „meine Musiker“). Bereit sein, sich und jedem in Hörweite eine unmenschliche Disziplin abzuverlangen – vor allem seiner Band. Enzyklopädisches, fast gelehrtes Wissen in Genre- und Rockgeschichte. Übermenschliche Lebenszeitverschwendung mit Üben, Üben, Üben in winzigen, schlecht beleuchteten Räumen verbracht. Der gnadenlose Vorsatz, ganz groß herauszukommen, von der Überzeugung angetrieben, dass Größe möglich ist und sich unbedingt lohnt. Bereit, sich als ergebener und dankbarer Avatar seiner eigenen bewunderten Fangemeinde vorzustellen. Offen für Einflüsse jeder Art von Lehrern und Helden. Ein ungewöhnliches Bewusstsein der eigenen Schwächen („Was meine Stimme angeht – nichts Besonderes“). Eine Picasso-gleiche Gewissheit, dass jede Form von Kunst einem „ungestümen Gang-Gefühl“ der Herkunft entspringt. Und Angst vor dem Scheitern. Erfolg, das hat er begriffen, ist oft genug der Feind der Authentizität, die er doch anstrebt. Tag und Nacht muss er auf der Hut sein, oder zumindest von 1967 bis heute. „Wenn du hell, kräftig und auch noch lang brennen willst“, schreibt der Boss, „brauchst du mehr als deine ursprünglichen Instinkte. Du wirst ein Handwerk und eine schöpferische Intelligenz entwickeln müssen, die dich auch dann trägt, wenn die Situation einmal prekär wird.“ Und wem das zu sehr nach braver Schreibschule klingt, sollte das lesen: „Von Anfang an wusste ich, dass ich mehr als ein Solokünstler sein wollte und weniger als eine Band, in der jeder gleiche Rechte hätte. Ich hab’s probiert, und es taugt mir nicht. Mit wenigen Ausnahmen ist Demokratie in Rockbands eine tickende Zeitbombe… Wenn ich auch sonst meistens gemäßigt bin, hier war ich Extremist.“
So viel zur brüderlichen Band im strahlenden Rock ’n’ Roll-Haus auf dem Berge. „Wir werden alle älter“, ergänzt Springsteen danach noch, „und wir wissen, ‚it’s only rock’ n’ roll‘ … aber das stimmt nicht.“
Damit meine Glaubwürdigkeit nicht ganz den Bach runtergeht, ist hier der Hinweis fällig, dass alles, was ich hier entwickle, den Springsteen-Getreuen längst bekannt ist und von ihnen wie ein Katechismus memoriert wird. Bei einem Konzert neulich im Barclays Center, dem ich, meine Frau, der Gouverneur Chris Christie, Steve Earle und 18 000 Fremde beiwohnten, holte der Boss ein zehnjähriges Mädchen auf die Bühne und hörte sich bewundernd an, wie es, allem Anschein nach spontan, alle Zeilen von „Blinded by the Light“ sang – 547 schwindelerregende Worte. Was heißt, dass der größte Teil der Insider-Informationen in „Born to Run“ dem wachsamen und besitzergreifenden Adlerauge des „Springsteen-Fans“ schon vorher nicht entgangen ist. Andererseits ist es auch möglich, dass Sie – weil Sie die letzten vier Jahrzehnte in irgendeinem Lazarett einer Geheimoperation gefangen gehalten wurden – noch nie von Bruce Springsteen gehört haben und deshalb auch dieses Buch nicht anfassen werden.
Womit keineswegs gemeint ist, dass Springsteen das Buch nicht hätte schreiben sollen – und sei es als Liebesbrief an seine Heerscharen; oder dass sein Verlag damit keine Gelddruckmaschine an der Hand hätte. Alle Springsteen-Fans werden dieses Buch lesen. Trotzdem wird man sagen können, dass sich „Born to Run“ vor allem an uns, die Kundschaft in der Mitte, richten dürfte, an jene, für die „Independence Day“, „Wild Billy’s Circus Story“, „Bobby Jean“, „Nebraska“, „Streets of Philadelphia“, „Hungry Heart“ und „Born in the U.S.A.“ ein Leben lang die emotionale Hintergrundmusik bildete – für einige auch die im Vordergrund –, die aber nicht ihr ganzes Leben Bruce gewidmet haben. Dennoch ist es nützlich zu erfahren, dass der Boss keine Noten lesen kann, dass „Born in the U.S.A.“ und „Nebraska“ zur gleichen Zeit aufgenommen wurden, dass Springsteen eine Tochter hat, die eine preisgekrönte Reiterin ist, dass er viele Jahre in Therapie hinter sich hat, dass er denen vergeben kann, die ihn betrogen haben, dass er der Überzeugung ist, dass seine Karriere ein „Dienst“ ist, und dass er über einen geschmeidigen Sinn für Humor verfügt, mit dem er sich über sich selber lustig machen kann (jedenfalls wenn es seine Laune erlaubt).
Es hilft, dass Springsteen schreiben kann – nicht nur Songtexte, die einem ein Leben lang bleiben, sondern gute, solide Prosa. Niemand wird davon überrascht sein, dass jemand, der „Spanish Johnny drove in from the underworld last night/With bruised arms and broken rhythm and an beat-up old Buick…“ (Spanish Johnny tauchte letzte Nacht auf aus der Unterwelt in einem verbeulten alten Buick, die Arme zerschürft) geschrieben hat, einen vollständigen und glaubwürdigen amerikanischen Satz formulieren kann. Und so ist es auch. Sicher gibt es ein paar geschwätzige Stellen, ein Ideechen zu viel Therapie-Rhabarber über das „Gelände in meinem Kopf“. Ein bisschen mehr Rock ’n’ Roll-Lingo als nötig – obwohl die Bruce-Enthusiasten in Sea-Clift anderer Meinung sein werden. Klar. Doch hört sich für mich in „Born to Run“ nichts unehrlich oder pointengeil an. Wenn Springsteen auf Beifall aus ist, dann dafür, dass er es erzählt, wie es ist und wie es war.
Und wie bei einem Springsteen-Konzert gelingt auch bei „Born to Run“ die Sensation, dass im Moment, in dem die Lichter ausgehen, alle wichtigen Fragen geklärt sind. Er erzählt in leicht verdaulichen kurzen Kapiteln mithilfe eines jovialen Jersey-Dialekts, deutlich, wenn es gilt, harte Geschichten zu erzählen, aber auch biegsam genug für Situationen, die mehr Wortgewandtheit erfordern – um sich dann wieder angenehm auf Syntax und Rhythmus eines Bruce-Springsteen-Songs zu beschränken: „Wir kamen alle irgendwie zurecht“, schreibt er, als seine Eltern 1969 plötzlich von Freehold nach Kalifornien umzogen und ihn zurückließen. „Meine Schwester verschwand in ‚Cowtown‘ – die Weltsenke in South Jersey – und ich tat so, als machte es mir nichts aus. Du warst von einem Tag auf den anderen auf dich allein gestellt. Damit war der Fall klar. Außerdem freute ich mich für sie, für meinen Vater. Raus mit dir, Paps! Raus aus dem verdammten Scheißloch.“
Die Kapitel über die Familie sagen mir in „Born to Run“ am meisten, die Kapitel, die Springsteens Anspruch bestätigen, dass das Publikum sich selbst sieht, wenn es ihn anschaut. Nichts kann das Geheimnis lüften, wie man es von Freehold, wo jemand 1964 auf einer Kent-Gitarre für 69 Dollar herumklampft, mit einer Telecaster vor ein Massenpublikum im Meadowlands-Stadion schafft. Doch so ein Leben kann auch ein Quell sein, das in der Kunst das Werkzeug findet, das die widersprüchlichen Kräfte miteinander versöhnt.
Springsteens teils schottisch-irische, teil italienische Familie bildete den Dampfkessel dieser brodelnden Kräfte. Ein stumm vor sich hin brütender, erfolgloser, feindseliger, menschenverachtender Vater („Er liebte mich, konnte mich aber nicht ausstehen“), eine außergewöhnlich liebevolle Mutter, die sich aber trotz allem ihrem Mann verpflichtet fühlte. Plus eine engmaschige, weitreichende, gelegentlich unberechenbare, aber zärtliche Familie aus Einwanderer-Nachfahren
– Großeltern, Tanten, Onkel, Schwestern – einige, wie Springsteen sagt, mit regelrechter Geisteskrankheit geschlagen, mit „schwarzer Melancholie“, die auch sein Erbe wird.
Natürlich können Sie jetzt mit Recht sagen, dass nichts davon ungewöhnlich ist, sondern vielen anderen Biografien ähnelt. Meiner. Ihrer. American Gothic, Jahrhundertmitte. Ein „Müllhaufen von Heimat, den ich liebte“. Doch hier zeigt sich endlich ein Hinweis auf die Magie des Springsteen-Mysteriums: das kraftvolle Sich-der-jämmerlichen-Situation-gewachsen-Zeigen.
„Wir eifern denen nach“, schreibt er an einer bemerkenswerten Stelle, „deren Liebe wir wollten und nicht haben konnten. Das ist gefährlich, aber es gibt einem das Gefühl größerer Nähe, die Illusion einer Intimität, die wir niemals spüren konnten. Wir beanspruchen damit, was uns von Rechts wegen zustand, was uns aber vorenthalten wurde. Als in meinen Zwanzigern mein Song und meine Geschichte langsam Gestalt annahmen, suchte ich nach der Stimme, die ich mit der meinen vermischen könnte, um davon zu erzählen. Es ist der Moment, in dem man durch Kreativität und Willenskraft die widerstreitenden Stimmen der Kindheit zurückholen, umarbeiten und neu gebären kann, sie in etwas Lebendiges umformen kann, das voller Kraft ist und dem Licht zustrebt. Ich repariere, das ist Teil meines Jobs. Und deshalb zog ich mir, der ich mich in meinem ganzen Leben nie meine Hände mit echter Arbeit schmutzig gemacht habe, die Kleider eines Fabrikarbeiters an, die Kleider meines Vaters, und ging zur Arbeit.“
Seamus Heaney meinte einmal in einem Gedicht, dass das Ziel der Kunst Frieden sei. Ich fürchte, das ist ohne Springsteen nicht das letzte Wort. Kunst, das wird Heaney zugeben müssen, ist manchmal auch ein unfassbar lauter und völlig legitimer, ein himmelhoch aufsteigender Lärm, ein Klang, der nie aufhören sollte.
Aus dem Englischen von Willi Winkler
„Demokratie“, schreibt er,
„ist in Rockbands eine
tickende Zeitbombe.“
Es hilft, dass Springsteen
schreiben kann –
gute, solide Prosa
Bruce Springsteen 1973: „Nichts beschäftigt ihn mehr als die ,Authentizität‘ seiner selbst und seiner Musik.“
Foto: Art Maillet/SONY BMG/Getty Images; Text: © 2016 New York Times
Richard Ford, 72, ist einer der wenigen Schriftsteller, denen immer wieder Romane gelingen, die Amerika auf den Punkt bringen. Für „Unabhängigkeitstag“ bekam er den Pulitzerpreis sowie den Pen/Faulkner Award verliehen. Foto: AP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Schriftsteller Richard Ford hat seit 30 Jahren keine Buchkritik mehr verfasst. Doch Bruce Springsteens Memoiren
„Born To Run“ haben ihn so mitgerissen wie ein Konzert des „Boss“. Er musste einfach etwas dazu loswerden
Für die meisten von uns neun Zillionen Bruce-Springsteen-Fans, die bei jedem Wetter seine brandgefährlichen, hochexplosiven, deckensprengenden, sauerstoffspaltenden dreistündigen Riesenspektakel von Konzerten durchgestanden haben, die sich jedes seiner Alben gekauft und nachgekauft haben, die seine Songtexte studiert, sich über sein kompliziertes musikalisches Leben und das seiner Band gebeugt haben und auch die im Dunkel der Privatsphäre gehaltenen Ehe-, Familien- und sonst wie sinnlichen Ausflüge nicht vernachlässigt haben, und deren lebensentscheidende Situationen mit Spuren von „No Surrender“ markiert sind, das durch unser Hirn pulst – für uns alle in seinem weltweiten Publikum – besteht die ewige Faszination von Bruce ( ich schwöre, dass ich bei keinem einzigen Konzert Bruce! gerufen habe) schlicht und ergreifend darin: Wie schafft man es verdammt noch mal so weit in 50 kurzen Jahren aus Freehold in New Jersey? Es erinnert an den alten Bauer in Maine, der auf die Frage, wie man zur Stadt hinter dem Hügel gelangt, nur sagt, dass es nicht möglich ist. Und wirklich schafft man es weder in Springsteens noch im Leben eines anderen von hier aus nach dort. Doch er, er hat es geschafft. Und wir können es alle bezeugen.
Die neue Autobiografie vom Boss, „Born to Run“ (Heyne Verlag, München, 2016. 672 Seiten, 27,99 Euro) müsste im Grunde das Mysterium, das sich in diesem Paradox verbirgt, durchdringen und offenlegen. Über weite Strecken gelingt das auch.
Praktisch jeder, der mit Bruce Springsteen im Lauf der Jahre zusammengetroffen ist – angefangen von den Besitzern des schlichten „Upstage“ im Asbury Park von 1969 und den legendären Hit-Produzenten John Hammond und Clive Davis bei der Columbia, den ebenso verlässlichen wie nörglerischen und leidenden Mitspielern bei der unverzichtbaren E-Street-Band, über Ronald Reagan und Pete Seeger bis zu Barack Obama, haben erkannt, dass Springsteen einzigartig ist – einer, der es jeden Abend auf der Bühne bewiesen hat, jemand, der über eine ungeheure Erfahrung verfügt, jemand, den man unausgesetzt anschauen muss, jemand, dem man nicht lange böse sein kann, obwohl er als junger Mann grotesk unbescheidene Vorstellungen von seinen Fähigkeiten hatte, der seine Bandkollegen wie Lieblingsangestellte behandelte und dabei sagenhaft launisch sein konnte, autistisch bis dorthinaus, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Das Gleiche ließe sich mit anderen Worten auch über die Gebrüder Morrison, Jim wie Van, über Otis Redding, Marvin Gaye, Janis Joplin, selbst über Eric Burdon und ganz bestimmt auch über den Big Bopper sagen. Sie sind und waren einzigartig, jeder auf seine Weise. Doch „einzigartig“ allein reicht nicht aus für Bruce Springsteen vor 90 000 Menschen über mehr als 30 Jahre in 40 verschiedenen Ländern und das bei unverminderter Härte wie zuletzt am vorigen Mittwochnachmittag bewiesen.
Wer Kunst nur von außen sieht – von den Zuschauerplätzen aus, wie es auch sein soll –, begreift oft nicht, wie Kunst entsteht. Genau das aber zieht die Fans in Massen zu Springsteen. Die Gesamtheit seines Werks – die Songs, die Musik, die Gitarre, die Stimme, das Image, die Verrenkungen, die Rezitative, die Inszenierung, das, was Springsteen die „Summe meiner Teile“ nennt – ist so kompakt, so konzentriert und wirkt so authentisch, dass fast nichts mehr gilt, was wir glauben über die Fähigkeiten Normalsterblicher zu wissen. Da ich viele Konzerte mit ihm erlebt habe, kann ich bestätigen, dass man oft vollkommen überwältigt wird von dem, was man zu hören und zu sehen bekommt. Es ist eine Erfahrung, die einen auf sich selbst zurückwirft – man bekommt das Beste und Schönste, aber man merkt zum Beispiel auch, wenn man geleimt wird.
In „Born to Run“ wirkt Bruce Springsteen am unmittelbarsten, wenn er berichtet, wie man Bruce Springsteen wird. Nichts beschäftigt ihn mehr als seine und die „Authentizität“ seiner Musik, obwohl er nie vergisst, dass eine Show eine Show ist. Es grenzt an Demut, wie er von seiner Wandergesellenzeit als Musiker spricht, oder davon, dass Rockmusik im Grund „eskapistische Unterhaltung“ ist oder wenn er zugibt, dass Rock ’n’ Roll insgesamt als Träger für Ideen (was mir immer schon fragwürdig vorkam) auf dem Weg nach draußen ist.
Daneben erklärt er ganz offen, was das Unternehmen Springsteen erfordert. Talent. Gut, das wäre das eine. Eine großartige Band, die einem über die Jahre beisteht. Zweitens. Aber auch die alarmierende Selbstgewissheit in aberwitzig jungen Jahren („Es ist letztlich meine Bühne“, „meine Band“, „mein Plan“, „meine Musiker“). Bereit sein, sich und jedem in Hörweite eine unmenschliche Disziplin abzuverlangen – vor allem seiner Band. Enzyklopädisches, fast gelehrtes Wissen in Genre- und Rockgeschichte. Übermenschliche Lebenszeitverschwendung mit Üben, Üben, Üben in winzigen, schlecht beleuchteten Räumen verbracht. Der gnadenlose Vorsatz, ganz groß herauszukommen, von der Überzeugung angetrieben, dass Größe möglich ist und sich unbedingt lohnt. Bereit, sich als ergebener und dankbarer Avatar seiner eigenen bewunderten Fangemeinde vorzustellen. Offen für Einflüsse jeder Art von Lehrern und Helden. Ein ungewöhnliches Bewusstsein der eigenen Schwächen („Was meine Stimme angeht – nichts Besonderes“). Eine Picasso-gleiche Gewissheit, dass jede Form von Kunst einem „ungestümen Gang-Gefühl“ der Herkunft entspringt. Und Angst vor dem Scheitern. Erfolg, das hat er begriffen, ist oft genug der Feind der Authentizität, die er doch anstrebt. Tag und Nacht muss er auf der Hut sein, oder zumindest von 1967 bis heute. „Wenn du hell, kräftig und auch noch lang brennen willst“, schreibt der Boss, „brauchst du mehr als deine ursprünglichen Instinkte. Du wirst ein Handwerk und eine schöpferische Intelligenz entwickeln müssen, die dich auch dann trägt, wenn die Situation einmal prekär wird.“ Und wem das zu sehr nach braver Schreibschule klingt, sollte das lesen: „Von Anfang an wusste ich, dass ich mehr als ein Solokünstler sein wollte und weniger als eine Band, in der jeder gleiche Rechte hätte. Ich hab’s probiert, und es taugt mir nicht. Mit wenigen Ausnahmen ist Demokratie in Rockbands eine tickende Zeitbombe… Wenn ich auch sonst meistens gemäßigt bin, hier war ich Extremist.“
So viel zur brüderlichen Band im strahlenden Rock ’n’ Roll-Haus auf dem Berge. „Wir werden alle älter“, ergänzt Springsteen danach noch, „und wir wissen, ‚it’s only rock’ n’ roll‘ … aber das stimmt nicht.“
Damit meine Glaubwürdigkeit nicht ganz den Bach runtergeht, ist hier der Hinweis fällig, dass alles, was ich hier entwickle, den Springsteen-Getreuen längst bekannt ist und von ihnen wie ein Katechismus memoriert wird. Bei einem Konzert neulich im Barclays Center, dem ich, meine Frau, der Gouverneur Chris Christie, Steve Earle und 18 000 Fremde beiwohnten, holte der Boss ein zehnjähriges Mädchen auf die Bühne und hörte sich bewundernd an, wie es, allem Anschein nach spontan, alle Zeilen von „Blinded by the Light“ sang – 547 schwindelerregende Worte. Was heißt, dass der größte Teil der Insider-Informationen in „Born to Run“ dem wachsamen und besitzergreifenden Adlerauge des „Springsteen-Fans“ schon vorher nicht entgangen ist. Andererseits ist es auch möglich, dass Sie – weil Sie die letzten vier Jahrzehnte in irgendeinem Lazarett einer Geheimoperation gefangen gehalten wurden – noch nie von Bruce Springsteen gehört haben und deshalb auch dieses Buch nicht anfassen werden.
Womit keineswegs gemeint ist, dass Springsteen das Buch nicht hätte schreiben sollen – und sei es als Liebesbrief an seine Heerscharen; oder dass sein Verlag damit keine Gelddruckmaschine an der Hand hätte. Alle Springsteen-Fans werden dieses Buch lesen. Trotzdem wird man sagen können, dass sich „Born to Run“ vor allem an uns, die Kundschaft in der Mitte, richten dürfte, an jene, für die „Independence Day“, „Wild Billy’s Circus Story“, „Bobby Jean“, „Nebraska“, „Streets of Philadelphia“, „Hungry Heart“ und „Born in the U.S.A.“ ein Leben lang die emotionale Hintergrundmusik bildete – für einige auch die im Vordergrund –, die aber nicht ihr ganzes Leben Bruce gewidmet haben. Dennoch ist es nützlich zu erfahren, dass der Boss keine Noten lesen kann, dass „Born in the U.S.A.“ und „Nebraska“ zur gleichen Zeit aufgenommen wurden, dass Springsteen eine Tochter hat, die eine preisgekrönte Reiterin ist, dass er viele Jahre in Therapie hinter sich hat, dass er denen vergeben kann, die ihn betrogen haben, dass er der Überzeugung ist, dass seine Karriere ein „Dienst“ ist, und dass er über einen geschmeidigen Sinn für Humor verfügt, mit dem er sich über sich selber lustig machen kann (jedenfalls wenn es seine Laune erlaubt).
Es hilft, dass Springsteen schreiben kann – nicht nur Songtexte, die einem ein Leben lang bleiben, sondern gute, solide Prosa. Niemand wird davon überrascht sein, dass jemand, der „Spanish Johnny drove in from the underworld last night/With bruised arms and broken rhythm and an beat-up old Buick…“ (Spanish Johnny tauchte letzte Nacht auf aus der Unterwelt in einem verbeulten alten Buick, die Arme zerschürft) geschrieben hat, einen vollständigen und glaubwürdigen amerikanischen Satz formulieren kann. Und so ist es auch. Sicher gibt es ein paar geschwätzige Stellen, ein Ideechen zu viel Therapie-Rhabarber über das „Gelände in meinem Kopf“. Ein bisschen mehr Rock ’n’ Roll-Lingo als nötig – obwohl die Bruce-Enthusiasten in Sea-Clift anderer Meinung sein werden. Klar. Doch hört sich für mich in „Born to Run“ nichts unehrlich oder pointengeil an. Wenn Springsteen auf Beifall aus ist, dann dafür, dass er es erzählt, wie es ist und wie es war.
Und wie bei einem Springsteen-Konzert gelingt auch bei „Born to Run“ die Sensation, dass im Moment, in dem die Lichter ausgehen, alle wichtigen Fragen geklärt sind. Er erzählt in leicht verdaulichen kurzen Kapiteln mithilfe eines jovialen Jersey-Dialekts, deutlich, wenn es gilt, harte Geschichten zu erzählen, aber auch biegsam genug für Situationen, die mehr Wortgewandtheit erfordern – um sich dann wieder angenehm auf Syntax und Rhythmus eines Bruce-Springsteen-Songs zu beschränken: „Wir kamen alle irgendwie zurecht“, schreibt er, als seine Eltern 1969 plötzlich von Freehold nach Kalifornien umzogen und ihn zurückließen. „Meine Schwester verschwand in ‚Cowtown‘ – die Weltsenke in South Jersey – und ich tat so, als machte es mir nichts aus. Du warst von einem Tag auf den anderen auf dich allein gestellt. Damit war der Fall klar. Außerdem freute ich mich für sie, für meinen Vater. Raus mit dir, Paps! Raus aus dem verdammten Scheißloch.“
Die Kapitel über die Familie sagen mir in „Born to Run“ am meisten, die Kapitel, die Springsteens Anspruch bestätigen, dass das Publikum sich selbst sieht, wenn es ihn anschaut. Nichts kann das Geheimnis lüften, wie man es von Freehold, wo jemand 1964 auf einer Kent-Gitarre für 69 Dollar herumklampft, mit einer Telecaster vor ein Massenpublikum im Meadowlands-Stadion schafft. Doch so ein Leben kann auch ein Quell sein, das in der Kunst das Werkzeug findet, das die widersprüchlichen Kräfte miteinander versöhnt.
Springsteens teils schottisch-irische, teil italienische Familie bildete den Dampfkessel dieser brodelnden Kräfte. Ein stumm vor sich hin brütender, erfolgloser, feindseliger, menschenverachtender Vater („Er liebte mich, konnte mich aber nicht ausstehen“), eine außergewöhnlich liebevolle Mutter, die sich aber trotz allem ihrem Mann verpflichtet fühlte. Plus eine engmaschige, weitreichende, gelegentlich unberechenbare, aber zärtliche Familie aus Einwanderer-Nachfahren
– Großeltern, Tanten, Onkel, Schwestern – einige, wie Springsteen sagt, mit regelrechter Geisteskrankheit geschlagen, mit „schwarzer Melancholie“, die auch sein Erbe wird.
Natürlich können Sie jetzt mit Recht sagen, dass nichts davon ungewöhnlich ist, sondern vielen anderen Biografien ähnelt. Meiner. Ihrer. American Gothic, Jahrhundertmitte. Ein „Müllhaufen von Heimat, den ich liebte“. Doch hier zeigt sich endlich ein Hinweis auf die Magie des Springsteen-Mysteriums: das kraftvolle Sich-der-jämmerlichen-Situation-gewachsen-Zeigen.
„Wir eifern denen nach“, schreibt er an einer bemerkenswerten Stelle, „deren Liebe wir wollten und nicht haben konnten. Das ist gefährlich, aber es gibt einem das Gefühl größerer Nähe, die Illusion einer Intimität, die wir niemals spüren konnten. Wir beanspruchen damit, was uns von Rechts wegen zustand, was uns aber vorenthalten wurde. Als in meinen Zwanzigern mein Song und meine Geschichte langsam Gestalt annahmen, suchte ich nach der Stimme, die ich mit der meinen vermischen könnte, um davon zu erzählen. Es ist der Moment, in dem man durch Kreativität und Willenskraft die widerstreitenden Stimmen der Kindheit zurückholen, umarbeiten und neu gebären kann, sie in etwas Lebendiges umformen kann, das voller Kraft ist und dem Licht zustrebt. Ich repariere, das ist Teil meines Jobs. Und deshalb zog ich mir, der ich mich in meinem ganzen Leben nie meine Hände mit echter Arbeit schmutzig gemacht habe, die Kleider eines Fabrikarbeiters an, die Kleider meines Vaters, und ging zur Arbeit.“
Seamus Heaney meinte einmal in einem Gedicht, dass das Ziel der Kunst Frieden sei. Ich fürchte, das ist ohne Springsteen nicht das letzte Wort. Kunst, das wird Heaney zugeben müssen, ist manchmal auch ein unfassbar lauter und völlig legitimer, ein himmelhoch aufsteigender Lärm, ein Klang, der nie aufhören sollte.
Aus dem Englischen von Willi Winkler
„Demokratie“, schreibt er,
„ist in Rockbands eine
tickende Zeitbombe.“
Es hilft, dass Springsteen
schreiben kann –
gute, solide Prosa
Bruce Springsteen 1973: „Nichts beschäftigt ihn mehr als die ,Authentizität‘ seiner selbst und seiner Musik.“
Foto: Art Maillet/SONY BMG/Getty Images; Text: © 2016 New York Times
Richard Ford, 72, ist einer der wenigen Schriftsteller, denen immer wieder Romane gelingen, die Amerika auf den Punkt bringen. Für „Unabhängigkeitstag“ bekam er den Pulitzerpreis sowie den Pen/Faulkner Award verliehen. Foto: AP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2016In Zeiten des blendenden Lichts
Kann man sich diesen Mann auch mit Lesebrille vorstellen? Doch, es geht: Bruce Springsteen stellt in Frankfurt seine Autobiographie vor.
Musiker tun sich dieser Tage schwer in ihrer Rolle als Autoren. Bob Dylan ruft die Nobelpreisjury nicht zurück, und Bruce Springsteen, der mit seiner Autobiographie "Born to Run" (F.A.Z. vom 4. Oktober) seit einigen Wochen die Sachbuchbestsellerlisten in den großen Lesenationen anführt, musste jetzt auf (oder besser: neben) der Buchmesse eine zuvor lange geheim gehaltene Hotel-Bühne vor ausschließlich geladenen Journalisten und ohne Gitarre betreten, was ihn zu Beginn ein wenig fremdeln ließ.
Vielleicht liegt es daran, dass der sterile Kongressraum des Fünf-Sterne-Hauses eine klerikale Note aufweist, jedenfalls erinnert der "gute katholische Junge", als den sich Springsteen in seinem Buch bezeichnet, mit den gemessenen Schritten und dem gesenkten Kopf bei seinem Auftritt an einen Ministranten, der respektvoll in den Altarraum schreitet.
Die Fotografen dürfen aus zwanzig Metern Entfernung jetzt noch ein paar Fotos des Weltstars schießen, dann ist der Photocall vorbei, Springsteen setzt sich kerzengerade hin und schiebt seinen immer markanter werdenden Unterkiefer, der so gut zu seinem verschmitzten Jungenlächeln passt, nach vorne. Mit zunehmenden Jahren sieht er immer irischer aus.
"Yeah, incredible" sei es, wie gut sich sein Buch verkaufe. Sieben Jahre habe er daran geschrieben, begonnen habe alles mit einem Textversuch über seinen großen Auftritt beim Superbowl 2009. Ob er ein paar Szenen aus seinem Buch vorlesen wolle, fragt der Moderator Thomas Steinberg. "Sure", sagt Springsteen artig, setzt, scheinbar kurz mit seinem inneren Rock-'n'-Roll-Gewissen ringend, die Lesebrille auf und liest dann mit sicherer, rauher, nachdrücklicher Stimme einige kurze Passagen. Die eine ist vielleicht die eindrucksvollste des ganzen Buchs: Springsteen steht kurz vor der Geburt seines ersten Kindes, sein Vater Doug besucht ihn nach langer Autofahrt, um ihn um Verzeihung für patriarchalische Verfehlungen in den frühen Jahren zu bitten. Dieser Anfall von väterlicher Sensibilität muss den Musiker damals umgehauen haben, jetzt liest er alles mit warmer Distanz. Die entscheidenden Worte, die er damals an seinen Vater richtete, spricht er so fest und endgültig wie ein Priester: "You did the best you could." Eine Absolution. Springsteen liest "Born to Run" - das wäre ein Hörbuch!
Auf Fragen zu seiner Kunst antwortet er oft mit geschlossenen Augen, meist sehr poetisch, gar philosophisch, und dirigiert dabei seine Worte durch kleine Schwingungen mit der leicht geöffneten linken Hand. Beeindruckend, wie Springsteen die Wechselwirkung zwischen sich und seinem Konzertpublikum darstellt. Es langweile ihn keineswegs, seine größten Hits immer wieder zu spielen. Sehe er etwa ein Kind im Publikum, das mitsinge, höre er seinen eigenen Song auf der Bühne plötzlich vollkommen neu, durch die Ohren dieses Kindes.
Springsteen hat viel zu lachen an diesem Abend, oft tut er es schmutzig über sich selbst oder den Moderator, auch ein Gickeln und Jiepsen ist häufig zu vernehmen, schlagfertig hat er das ganze Gespräch im Griff. Eine Frage zu seinen Depressionen, welche er im Buch sehr ausführlich beschreibt, beantwortet er knapp. Er habe eine sehr gute Phase hinter sich, sagt er und lächelt wieder bubenhaft.
Der Kontroll-Freak, als den er sich im Buch recht ausführlich beschreibt, tritt erst am Ende des Gesprächs hervor: Oh, eine offene Fragerunde sei jetzt angesetzt? Na ja, "okay, go ahead", sagt Springsteen und ruft die zeichengebenden Journalisten in einer Weise auf, die keinen Zweifel darüber zulässt, wer hier der Boss ist. Die beste Frage des Abends: Ob "redemption", Erlösung, in seiner Kunst die zentrale Rolle spiele. Springsteen horcht auf, reckt sich, fühlt sich erkannt, er bestätigt und ergänzt, Erlösung erfahre er aber nicht nur auf der Bühne, sondern zunehmend auch im Zusammensein mit seinen Kindern - "a healing experience", eine heilsame Erfahrung.
Es komme in der Musik nicht darauf an, "great lyrics" zu schreiben, sagt er an diesem Abend, entscheidend sei, dass es die "right lyrics" seien. Das war dann zugleich ein Kommentar zum Literaturnobelpreis. Zum Schluss noch drei Signierminuten, ein einzelnes Selfie, dann "Let's have a drink" und Abgang mit zufriedenem Grinsen.
UWE EBBINGHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kann man sich diesen Mann auch mit Lesebrille vorstellen? Doch, es geht: Bruce Springsteen stellt in Frankfurt seine Autobiographie vor.
Musiker tun sich dieser Tage schwer in ihrer Rolle als Autoren. Bob Dylan ruft die Nobelpreisjury nicht zurück, und Bruce Springsteen, der mit seiner Autobiographie "Born to Run" (F.A.Z. vom 4. Oktober) seit einigen Wochen die Sachbuchbestsellerlisten in den großen Lesenationen anführt, musste jetzt auf (oder besser: neben) der Buchmesse eine zuvor lange geheim gehaltene Hotel-Bühne vor ausschließlich geladenen Journalisten und ohne Gitarre betreten, was ihn zu Beginn ein wenig fremdeln ließ.
Vielleicht liegt es daran, dass der sterile Kongressraum des Fünf-Sterne-Hauses eine klerikale Note aufweist, jedenfalls erinnert der "gute katholische Junge", als den sich Springsteen in seinem Buch bezeichnet, mit den gemessenen Schritten und dem gesenkten Kopf bei seinem Auftritt an einen Ministranten, der respektvoll in den Altarraum schreitet.
Die Fotografen dürfen aus zwanzig Metern Entfernung jetzt noch ein paar Fotos des Weltstars schießen, dann ist der Photocall vorbei, Springsteen setzt sich kerzengerade hin und schiebt seinen immer markanter werdenden Unterkiefer, der so gut zu seinem verschmitzten Jungenlächeln passt, nach vorne. Mit zunehmenden Jahren sieht er immer irischer aus.
"Yeah, incredible" sei es, wie gut sich sein Buch verkaufe. Sieben Jahre habe er daran geschrieben, begonnen habe alles mit einem Textversuch über seinen großen Auftritt beim Superbowl 2009. Ob er ein paar Szenen aus seinem Buch vorlesen wolle, fragt der Moderator Thomas Steinberg. "Sure", sagt Springsteen artig, setzt, scheinbar kurz mit seinem inneren Rock-'n'-Roll-Gewissen ringend, die Lesebrille auf und liest dann mit sicherer, rauher, nachdrücklicher Stimme einige kurze Passagen. Die eine ist vielleicht die eindrucksvollste des ganzen Buchs: Springsteen steht kurz vor der Geburt seines ersten Kindes, sein Vater Doug besucht ihn nach langer Autofahrt, um ihn um Verzeihung für patriarchalische Verfehlungen in den frühen Jahren zu bitten. Dieser Anfall von väterlicher Sensibilität muss den Musiker damals umgehauen haben, jetzt liest er alles mit warmer Distanz. Die entscheidenden Worte, die er damals an seinen Vater richtete, spricht er so fest und endgültig wie ein Priester: "You did the best you could." Eine Absolution. Springsteen liest "Born to Run" - das wäre ein Hörbuch!
Auf Fragen zu seiner Kunst antwortet er oft mit geschlossenen Augen, meist sehr poetisch, gar philosophisch, und dirigiert dabei seine Worte durch kleine Schwingungen mit der leicht geöffneten linken Hand. Beeindruckend, wie Springsteen die Wechselwirkung zwischen sich und seinem Konzertpublikum darstellt. Es langweile ihn keineswegs, seine größten Hits immer wieder zu spielen. Sehe er etwa ein Kind im Publikum, das mitsinge, höre er seinen eigenen Song auf der Bühne plötzlich vollkommen neu, durch die Ohren dieses Kindes.
Springsteen hat viel zu lachen an diesem Abend, oft tut er es schmutzig über sich selbst oder den Moderator, auch ein Gickeln und Jiepsen ist häufig zu vernehmen, schlagfertig hat er das ganze Gespräch im Griff. Eine Frage zu seinen Depressionen, welche er im Buch sehr ausführlich beschreibt, beantwortet er knapp. Er habe eine sehr gute Phase hinter sich, sagt er und lächelt wieder bubenhaft.
Der Kontroll-Freak, als den er sich im Buch recht ausführlich beschreibt, tritt erst am Ende des Gesprächs hervor: Oh, eine offene Fragerunde sei jetzt angesetzt? Na ja, "okay, go ahead", sagt Springsteen und ruft die zeichengebenden Journalisten in einer Weise auf, die keinen Zweifel darüber zulässt, wer hier der Boss ist. Die beste Frage des Abends: Ob "redemption", Erlösung, in seiner Kunst die zentrale Rolle spiele. Springsteen horcht auf, reckt sich, fühlt sich erkannt, er bestätigt und ergänzt, Erlösung erfahre er aber nicht nur auf der Bühne, sondern zunehmend auch im Zusammensein mit seinen Kindern - "a healing experience", eine heilsame Erfahrung.
Es komme in der Musik nicht darauf an, "great lyrics" zu schreiben, sagt er an diesem Abend, entscheidend sei, dass es die "right lyrics" seien. Das war dann zugleich ein Kommentar zum Literaturnobelpreis. Zum Schluss noch drei Signierminuten, ein einzelnes Selfie, dann "Let's have a drink" und Abgang mit zufriedenem Grinsen.
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