Thema "Tier": Von der Antike bis zur Gegenwart"Brüder", "Bestien", "Automaten" sind nur drei Bezeichnungen aus der Fülle von Namen, die dem Tier im abendländischen Denken gegeben wurden, doch sie stehen exemplarisch für die zentralen Positionen innerhalb der Kontroversen um das Wesen des Tieres.
"Brüder", "Bestien", "Automaten" sind nur drei Bezeichnungen aus der Fülle von Namen, die dem Tier im abendländischen Denken gegeben wurden, doch sie stehen exemplarisch für die zentralen Positionen innerhalb der Kontroversen um das Wesen des Tieres.Die vorliegende Anthologie bietet mit etwas mehr als hundert Textauszügen in chronologischer Folge einen repräsentativen Überblick über die Vorstellungen zum Thema "Tier" von der Antike bis zur Gegenwart. Dabei kommen nicht nur die Klassiker der Geistesgeschichte zu Wort, sondern auch weniger bekannte Autoren. Eine Reihe von Texten wurde eigens für den Sammelband übersetzt und liegt hier erstmals in deutscher Sprache vor.Philosophische, populärwissenschaftliche, literarische, journalistische und auch polemische Texte bieten Einblick in die vielfältigen Facetten des Nachdenkens über Tiere. Die Vertreter der Auffassung einer unüberwindbaren Kluft zwischen Mensch und Tier und eines uneingeschränkten Herrschaftsanspruchs des Menschen überdie Tiere waren in den letzten zweitausend Jahren in der großen Überzahl; Stimmen zu Gunsten der Tiere gab es dennoch immer.Als Vordenker und Vorläufer des Tierschutzgedankens von der Antike bis zur Neuzeit und von den Begründern der modernen Tierschutz- und Tierrechtsbewegung kommen unter anderem zu Wort: Plutarch, Porphyrios, Leonardo da Vinci, Thomas Tryon, Humphry Primatt, Wilhelm Dietler, Lauritz Smith, Hermann Gaggett, Jean Antoine Gleizés, Lewis Gompertz und Henry S. Salt.Die Herausgeberin Manuela Linnemann verfaßte für das Historische Wörterbuch der Philosophie den Artikel "Tierrecht".
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
"Brüder", "Bestien", "Automaten" sind nur drei Bezeichnungen aus der Fülle von Namen, die dem Tier im abendländischen Denken gegeben wurden, doch sie stehen exemplarisch für die zentralen Positionen innerhalb der Kontroversen um das Wesen des Tieres.Die vorliegende Anthologie bietet mit etwas mehr als hundert Textauszügen in chronologischer Folge einen repräsentativen Überblick über die Vorstellungen zum Thema "Tier" von der Antike bis zur Gegenwart. Dabei kommen nicht nur die Klassiker der Geistesgeschichte zu Wort, sondern auch weniger bekannte Autoren. Eine Reihe von Texten wurde eigens für den Sammelband übersetzt und liegt hier erstmals in deutscher Sprache vor.Philosophische, populärwissenschaftliche, literarische, journalistische und auch polemische Texte bieten Einblick in die vielfältigen Facetten des Nachdenkens über Tiere. Die Vertreter der Auffassung einer unüberwindbaren Kluft zwischen Mensch und Tier und eines uneingeschränkten Herrschaftsanspruchs des Menschen überdie Tiere waren in den letzten zweitausend Jahren in der großen Überzahl; Stimmen zu Gunsten der Tiere gab es dennoch immer.Als Vordenker und Vorläufer des Tierschutzgedankens von der Antike bis zur Neuzeit und von den Begründern der modernen Tierschutz- und Tierrechtsbewegung kommen unter anderem zu Wort: Plutarch, Porphyrios, Leonardo da Vinci, Thomas Tryon, Humphry Primatt, Wilhelm Dietler, Lauritz Smith, Hermann Gaggett, Jean Antoine Gleizés, Lewis Gompertz und Henry S. Salt.Die Herausgeberin Manuela Linnemann verfaßte für das Historische Wörterbuch der Philosophie den Artikel "Tierrecht".
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2000Animalisch will er nicht sein, aber als Raubtier entschuldigt
Mensch, werde wesentlich: Die Debatte, ob man Tiere essen darf, begleitet unsere Spezies nicht erst seit BSE durch die Geschichte
Welche Art von Mahl ist nicht kostspielig, für das ein beseeltes Wesen den Tod erleidet? Voller Empörung über die Grausamkeit des Menschen erklingt diese zweitausend Jahre alte Anklage Plutarchs bis heute unverhallt. Der fleischfressende Mensch - ein millionenfacher Verbrecher an seinen naturgeschichtlichen Gefährten, den Tieren? Oder haben die Götter dem Schwein die Seele nur gegeben, damit das Fleisch nicht verderbe, wie der Altstoiker Chrysip frech dagegensetzte?
Menschen lieben Tiere, sie hegen und pflegen sie, bewundern ihre Treue und Schönheit. Zugleich aber verätzt der Vivisekteur im Labor Versuchstiere, vergast der Züchter seine Nerze, zerschlitzt der Schlachter das Kälbchen. Dieses mehr als nur zwiespältige Verhältnis zwischen dem Menschen und den anderen Tieren ist das Thema einer neuen Anthologie, herausgegeben von Manuela Linnemann: "Brüder, Bestien, Automaten". Der Titel reiht drei bezeichnende Tierkonzepte aus der abendländischen Philosophiegeschichte. Begriffe freilich, die allesamt nur wenig mit der Beobachtung von Tieren zu tun haben. Vielmehr dienen sie, wie die Herausgeberin schreibt, als Gegenbilder zur Wesensbestimmung des Menschen. Philosophen und Theologen beschreiben und klassifizieren, definieren und entwerten das Tier, vom Menschen her gesehen, als mangelhaftes, nämlich als vernunftloses und daher auch sprach- und rechtloses - im siebzehnten Jahrhundert sogar als empfindungsloses - Wesen.
Wenige Philosophen der abendländischen Kulturgeschichte hatten je Zweifel an der universellen Gültigkeit des menschlichen Denkens, seiner Instrumente und Kriterien. Systematisch leugneten sie das animalische Erbe, das ihnen bei der morgendlichen Rasur vor dem Spiegel ebenso unmißverständlich entgegengrinste wie später, nach Feierabend, das Gemächt in den Daunen. Platon, Aristoteles, Cicero, Augustinus, Thomas von Aquin, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant und Hegel - allesamt schaufelten sie am großen Graben zwischen Mensch und Tier. Des Menschen Vernunft und Verstand, seine Denk- und Urteilsfähigkeit bildeten den allein seligmachenden Maßstab, die belebte Natur zu bewerten. Und da sich all diese Fähigkeiten beim Menschen nicht empirisch nachweisen ließen, verurteilten sie die Welt der Empirie, das "bloß" Körperliche zum schwachen Abklatsch menschlicher Vollkommenheit, zu niederem, das heißt: tierischem Instinkt. Wo nicht Vernunft und freier Wille den Ton der Sprache angaben, herrschte Zwang, mithin die seelenlose Automatik einer Uhr.
Im Grunde freilich ist schon die Rede vom "Tier" ein irreführender Begriff - "anthropozentrischer Größenwahn" in der Formulierung von Günther Anders: die Idee, die Einzelspezies "Mensch" als gleichberechtigtes Pendant den Abertausenden und voneinander grenzenlos verschiedenen Tiergattungen und -arten gegenüberzustellen und diese Abertausende so zu behandeln, als verkörperten sie einen Typenblock tierischen Daseins. Nach Maßgabe der gegenwärtigen Moral und Rechtsprechung ist der Unterschied zwischen Schimpanse und Mensch größer als jener zwischen Schimpanse und Blattlaus. Die Rechte des Menschen regeln die Verfassung und das Bürgerliche Gesetzbuch, der Schimpanse hingegen hat überhaupt keine Rechte. Seine Belange regelt ebenso wie die des Maulwurfs das Tierschutzgesetz. Das vernünftige und sittliche Leben und das unvernünftige, rohe Leben teilen die Welt in zwei Herrschaftsbereiche, von denen einer Verfassungsurkunde und moralisches Siegel besitzt. Der andere hingegen ist ein nahezu unbeschriebenes Blatt.
Der vielleicht eindrucksvollste Beweis für die überlegene Klugheit des Menschen, so drängt sich bei der Lektüre der historischen Texte auf, ist sein erstaunlicher Scharfsinn, sich von der moralischen Verpflichtung anderen Tieren gegenüber freizusprechen. Und so liest sich die Rechtfertigungsgeschichte der klügeren Menschentiere, die anderen Tiere essen zu dürfen, mitunter wie die Inversion eines Kriminalromans: Nicht Mörder werden gesucht und Motive, sondern Unschuldige und Alibis. Diese unausweichliche und verhängnisvolle Triade von "Leben, Töten, Essen" ist zugleich Thema und Titel einer zweiten Anthologie. Auch hier ein ausschweifender Spaziergang durch bekannte und wenig bekannte Gefilde des Geistes. Die Textauswahl nährt sich aus vielen Disziplinen: Philosophie, Theologie, Biologie, Medizin, Psychologie und Soziologie.
Schon die Einleitung von Heike Baranzke und Hans Werner Ingensiep verrät, wie reichhaltig die Reflexion auf den Zusammenhang ist. Menschen essen anderes Leben, vom Kannibalismus bis zur Eucharistie. Gerade der so oft als banal empfundene Akt der Ernährung erscheint als schillerndes Instrumentarium, die abendländische Kultur zu erschließen, als gastrosophische Frage: Ob man eine Kulturgeschichte oder Anthropologie nicht der Erkenntnis halber vom Bauch anstatt vom Kopf her schreiben sollte? Die Rechtfertigungen des Kopfes für die Gelüste des Magens haben eine lange Geschichte, verwirrend vielfältig und nicht ohne Witz. Der Mensch ist, was er ißt - wie ein Orakel liegt Ludwig Feuerbachs Bonmot über der Gastrosophie. Kein Leben, kein Mensch, kein Gedanke ohne Stoff, der am Ende über das Blut zu "Gesinnungsstoff" verwandelt wird. Wer wird sich da schon der Aufforderung widersetzen, sein besseres Selbst zu nähren?
Aber worin besteht das Selbst, und wie wird es richtig genährt? Auf jede Theorie fällt ein besonderes Licht und auf alle der Schatten ihrer jeweiligen Zeit. Der Neuplatoniker Porphyrios, ein Guru des Vegetarismus, schreibt nicht für diejenigen, "welche schlafen und, wenn es geht, das ganze Leben lang schlafen möchten", nicht für die, "deren Gott der Bauch ist", wie Chrysostomus gesagt haben würde. Porphyrios geht es weniger um das Wohl der Tiere als um die Selbstreinigung von den primitiven Gelüsten des Magens. Die maß- und vernunftlose Leidenschaft des Unterleibes nietet und klammert die Seele an den Verdauungsprozeß des Körpers. Kein Segen, so glaubten auch die Manichäer im vierten Jahrhundert, liegt im Fleisch, dem Inbegriff der verderbten Materie. Nur die Pflanzenwelt gilt als rein, vollgesogen mit dem im Urzeitkampf der Gewalten aus der Erde ausgedünsteten spirituellen göttlichen Licht. Und so beseelt der sublimierte Lichtfunken allein die Pflanzenfresser, durchdringt ihren Verdauungstrakt und setzt sich als göttliches Bio-gas frei.
Das schöne Bild von der rülpsenden und furzenden Entfesselung des kosmischen Lichtreichs bildet einen poetischen Höhepunkt in der kulturübergreifenden Sehnsucht nach vegetarischer Selbstreinigung. Noch im neunzehnten Jahrhundert sehnt sich der Schriftsteller, Anarchist und feinfühlige Naturbeobachter Henry David Thoreau aus dem kleinen Concord in Massachusetts nach "ein wenig eingefangenem Sternenstaub, einem bißchen Niederschlag von dem Regenbogen, den ich umklammert hielt". Doch bietet die Sehnsucht nach dem göttlichen Funken der Elemente und Pflanzen tatsächlich ein Argument für den Vegetarismus? Warum dann nicht um so freimütiger morden, wenn so Lichtfunken aus ihren Materiegefängnissen befreit, zumindest aber doch ihre weitere Gefangennahme durch animalische Fortpflanzung unterbunden wird? Mit ketzerischen Fragen treibt Augustinus seine alten Bundesbrüder in die Enge und verspottet die Manichäer mit Matthäus 15,11: "Nicht was in euren Mund hineinkommt, befleckt euch, sondern was hinausgeht."
Argumente gegen den Vegetarismus finden sich in der Antike vielfach. Zahnstruktur, Magen und Darmlänge des Menschen dienen als Beweise für das zoon politikon als Gemischtköstler. Für Jean-Jacques Rousseau ist wiederum nur Pflanzenkost akzeptabel, für den Materialisten Claude Adrien Helvétius vorzugsweise Fleischkost. Auch der Staatstheoretiker Thomas Hobbes, der Rationalist Christian Wolff, der Aufklärungsarzt Johann August Unzer oder der Philosoph Karl Eduard von Hartmann zählen zur karnivoren Partei: Der Mensch ißt Fleisch, weil er von Natur aus ißt, wie er eben ist - ein Raubtier.
Gegen die Modetheorie vom menschlichen Raubtier in Barock und Aufklärung fallen auch klassische Gegenargumente gerne unter den Tisch. Ungehört hatte Plutarch betont, der Mensch sei von Natur aus kein Raubtier, weil ihm ja schon die natürliche Körperausstattung dazu fehle, Tiere zu erlegen und rohes Fleisch zu verzehren. Auch die Biologie und Evolutionstheorie des neunzehnten Jahrhunderts bevorzugten martialische Selbstdefinitionen: Von Herbert Spencers Kampf ums Dasein zu Karl Eduard von Hartmanns Ernährungsslogan ist es nur ein kleiner Schritt: Geist braucht Fleisch! Die vegetarische Ernährung dagegen mache Menschen zu energie-, willen- und geistlosen Vertretern eines vegetativen Traumlebens, unfähig zur Revolution (Feuerbach), unfähig zur Selbstgestaltung (Nietzsche), unfähig zur Gestaltung der Geschichte und der urbanen Kultur überhaupt (von Hartmann). Hat sich der Vegetarismus deshalb bis heute nicht flächendeckend durchgesetzt? Schaffen schlecht durchblutete Bäuche und Hirne keine Revolution? "Ein Farmer erklärte mir", schrieb Henry David Thoreau, ",Sie können nicht von Pflanzenkost allein leben, denn sie enthält nichts für den Knochenbau'. Und so weiht er andachtsvoll einen Teil seines Tages der Beschäftigung, seine Konstitution mit dem Rohmaterial für Knochen zu versehen; und während er mir vordoziert, geht er hinter seinen Ochsen her, die mit ihren vegetarisch aufgebauten Knochen ihn mitsamt seinem wackeligen Pflug über alle Hindernisse hinwegziehen."
Was für den Ochsen taugt, kann für den Menschen nicht schlecht sein - oder doch? Liefern andere Tiere dem Menschen den Maßstab für seine angemessene Ernährung? Welch schöne Überraschung für die herbivore Partei, als der in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wiederentdeckte Gorilla bei näherer Kenntnis vom menschenfressenden Monster zum sanften Riesenvegetarier mutierte. Und welch bitterer Rückschlag in den sechziger Jahren, als Jane Goodalls wilde Schimpansen zur Gruppenhatz auf einige kleinere Affen bliesen. Die Frage nach der Ernährungsweise von Menschenaffen löst aber mitnichten das Problem. Was der Mensch von Natur aus ist, ist keine wissenschaftliche Frage; sie ist eine naturphilosophische Gedankenfigur in den Gewändern der Zeit. Im Barock, der Blütezeit aristokratischer Raubtierphantasien vom Menschen, regieren ausgleichend und beschwichtigend die harmonischen Ordnungsgesetze einer kosmischen Menagerie: die natürliche Stufenordnung der Wesen - die scala naturae - bei Leibniz und Charles Bonnet. Und die physikotheologische Vorstellung von einem Haushalt der Natur, ebenfalls bei Leibniz und in ihrem pfiffigsten Zuschnitt bei Carl von Linné. In dem göttlich verfaßten Text der Natur erkennt der Autor der "Politia naturae" (1760) die Pflanzen als die eigentlichen Bewohner der Erde, um derentwillen die Tiere geschaffen seien. Der Kanzleibeamte des Herrgotts, als der sich der große Systematiker verstand, entwirft so einen Haushaltsplan, in dem letztlich auch Tod und Leid des Individuums gebilligt werden.
Das bürgerliche Zeitalter dagegen hat Schwierigkeiten mit der göttlichen Ordnung; aus Fügung wird Arbeit. Der Mensch, so Kant, ist aufgerufen, aus seinem Leben mehr zu machen, als seine Natur aus ihm gemacht hat. Ernährung ist damit nicht nur eine Frage des allgemeinen Menschenbildes, sondern zugleich Frage nach dem Selbstkonzept jedes einzelnen. In der pathetischen Verallgemeinerung Hegels macht Essen und Trinken die unorganischen Dinge zu dem, "was sie an sich sind". Vegetiert die "Idee" in der Pflanzenform noch vor sich hin, um sich im Tier zum "Selbstgefühl" konkreter Subjektivität zu erheben, so gelangt sie im Menschen endlich nach ihrem Durchgang durch Materie und Leben zum Geist.
Der Gegenschlag zum hehren Konzept von der Verwandlung vegetativ schlafender Ideen in arbeitenden Geist ließ nicht lange auf sich warten. Schon Hegels Zeitgenosse, der große französische Zoologe Georges Cuvier, erkannte die biologische Wahrheit der Hegelschen Theorie im Menschen als einem "Darmwesen". Wenn die Nahrungsaufnahme das Fundament bildet, auf dem unser Ich ruht, so auch ihre Kehrseite - der Kot. Zwischen Ich und Kot changieren dann auch Ludwig Feuerbach und Jacob Moleschott; ersterer in seinen "Grundsätzen der Philosophie der Zukunft" (1843): "Im Essen erfüllt sich der hohle Begriff des Seins und offenbart sich die Unsinnigkeit der Frage, ob Sein und Nichtsein identisch, das heißt ob Essen und Hungern identisch ist." Das exklusive Seelenwesen Mensch erhält nun seinen biologischen Unterbau zurück. Der Leib, vormals kaum mehr als ein Klotz am Kopf, produziert durch die Ernährung den Geist. Für Moleschott wird die neue Lehre vom Stoffwechsel gar zur wahren und praktischen Anthropologie, zur Erkenntnis eben "fürs Leben": "Ohne Phosphor kein Gedanke!"
Doch Leben als "Kraft und Stoff" (Ludwig Büchner), als "Daseinsweise der Eiweißkörper" (Marx und Engels) enthält keine Verpflichtungen außer die Selbsterhaltung. Ob als rechte Elementenmischung begriffen, als Selbstbewegung, als Lebenskraft, als Evolution, als Kampf ums Dasein, als informationsgewinnender Lernprozeß, als sich selbst organisierendes System, als Kreislauf- und Haushaltungsprozeß oder gar als "egoistische Genmaschine" (Dawkins) - auf stoffliche und kausale Basis zusammengeschrumpft erscheint die "molekulare Brühe" (Maturana) in der räumlichen Architektur des Genoms und des Gehirns heute so verschwommen, daß jeder ethische Anspruch gegenüber dem Leben erlischt. Die Frage, was denn das für ein "Leben" ist, das man lebt, ist und ißt, läßt sich biologisch kaum beantworten. Sie ist eine Frage subjektiven Selbstverständnisses, nicht die einer wissenschaftlichen Definition.
Und so ißt der Mensch, zumindest der, der die Wahl hat, heute das, wofür er sich in seinem Selbstentwurf entscheidet. Die Auswahl, welcher belebter Wesen er sich als Nahrungsmittel bemächtigt, entscheidet darüber, wer und was er ist - Fleischesser oder Vegetarier. Dem, nach Hartmut Böhme, "geheimen Schuldzusammenhang, der in allem Essen steckt", entkommt er dabei allerdings nicht. Denn wenn es richtig sein sollte, daß alles Leben Wert besitzt, dann auch die Möhre, der Kohlrabi und das Weizenkorn. Auch Vegetarier vernichten Leben, wie schon der Sonntagsbratenverteidiger Herakleides Pontikos im vierten vorchristlichen Jahrhundert den antiken Tierethikern ins Stammbuch schrieb: "Wenn nun aber gar, wie man sagt, die Pflanzen Seelen haben, was soll aus unserem Leben werden, wenn wir weder Thiere noch Pflanzen essen sollen? Wenn es aber keine Sünde ist, Pflanzen zu schneiden, so ist's also auch keine, Thiere zu tödten." Vegetarier schaffen nicht das Böse aus der Welt. Keine Sehnsucht nach einer gewaltfreien Zone in der Schöpfung vermag tierisches Leben zu denken, das nicht zugleich Leben nimmt.
Nicht Leben, sondern komplexes Empfinden ist demnach das zeitübergreifende ethische Kriterium des Vegetariertums, der freiwilligen Selbstverpflichtung, unnötiges Leiden zu vermeiden. Und so zählt die abendländische Philosophie neben ihrem Hauptstrang auch eine Auswahl von Denkern, die, von Manuela Linnemann sorgsam zusammengestellt, das Töten und Quälen von Tieren in Frage gestellt und skeptisch kommentiert haben. Bereits im dritten vorchristlichen Jahrhundert führt Theophrast die anatomischen Analogien von Mensch und Tier ins Feld, den vergleichbaren Stoffwechsel und die verblüffende Ähnlichkeit der Affekte. Denker der abendländischen Philosophie wie Montaigne, Mandeville, Voltaire, Bentham und Schopenhauer werden ihm dabei nachfolgen. Was gleich oder ähnlich empfindet wie wir, verdiene unsere Fürsorge und unseren Schutz. Zwischen Theophrasts Tier-Mensch-Vergleich und Peter Singers Forderung nach Menschenrechten für die Großen Menschenaffen liegen mehr als zwei Jahrtausende; gedanklich ist es nur ein kleiner Schritt.
Und heute? Die gegenwärtige Gesellschaft weiß längst um die biologische Verwandtschaft und die analogen Gefühle der höher entwickelten Tiere - und sie verspeist sie gleichwohl. Es lebt sich problemlos mit dem Widerspruch. Und so verlegt der kulinarische Blick das "Töten-Müssen, um zu essen" hinter die Kulissen der Zivilisation und stellt die vegetarische Küche in seinen Hochglanzpapier-Schatten. Die Maxime, beim Schnitzel lieber nicht so genau hinzusehen, formulierte als erster ausgerechnet der Erfolgsphilosoph des Unbewußten, Karl Eduard von Hartmann. Die moderne, sorgsam abgeschottete Massentierhaltung, die unkenntliche Glieder, "die kurz zuvor noch brüllten, sich bewegten und in die Welt schauten" (Plutarch), in appetitliche Häppchen zerlegt, wird ihn darin unterstützen.
Doch wo beginnt das Verbrechen? Bei der Currywurst aus der Massentierhaltung, beim Öko-Fleisch, beim Ei, oder doch schon beim Blumenkohl? So viele Fragen, so viele Bilder und Geschichten. Etwa die, daß die Tierschutzbewegung seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts den Genuß von Pferdefleisch für ärmere Volksschichten propagierte, um das bis zuletzt ausgenutzte Pferd "der Wohltat des geringeren Uebels, des frühzeitigen Todes durch das Schlachten theilhaftig zu machen". Oder das Bild von dem indischen Gymnosophisten Calanus aus der Zeit Alexanders des Großen, der sich, in hohem Alter krank geworden, selbst auf den Scheiterhaufen beorderte, weil er gegen die Grundsätze der Diätetik verstoßen hatte. Über Schüsseln gebeugt, so wußte schon der Kirchenvater Clemens, kommen dem Vernunftwesen Mensch sein aufrechter Gang und sein himmelwärts gerichteter Blick abhanden. Und so erzählen beide Anthologien vom Widerstreit zwischen Vernunft und Affekt, von Lust und Leid des Selbstbetrugs und vom großen Fatalismus der Geschichte, in der "sich der "unnütze Streit, ob das Fleischessen recht sey?", mit den Worten Johann August Unzers, "so oft bei einem Rinderbraten entschieden" hat.
RICHARD DAVID PRECHT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mensch, werde wesentlich: Die Debatte, ob man Tiere essen darf, begleitet unsere Spezies nicht erst seit BSE durch die Geschichte
Welche Art von Mahl ist nicht kostspielig, für das ein beseeltes Wesen den Tod erleidet? Voller Empörung über die Grausamkeit des Menschen erklingt diese zweitausend Jahre alte Anklage Plutarchs bis heute unverhallt. Der fleischfressende Mensch - ein millionenfacher Verbrecher an seinen naturgeschichtlichen Gefährten, den Tieren? Oder haben die Götter dem Schwein die Seele nur gegeben, damit das Fleisch nicht verderbe, wie der Altstoiker Chrysip frech dagegensetzte?
Menschen lieben Tiere, sie hegen und pflegen sie, bewundern ihre Treue und Schönheit. Zugleich aber verätzt der Vivisekteur im Labor Versuchstiere, vergast der Züchter seine Nerze, zerschlitzt der Schlachter das Kälbchen. Dieses mehr als nur zwiespältige Verhältnis zwischen dem Menschen und den anderen Tieren ist das Thema einer neuen Anthologie, herausgegeben von Manuela Linnemann: "Brüder, Bestien, Automaten". Der Titel reiht drei bezeichnende Tierkonzepte aus der abendländischen Philosophiegeschichte. Begriffe freilich, die allesamt nur wenig mit der Beobachtung von Tieren zu tun haben. Vielmehr dienen sie, wie die Herausgeberin schreibt, als Gegenbilder zur Wesensbestimmung des Menschen. Philosophen und Theologen beschreiben und klassifizieren, definieren und entwerten das Tier, vom Menschen her gesehen, als mangelhaftes, nämlich als vernunftloses und daher auch sprach- und rechtloses - im siebzehnten Jahrhundert sogar als empfindungsloses - Wesen.
Wenige Philosophen der abendländischen Kulturgeschichte hatten je Zweifel an der universellen Gültigkeit des menschlichen Denkens, seiner Instrumente und Kriterien. Systematisch leugneten sie das animalische Erbe, das ihnen bei der morgendlichen Rasur vor dem Spiegel ebenso unmißverständlich entgegengrinste wie später, nach Feierabend, das Gemächt in den Daunen. Platon, Aristoteles, Cicero, Augustinus, Thomas von Aquin, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant und Hegel - allesamt schaufelten sie am großen Graben zwischen Mensch und Tier. Des Menschen Vernunft und Verstand, seine Denk- und Urteilsfähigkeit bildeten den allein seligmachenden Maßstab, die belebte Natur zu bewerten. Und da sich all diese Fähigkeiten beim Menschen nicht empirisch nachweisen ließen, verurteilten sie die Welt der Empirie, das "bloß" Körperliche zum schwachen Abklatsch menschlicher Vollkommenheit, zu niederem, das heißt: tierischem Instinkt. Wo nicht Vernunft und freier Wille den Ton der Sprache angaben, herrschte Zwang, mithin die seelenlose Automatik einer Uhr.
Im Grunde freilich ist schon die Rede vom "Tier" ein irreführender Begriff - "anthropozentrischer Größenwahn" in der Formulierung von Günther Anders: die Idee, die Einzelspezies "Mensch" als gleichberechtigtes Pendant den Abertausenden und voneinander grenzenlos verschiedenen Tiergattungen und -arten gegenüberzustellen und diese Abertausende so zu behandeln, als verkörperten sie einen Typenblock tierischen Daseins. Nach Maßgabe der gegenwärtigen Moral und Rechtsprechung ist der Unterschied zwischen Schimpanse und Mensch größer als jener zwischen Schimpanse und Blattlaus. Die Rechte des Menschen regeln die Verfassung und das Bürgerliche Gesetzbuch, der Schimpanse hingegen hat überhaupt keine Rechte. Seine Belange regelt ebenso wie die des Maulwurfs das Tierschutzgesetz. Das vernünftige und sittliche Leben und das unvernünftige, rohe Leben teilen die Welt in zwei Herrschaftsbereiche, von denen einer Verfassungsurkunde und moralisches Siegel besitzt. Der andere hingegen ist ein nahezu unbeschriebenes Blatt.
Der vielleicht eindrucksvollste Beweis für die überlegene Klugheit des Menschen, so drängt sich bei der Lektüre der historischen Texte auf, ist sein erstaunlicher Scharfsinn, sich von der moralischen Verpflichtung anderen Tieren gegenüber freizusprechen. Und so liest sich die Rechtfertigungsgeschichte der klügeren Menschentiere, die anderen Tiere essen zu dürfen, mitunter wie die Inversion eines Kriminalromans: Nicht Mörder werden gesucht und Motive, sondern Unschuldige und Alibis. Diese unausweichliche und verhängnisvolle Triade von "Leben, Töten, Essen" ist zugleich Thema und Titel einer zweiten Anthologie. Auch hier ein ausschweifender Spaziergang durch bekannte und wenig bekannte Gefilde des Geistes. Die Textauswahl nährt sich aus vielen Disziplinen: Philosophie, Theologie, Biologie, Medizin, Psychologie und Soziologie.
Schon die Einleitung von Heike Baranzke und Hans Werner Ingensiep verrät, wie reichhaltig die Reflexion auf den Zusammenhang ist. Menschen essen anderes Leben, vom Kannibalismus bis zur Eucharistie. Gerade der so oft als banal empfundene Akt der Ernährung erscheint als schillerndes Instrumentarium, die abendländische Kultur zu erschließen, als gastrosophische Frage: Ob man eine Kulturgeschichte oder Anthropologie nicht der Erkenntnis halber vom Bauch anstatt vom Kopf her schreiben sollte? Die Rechtfertigungen des Kopfes für die Gelüste des Magens haben eine lange Geschichte, verwirrend vielfältig und nicht ohne Witz. Der Mensch ist, was er ißt - wie ein Orakel liegt Ludwig Feuerbachs Bonmot über der Gastrosophie. Kein Leben, kein Mensch, kein Gedanke ohne Stoff, der am Ende über das Blut zu "Gesinnungsstoff" verwandelt wird. Wer wird sich da schon der Aufforderung widersetzen, sein besseres Selbst zu nähren?
Aber worin besteht das Selbst, und wie wird es richtig genährt? Auf jede Theorie fällt ein besonderes Licht und auf alle der Schatten ihrer jeweiligen Zeit. Der Neuplatoniker Porphyrios, ein Guru des Vegetarismus, schreibt nicht für diejenigen, "welche schlafen und, wenn es geht, das ganze Leben lang schlafen möchten", nicht für die, "deren Gott der Bauch ist", wie Chrysostomus gesagt haben würde. Porphyrios geht es weniger um das Wohl der Tiere als um die Selbstreinigung von den primitiven Gelüsten des Magens. Die maß- und vernunftlose Leidenschaft des Unterleibes nietet und klammert die Seele an den Verdauungsprozeß des Körpers. Kein Segen, so glaubten auch die Manichäer im vierten Jahrhundert, liegt im Fleisch, dem Inbegriff der verderbten Materie. Nur die Pflanzenwelt gilt als rein, vollgesogen mit dem im Urzeitkampf der Gewalten aus der Erde ausgedünsteten spirituellen göttlichen Licht. Und so beseelt der sublimierte Lichtfunken allein die Pflanzenfresser, durchdringt ihren Verdauungstrakt und setzt sich als göttliches Bio-gas frei.
Das schöne Bild von der rülpsenden und furzenden Entfesselung des kosmischen Lichtreichs bildet einen poetischen Höhepunkt in der kulturübergreifenden Sehnsucht nach vegetarischer Selbstreinigung. Noch im neunzehnten Jahrhundert sehnt sich der Schriftsteller, Anarchist und feinfühlige Naturbeobachter Henry David Thoreau aus dem kleinen Concord in Massachusetts nach "ein wenig eingefangenem Sternenstaub, einem bißchen Niederschlag von dem Regenbogen, den ich umklammert hielt". Doch bietet die Sehnsucht nach dem göttlichen Funken der Elemente und Pflanzen tatsächlich ein Argument für den Vegetarismus? Warum dann nicht um so freimütiger morden, wenn so Lichtfunken aus ihren Materiegefängnissen befreit, zumindest aber doch ihre weitere Gefangennahme durch animalische Fortpflanzung unterbunden wird? Mit ketzerischen Fragen treibt Augustinus seine alten Bundesbrüder in die Enge und verspottet die Manichäer mit Matthäus 15,11: "Nicht was in euren Mund hineinkommt, befleckt euch, sondern was hinausgeht."
Argumente gegen den Vegetarismus finden sich in der Antike vielfach. Zahnstruktur, Magen und Darmlänge des Menschen dienen als Beweise für das zoon politikon als Gemischtköstler. Für Jean-Jacques Rousseau ist wiederum nur Pflanzenkost akzeptabel, für den Materialisten Claude Adrien Helvétius vorzugsweise Fleischkost. Auch der Staatstheoretiker Thomas Hobbes, der Rationalist Christian Wolff, der Aufklärungsarzt Johann August Unzer oder der Philosoph Karl Eduard von Hartmann zählen zur karnivoren Partei: Der Mensch ißt Fleisch, weil er von Natur aus ißt, wie er eben ist - ein Raubtier.
Gegen die Modetheorie vom menschlichen Raubtier in Barock und Aufklärung fallen auch klassische Gegenargumente gerne unter den Tisch. Ungehört hatte Plutarch betont, der Mensch sei von Natur aus kein Raubtier, weil ihm ja schon die natürliche Körperausstattung dazu fehle, Tiere zu erlegen und rohes Fleisch zu verzehren. Auch die Biologie und Evolutionstheorie des neunzehnten Jahrhunderts bevorzugten martialische Selbstdefinitionen: Von Herbert Spencers Kampf ums Dasein zu Karl Eduard von Hartmanns Ernährungsslogan ist es nur ein kleiner Schritt: Geist braucht Fleisch! Die vegetarische Ernährung dagegen mache Menschen zu energie-, willen- und geistlosen Vertretern eines vegetativen Traumlebens, unfähig zur Revolution (Feuerbach), unfähig zur Selbstgestaltung (Nietzsche), unfähig zur Gestaltung der Geschichte und der urbanen Kultur überhaupt (von Hartmann). Hat sich der Vegetarismus deshalb bis heute nicht flächendeckend durchgesetzt? Schaffen schlecht durchblutete Bäuche und Hirne keine Revolution? "Ein Farmer erklärte mir", schrieb Henry David Thoreau, ",Sie können nicht von Pflanzenkost allein leben, denn sie enthält nichts für den Knochenbau'. Und so weiht er andachtsvoll einen Teil seines Tages der Beschäftigung, seine Konstitution mit dem Rohmaterial für Knochen zu versehen; und während er mir vordoziert, geht er hinter seinen Ochsen her, die mit ihren vegetarisch aufgebauten Knochen ihn mitsamt seinem wackeligen Pflug über alle Hindernisse hinwegziehen."
Was für den Ochsen taugt, kann für den Menschen nicht schlecht sein - oder doch? Liefern andere Tiere dem Menschen den Maßstab für seine angemessene Ernährung? Welch schöne Überraschung für die herbivore Partei, als der in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wiederentdeckte Gorilla bei näherer Kenntnis vom menschenfressenden Monster zum sanften Riesenvegetarier mutierte. Und welch bitterer Rückschlag in den sechziger Jahren, als Jane Goodalls wilde Schimpansen zur Gruppenhatz auf einige kleinere Affen bliesen. Die Frage nach der Ernährungsweise von Menschenaffen löst aber mitnichten das Problem. Was der Mensch von Natur aus ist, ist keine wissenschaftliche Frage; sie ist eine naturphilosophische Gedankenfigur in den Gewändern der Zeit. Im Barock, der Blütezeit aristokratischer Raubtierphantasien vom Menschen, regieren ausgleichend und beschwichtigend die harmonischen Ordnungsgesetze einer kosmischen Menagerie: die natürliche Stufenordnung der Wesen - die scala naturae - bei Leibniz und Charles Bonnet. Und die physikotheologische Vorstellung von einem Haushalt der Natur, ebenfalls bei Leibniz und in ihrem pfiffigsten Zuschnitt bei Carl von Linné. In dem göttlich verfaßten Text der Natur erkennt der Autor der "Politia naturae" (1760) die Pflanzen als die eigentlichen Bewohner der Erde, um derentwillen die Tiere geschaffen seien. Der Kanzleibeamte des Herrgotts, als der sich der große Systematiker verstand, entwirft so einen Haushaltsplan, in dem letztlich auch Tod und Leid des Individuums gebilligt werden.
Das bürgerliche Zeitalter dagegen hat Schwierigkeiten mit der göttlichen Ordnung; aus Fügung wird Arbeit. Der Mensch, so Kant, ist aufgerufen, aus seinem Leben mehr zu machen, als seine Natur aus ihm gemacht hat. Ernährung ist damit nicht nur eine Frage des allgemeinen Menschenbildes, sondern zugleich Frage nach dem Selbstkonzept jedes einzelnen. In der pathetischen Verallgemeinerung Hegels macht Essen und Trinken die unorganischen Dinge zu dem, "was sie an sich sind". Vegetiert die "Idee" in der Pflanzenform noch vor sich hin, um sich im Tier zum "Selbstgefühl" konkreter Subjektivität zu erheben, so gelangt sie im Menschen endlich nach ihrem Durchgang durch Materie und Leben zum Geist.
Der Gegenschlag zum hehren Konzept von der Verwandlung vegetativ schlafender Ideen in arbeitenden Geist ließ nicht lange auf sich warten. Schon Hegels Zeitgenosse, der große französische Zoologe Georges Cuvier, erkannte die biologische Wahrheit der Hegelschen Theorie im Menschen als einem "Darmwesen". Wenn die Nahrungsaufnahme das Fundament bildet, auf dem unser Ich ruht, so auch ihre Kehrseite - der Kot. Zwischen Ich und Kot changieren dann auch Ludwig Feuerbach und Jacob Moleschott; ersterer in seinen "Grundsätzen der Philosophie der Zukunft" (1843): "Im Essen erfüllt sich der hohle Begriff des Seins und offenbart sich die Unsinnigkeit der Frage, ob Sein und Nichtsein identisch, das heißt ob Essen und Hungern identisch ist." Das exklusive Seelenwesen Mensch erhält nun seinen biologischen Unterbau zurück. Der Leib, vormals kaum mehr als ein Klotz am Kopf, produziert durch die Ernährung den Geist. Für Moleschott wird die neue Lehre vom Stoffwechsel gar zur wahren und praktischen Anthropologie, zur Erkenntnis eben "fürs Leben": "Ohne Phosphor kein Gedanke!"
Doch Leben als "Kraft und Stoff" (Ludwig Büchner), als "Daseinsweise der Eiweißkörper" (Marx und Engels) enthält keine Verpflichtungen außer die Selbsterhaltung. Ob als rechte Elementenmischung begriffen, als Selbstbewegung, als Lebenskraft, als Evolution, als Kampf ums Dasein, als informationsgewinnender Lernprozeß, als sich selbst organisierendes System, als Kreislauf- und Haushaltungsprozeß oder gar als "egoistische Genmaschine" (Dawkins) - auf stoffliche und kausale Basis zusammengeschrumpft erscheint die "molekulare Brühe" (Maturana) in der räumlichen Architektur des Genoms und des Gehirns heute so verschwommen, daß jeder ethische Anspruch gegenüber dem Leben erlischt. Die Frage, was denn das für ein "Leben" ist, das man lebt, ist und ißt, läßt sich biologisch kaum beantworten. Sie ist eine Frage subjektiven Selbstverständnisses, nicht die einer wissenschaftlichen Definition.
Und so ißt der Mensch, zumindest der, der die Wahl hat, heute das, wofür er sich in seinem Selbstentwurf entscheidet. Die Auswahl, welcher belebter Wesen er sich als Nahrungsmittel bemächtigt, entscheidet darüber, wer und was er ist - Fleischesser oder Vegetarier. Dem, nach Hartmut Böhme, "geheimen Schuldzusammenhang, der in allem Essen steckt", entkommt er dabei allerdings nicht. Denn wenn es richtig sein sollte, daß alles Leben Wert besitzt, dann auch die Möhre, der Kohlrabi und das Weizenkorn. Auch Vegetarier vernichten Leben, wie schon der Sonntagsbratenverteidiger Herakleides Pontikos im vierten vorchristlichen Jahrhundert den antiken Tierethikern ins Stammbuch schrieb: "Wenn nun aber gar, wie man sagt, die Pflanzen Seelen haben, was soll aus unserem Leben werden, wenn wir weder Thiere noch Pflanzen essen sollen? Wenn es aber keine Sünde ist, Pflanzen zu schneiden, so ist's also auch keine, Thiere zu tödten." Vegetarier schaffen nicht das Böse aus der Welt. Keine Sehnsucht nach einer gewaltfreien Zone in der Schöpfung vermag tierisches Leben zu denken, das nicht zugleich Leben nimmt.
Nicht Leben, sondern komplexes Empfinden ist demnach das zeitübergreifende ethische Kriterium des Vegetariertums, der freiwilligen Selbstverpflichtung, unnötiges Leiden zu vermeiden. Und so zählt die abendländische Philosophie neben ihrem Hauptstrang auch eine Auswahl von Denkern, die, von Manuela Linnemann sorgsam zusammengestellt, das Töten und Quälen von Tieren in Frage gestellt und skeptisch kommentiert haben. Bereits im dritten vorchristlichen Jahrhundert führt Theophrast die anatomischen Analogien von Mensch und Tier ins Feld, den vergleichbaren Stoffwechsel und die verblüffende Ähnlichkeit der Affekte. Denker der abendländischen Philosophie wie Montaigne, Mandeville, Voltaire, Bentham und Schopenhauer werden ihm dabei nachfolgen. Was gleich oder ähnlich empfindet wie wir, verdiene unsere Fürsorge und unseren Schutz. Zwischen Theophrasts Tier-Mensch-Vergleich und Peter Singers Forderung nach Menschenrechten für die Großen Menschenaffen liegen mehr als zwei Jahrtausende; gedanklich ist es nur ein kleiner Schritt.
Und heute? Die gegenwärtige Gesellschaft weiß längst um die biologische Verwandtschaft und die analogen Gefühle der höher entwickelten Tiere - und sie verspeist sie gleichwohl. Es lebt sich problemlos mit dem Widerspruch. Und so verlegt der kulinarische Blick das "Töten-Müssen, um zu essen" hinter die Kulissen der Zivilisation und stellt die vegetarische Küche in seinen Hochglanzpapier-Schatten. Die Maxime, beim Schnitzel lieber nicht so genau hinzusehen, formulierte als erster ausgerechnet der Erfolgsphilosoph des Unbewußten, Karl Eduard von Hartmann. Die moderne, sorgsam abgeschottete Massentierhaltung, die unkenntliche Glieder, "die kurz zuvor noch brüllten, sich bewegten und in die Welt schauten" (Plutarch), in appetitliche Häppchen zerlegt, wird ihn darin unterstützen.
Doch wo beginnt das Verbrechen? Bei der Currywurst aus der Massentierhaltung, beim Öko-Fleisch, beim Ei, oder doch schon beim Blumenkohl? So viele Fragen, so viele Bilder und Geschichten. Etwa die, daß die Tierschutzbewegung seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts den Genuß von Pferdefleisch für ärmere Volksschichten propagierte, um das bis zuletzt ausgenutzte Pferd "der Wohltat des geringeren Uebels, des frühzeitigen Todes durch das Schlachten theilhaftig zu machen". Oder das Bild von dem indischen Gymnosophisten Calanus aus der Zeit Alexanders des Großen, der sich, in hohem Alter krank geworden, selbst auf den Scheiterhaufen beorderte, weil er gegen die Grundsätze der Diätetik verstoßen hatte. Über Schüsseln gebeugt, so wußte schon der Kirchenvater Clemens, kommen dem Vernunftwesen Mensch sein aufrechter Gang und sein himmelwärts gerichteter Blick abhanden. Und so erzählen beide Anthologien vom Widerstreit zwischen Vernunft und Affekt, von Lust und Leid des Selbstbetrugs und vom großen Fatalismus der Geschichte, in der "sich der "unnütze Streit, ob das Fleischessen recht sey?", mit den Worten Johann August Unzers, "so oft bei einem Rinderbraten entschieden" hat.
RICHARD DAVID PRECHT
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