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Im äußersten Winkel des Obstgartens lag ein Wasserloch, das nie austrocknete, dessen Gewässer nicht überflossen. Der Großvater nannte es "blinden Brunnen", der Vater "Tümpel", die Mutter mit leisem Zungenschlag "Weiher". Für uns Buben war es das Brunnentor in rätselhafte Gründe. Mein kleiner Bruder hatte den Namen ausgebrütet: Brunnentor. Jener runde Teich war beschirmt von Erlen und Eschen. Und war umrahmt von Dotterblumen. Von denen die Bardócz néni behauptete, sie schützten vor Gespenstern und Kobolden. Vielleicht wären sie sogar nützlich gegen Hexen. Dabei schmeckten sie nur…mehr

Produktbeschreibung
Im äußersten Winkel des Obstgartens lag ein Wasserloch, das nie austrocknete, dessen Gewässer nicht überflossen. Der Großvater nannte es "blinden Brunnen", der Vater "Tümpel", die Mutter mit leisem Zungenschlag "Weiher". Für uns Buben war es das Brunnentor in rätselhafte Gründe. Mein kleiner Bruder hatte den Namen ausgebrütet: Brunnentor. Jener runde Teich war beschirmt von Erlen und Eschen. Und war umrahmt von Dotterblumen. Von denen die Bardócz néni behauptete, sie schützten vor Gespenstern und Kobolden. Vielleicht wären sie sogar nützlich gegen Hexen. Dabei schmeckten sie nur bitter.Früheste Erinnerungen, die herbeigaukeln und geschuldet sind dem vergrübelten Spürsinn eines Buben. Mir. Der ich noch nicht lesen und schreiben konnte. Doch bereits Ungarisch sprach, damals, dort, als wir wenige Jahre im Szeklerland lebten, in Szentkeresztbánya. Vermutlich war es so, wie ich es niederschreibe. Doch denkbar: einiges anders. Aus den zerfransten Bildern der Vergangenheit schälen sich Begebenheiten, die Profil und Kontur begehren als das Erzählbare. Das alles, so und anders, war überdacht von einer Zeit, die den Jahren viel "Unordnung und frühes Leid" bescherte, damals am Brunnentor der Kindheit ...Eginald Schlattners Romane, die in ihrer Gesamtheit nahezu ein Jahrhundertpanorama der deutschen Ethnie in Rumänien aufrollen, sind - ausgenommen Das Klavier im Nebel - alle autofiktional gehalten. So auch das vorliegende Buch mit dem änigmatischen Titel Brunnentore. Hier verhandelt der Autor seine Kindheit, die er im Vorschulalter in einer ungarisch geprägten Region von Siebenbürgen, im sogenannten Szeklerland, verbracht hat, wo viele Weichen für sein späteres Welt- und Menschenbild gestellt wurden. Eltern, Großfamilie und Freunde, Verwandte und Nachbarn, Arbeiter und Beamte der lokalen Eisenwerke, Dienstboten, Gassenjungen und angehimmelte Mädchen sowie vor allem der zweieinhalb Jahre jüngere Bruder Kurtfelix bevölkern und beleben den bunten Alltag, den der Autor anhand von Erinnerungen und Familienfotos nachzeichnet und literarisch gestaltet. Bestechend ist dabei die kindliche Optik des Ich-Erzählers, der nicht nur sein unmittelbares Umfeld in Szentkeresztbánya oder zu Besuch bei den Großeltern in Hermannstadt beziehungsweise auf Sommerfrische bei den Großtanten in Freck, sondern letztlich auch die historischen Brüche und Umbrüche jener Zeit anders wahrnimmt als die Erwachsenen, etwa wenn es um die staatliche Zugehörigkeit Transsilvaniens oder den aufkommenden Nationalsozialismus geht, und mit seinen naiven Beobachtungen und Fragen das politische Geschehen ad absurdum führt. Zeitlich nämlich fällt die Handlung in die späten 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts und endet mit dem Wiener Schiedsspruch 1940, als Nordsiebenbürgen von dem Territorium des Königreichs Rumänien abgetrennt und Reichsungarn angegliedert wurde und die Eltern, die für Rumänien optiert hatten, mit den Kindern nach Kronstadt in Südsiebenbürgen zogen. Damit schließt Brunnentore die letzte autofiktionale "Lücke", da Eginald Schlattner - nach den Romanen Der geköpfte Hahn, Rote Handschuhe, Wasserzeichen, Drachenköpfe und Schattenspiele toter Mädchen - nun laut eigenem Bekunden seine komplette Vita in Prosa gegossen und literarisch abgeschlossen hat.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als "kulturellen Tauchgang" in eine von verschiedensten Sprachen und Kulturen geprägte Region liest Rezensent Elmar Schenkel diesen neuen Band des Siebenbürger Sachsen Eginald Schlattner, der heute neunzig Jahre alt wird. Über das Deutsche und das Rumänische, die ihn geprägt haben, hat er schon viel geschrieben, weiß Schenkel, jetzt steht das Ungarische im Vordergrund dieser Geschichte eines Menschenlebens in den Wirren der rumänischen und besonders rumäniendeutschen Geschichte. Schlattner, nicht nur Schriftsteller, sondern auch Pfarrer, hat seine Heimatregion in den 1990er Jahren dem großen Exodus Richtung Deutschland ausgesetzt gesehen und sich entschieden, zu bleiben und sich auch literarisch für Versöhnung und interkulturelle Kommunikation einzusetzen. Das merkt der Kritiker auch diesem Buch an, das zwar mit seinen Erinnerungen manchmal etwas formelhaft wirkt, aber dennoch ein wichtiges Beispiel für die Suche und das Verständnis des "Fremdartigen in der Vergangenheit" ist, lobt der Kritiker.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2023

Mit den Dingen reden und mit den Toten
Eginald Schlattner breitet zum neunzigsten Geburtstag seinen Gedächtnisteppich in einem neuen Buch aus

Wer diesen Pfarrhof betritt, findet sich in verschollenen Zeiträumen wieder, die aber sehr Gegenwart sind: Es könnte die k. u. k. Zeit sein, denn an der Wand im Vorraum hängt eine Karte der Donaumonarchie vor 1914. Die Stola des Pfarrers verkündet christliche Zeitordnung, der Bus mit deutschen Lesern vor dem Haus die literarische Präsenz.

All das aber wird zur Gegenwart durch seinen Bewohner, der so legendär erscheint wie dieser Ort in Siebenbürgen. Es ist der Pfarrer und Schriftsteller Eginald Schlattner in Rosia (Rothberg) bei Sibiu (Hermannstadt). Pfarrhaus und romanische Kirche (die älter ist als Berlin, wie Schlattner zu sagen pflegt) überbrücken Zeitensprünge und Kulturen, denn hier schreibt ein Geistlicher Romane über die letzten Jahrzehnte seines Volksstammes, der nach 800 Jahren mit einem Mal das Land fluchtartig verließ, ohne vertrieben worden zu sein. Die Siebenbürger Sachsen zogen fast vollständig in den Neunzigern zurück nach Deutschland, um sich dort ein besseres Leben aufzubauen. Der Pfarrer blieb mit seiner Kirche und einigen wenigen Alten zurück, er sah sich in der Verantwortung, Gedächtnis zu sein. Sein Motto: "Verlasse den Ort des Leidens nicht, sondern handele so, dass die Leiden den Ort verlassen."

Früh hatte Schlattner mit dem Schreiben begonnen, das auch Rettungsanker war in diesem oft qualvollen Jahrhundert, doch der Exodus seiner Zeitgenossen und die Einsamkeit stießen ihn an, sich des Vergangenen zu versichern, es zu durchleuchten, auch auf die eigenen Verwicklungen in der Geschichte hin. Im deutschsprachigen Gebiet machte ihn eine Trilogie bekannt: "Der geköpfte Hahn", "Rote Handschuhe", "Das Klavier im Nebel" (1998 bis 2005). Darin wird in bild- und klangreicher Sprache eigene Entwicklung und siebenbürgische Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert beschworen. Schmerzhaft gerät man als Leser in den Strudel von Liebe und Folter, von Denunziation und Anpassung, von Strafe, Verrat und Angst, den Nationalsozialismus und Kommunismus in diesem so wunderschönen Land angerichtet haben. Doch da die Sprache so vital und sinnlich daherkommt, lässt man nicht ab. In den letzten Jahren sind weitere Beleuchtungen biographisch-historischer Art erschienen, so "Drachenköpfe" und "Wasserzeichen" im Verlag Traian Pop, dem das Werk Schlattners am Herzen liegt.

Oft bringt der Ruf des einsam, wie in einem Exil Schaffenden ganze Busladungen von Literaturpilgern in das alte Gemäuer. Auch die Gottesdienste sind nicht mehr ganz einsam; es kommen die Roma des Dorfes, um mit ihm zu singen und zu beten, auch orthodoxe Gläubige finden Zugang. Schlattner hat viel zu erzählen, von moralischen Abgründen und der Phantasie Gottes, die den Menschen übersteigt. Manchmal geht er in ein orthodoxes Kloster, um die Einsamkeit zurückzugewinnen.

Schreiben muss er auf Deutsch, denn die Muttersprache ist ihm das "Haus der Seele". Schlattner ist in Sprache verliebt - aber nicht nur in die deutsche. Die Bücher, die nach der Trilogie entstanden, bilden einen großen Teppich der Erinnerungen und sind weitgehend autobiographisch, wenn auch mit phantasievollen Schlingungen versehen. Sein drei Jahre jüngerer Bruder Kurtfelix, der unweit vom Pfarrhof wohnt und ihn regelmäßig besucht, weiß sogleich, wo der Autor zu erfinden beginnt. In Eginald Schlattners neuestem Werk "Brunnentore" spielt dieser Bruder eine besondere Rolle: als Kontrast, Stichwortgeber, Kritiker und Schalk - so wie er im wirklichen Leben mit seinem trockenen Humor den literarischen Bruder gern auf den Boden des Realen zurückbringt.

Der merkwürdige Titel dieses Buchs verweist auf Brunnen (und weitere Wasserstellen), die einen Zugang bilden zu anderen Welten - zum Märchen der Frau Holle, zu Gespenstern, zum Tod und zum Jenseits. Unergründlich nannte Thomas Mann den Brunnen der Vergangenheit. Der unergründliche Kurtfelix schlägt den Ton an und narrt hin und wieder wie ein kichernder Kobold Bruder und Familie. Das Buch stellt aber vor allem einen kulturellen Tauchgang in die ungarische Vergangenheit des Autors dar. Schlattner wurde 1933 nahe der ungarischen Grenze geboren, die Mutter sprach perfekt Ungarisch. Wichtige Kindheitsjahre verbrachte er im ungarisch geprägten östlichen Siebenbürgen, dem Land der Szekler. Während er sich in seinen früheren Werken mit der deutschen und rumänischen Verwurzelung auseinandersetzte, gilt es nun, dem Ungarischen in sich auf den Zahn zu fühlen. Als Sprache und Kultur erhält es hier eine eigene Wertigkeit, aber im Licht der toleranten Sprachenvielfalt Rumäniens: "Die Sprache war in Siebenbürgen wie ein Regenbogen." Wenn Deutsch Blau war, dann war Ungarisch Rot, die Farbe der Liebe, der Leidenschaft. Rumänisch gab Schlattner später eine weitere Färbung, sprachlich wie weltanschaulich. Toleranz, das Verstehen des fremden Standpunktes, ist durch diese Erfahrung zu seinem Credo geworden - nur so könne friedliches Zusammenleben gelingen in einer multikulturellen Gesellschaft.

Das Buch spiegelt in einzelnen Episoden die Geschichte eines Menschen, der vom Hitlerjungen, Kommunisten und Atheisten zum Christen wird und dabei durch die widrigsten Umstände der Geschichte waten muss: Verhaftung durch die Securitate und mehr als zweijährige Haft in der Einzelzelle. Vorwurf: angeblich regimekritische Studenten nicht verraten zu haben. Später der Vorwurf von anderer Seite, Mithäftlinge verraten zu haben - was sich inzwischen als Finte der Securitate erwiesen hat. Schließlich erreichte ihn der innere Ruf, Pfarrer zu werden und in Rumänien auszuharren, Treue zu seiner Pfarre und den Roma unten am Bach, die er über Jahrzehnte unterstützt hat. Dazu betreut er eine weitere Gemeinde als Gefängnispfarrer; ihre kriminellen Mitglieder sind für ihn ebenso Gotteskinder. Der Taschendieb gehe ihm nun nicht mehr ans Portemonnaie, sondern küsse ihm die Hand. Sein Leben und seine Bücher sind voll solcher Momente, voll von Abgründen, doch auch von Gnade, Hilfe und Versöhnung.

Erinnerungen können oft zu Formeln erstarren, und dies ist auch bei Schlattner nicht zu vermeiden. Doch sind die in "Brunnentore" verzeichneten Fäden des Gedächtnisteppichs von frischer Farbe, ja sie verraten etwas von dem flüssigen Medium, dem sein Leben geweiht zu sein scheint. Bevor er Pfarrer wurde, war er Hydrologe, und das Wasser bleibt sein Element. Es hält die Erinnerungen in Fluss, gibt den anderen am Flussufer eine Stimme: den Ungarn, den alten Frauen, dem Bruder, der Mutter, der Nazitante, denen, die in den Lagern oder in der Vertreibung starben, und natürlich den Mädchen, die ihn neckten. Fotos und Reliquien helfen bei der Erinnerung - von der Suppenterrine bis zum Peitschenstiel, sie alle haben eine Geschichte - an einer Stelle spricht Schlattner von der Warmherzigkeit der Dinge. Sie heben Vergangenheit auf, im doppelten Sinn. Das Buch kann helfen, Versöhnung, wenigstens aber Verständnis für das Fremdartige in der Vergangenheit zu finden. Eginald Schlattner feiert heute seinen neunzigsten Geburtstag. ELMAR SCHENKEL

Eginald Schlattner: "Brunnentore".

Pop Verlag, Ludwigsburg 2023. 320 S., br., 25,- Euro.

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