Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1996Allmähliches Verfertigen einer Affäre
Bettelheim - Nina Suttons Biographie eines Elefanten ohne Weisheit / Von Katharina Rutschky
Die Leser seiner vielen erfolgreichen Bücher über den richtigen Umgang mit schwierigen Kindern hat Bruno Bettelheim mit seinem elenden Tod nicht nur erschüttert, sondern enttäuscht. Sein Selbstmord in einem Altersheim, unter Zuhilfenahme von Tabletten, Alkohol und einer über den Kopf gezogenen Plastiktüte, hat so gar nichts von dem Stoizismus Freuds gehabt, der sich sein Ende verabredet und vertrauensvoll von seinem Arzt Max Schur erleichtern lassen konnte. Bettelheim starb, wie er gelebt hatte, voller Wut, Trotz und einer Aggression, die er zuletzt nicht mehr gegen die Feinde des Lebens, sondern nur noch gegen sich selbst richten konnte.
Von Menschen, die als bewegende, ratgebende und mutmachende Schriftsteller das Leben so vieler beeinflußt haben, erwarten wir auch ein vorbildliches Sterben. Daß Bruno Bettelheim uns das nicht vormachen konnte, erklärt wenigstens zum Teil die Leidenschaft, mit der man sich nach seinem Tod über ihn, seine Fehler, seine Täuschungen und Illusionen hergemacht hat. Weil der große Mann, siebenundachtzigjährig, erfolgreich und weltberühmt, sich nicht lebenssatt und weise verabschieden konnte, fanden die Klagen und Beschwerden von ehemaligen Schülern, Patienten und Mitarbeitern ein schrilles Medienecho, das in der Apostrophierung seiner Person und der von ihm jahrzehntelang geleiteten Forschungseinrichtung als "Benno Brutalheim" gipfelte.
Auch er konnte autistische Kinder nicht heilen, wie er behauptet hatte, und schlimmer noch, er hatte Kinder geschlagen, aus therapeutischen Gründen, wie Wohlmeinende zugaben, aber auch weil er zu Wutausbrüchen neigte, die er guruhaft rationalisierte. Reichen einige Ohrfeigen und einige in der Tat krasse Szenen in der Orthogenic School der Universität von Chicago, die er drei Jahrzehnte beherrschte und aus der er als Schriftsteller seine Beispiele bezog, wirklich hin, ein Leben und ein zu seiner Zeit wichtiges Werk zu diskreditieren?
Die englische Journalistin Nina Sutton begann ihre für lange Zeit wohl definitive Biographie 1990 mit dem Enthusiasmus der Verehrerin. Die Enthüllungen der "Affäre Bettelheim" im selben Jahr verwandelten sie fast ins Gegenteil. So ist ihr Buch etwas langsam und breit geraten, weil sie Freunden und Feinden, und natürlich ihrem umstrittenen Helden, Gerechtigkeit nur um den Preis widerfahren lassen konnte, auch Banalitäten und Tratsch gewissenhaft zu sezieren. Das allmähliche Verfertigen der Affäre in den Medien wird im Prolog beschrieben, das private Scheitern eines Ehemanns, Vaters von drei Kindern und eines verzweifelten Pensionärs füllt den Epilog.
Zwei Dinge haben dieses prototypische Leben bestimmt. Bettelheim, 1903 in eine wohlhabende Wiener Familie geboren, war Jude, und er war häßlich. Daß er Jude war, erfuhr er unmißverständlich, als er nach dem "Anschluß" Österreichs mit anderen Leidensgenossen verhaftet und nach Dachau gebracht wurde. Er gehörte zu den ersten, die aus keinem anderen Grund als dem der jüdischen Herkunft Opfer wurden.
Aber vielleicht gab es auch noch einen weiteren Grund, den Sutton recherchiert hat: Das florierende Familienunternehmen der Bettelheims wurde "arisiert" und just an den Bankangestellten "verkauft", der jahrelang ihre Geschäfte betreut hatte. Er führte es bis 1955 unangefochten weiter. Von Dachau kam Bettelheim nach einigen Monaten nach Buchenwald und von dort dank persönlicher Beziehungen zu einer amerikanischen Millionärin, deren krankes Kind das Ehepaar Bettelheim in Wien aufgenommen hatte, in letzter Minute 1939 nach New York. Mutter und Schwester und erste Ehefrau konnten sich ebenfalls vor dem Holocaust in die Vereinigten Staaten retten - die Spuren einer großen Verwandtschaft verlieren sich in Auschwitz.
Seine Erfahrungen in den Konzentrationslagern vor der Wannsee-Konferenz und den Vernichtungsbeschlüssen der Nazis, aber auch der Holocaust als solcher waren die ersten Themen - wenn man so sagen darf -, die Bettelheim produktiv machten. Er beschrieb, gerade gerettet, aus seiner persönlichen Erfahrung das Lager. Noch war niemand bereit, diesen Aufsatz zu veröffentlichen. Erst 1943 kam eine objektivierte Fassung zur Drucklegung und wurde nach 1945, auf Geheiß Eisenhowers, vervielfältigt und an amerikanische Offiziere in Europa verteilt.
Bettelheim hat seine Erfahrungen als KZ-Häftling und den Holocaust nicht anders denn manisch-aktivistisch, trotzig eben, interpretieren können - doch das entwertet seine Beobachtungen und Thesen keineswegs. Die Lagererfahrung habe ihm, so tönte er, dessen Psychoanalyse, durch die Emigration Richard Sterbas und die Zeitumstände 1938 bedingt, sehr kurz ausgefallen war, viel Umstände erspart. Das KZ als Psychotherapie?
Man weiß, daß neurotisches Elend in realen Katastrophen zumindest vorübergehend verschwinden kann. So war es wohl bei Bettelheim, dessen lebenslanger Hang zur Depression im Lager einem Überlebenswillen Platz machte, den er dann retrospektiv als Tatkraft und Mut bei seinen Leidensgenossen vermißte. Seine Kritik am Vater von Anne Frank, der seine Familie nicht mit Waffengewalt geschützt habe, seine These vom Ghettodenken, das die Juden handlungsunfähig und ihren Verfolgern das barbarische Handwerk leichtgemacht habe, stießen in den sechziger Jahren auf heftigen Widerspruch. Mit dem Abstand der Jahre kann man Bettelheims Versuch, seine und die Ohnmacht der Juden zu verleugnen, wohl mit mehr Verständnis begegnen.
Die Durchleuchtung von hoffnungslosen Extremsituationen hin auf Handlungspotentiale liegt auch seinem therapeutischen Konzept im Umgang mit schwer gestörten, manchmal autistischen Kindern zugrunde. Was im KZ die äußere, muß bei diesen Kindern als innere Realität unterstellt werden. Nicht nur dem Personal seiner Klinikschule, auch Eltern erlegte er in populären Schriften die Pflicht zu einer Empathie auf, die von Selbstaufopferung kaum noch zu unterscheiden ist. Er war der Pionier der seinerzeit wichtigen pädagogischen Hypothese, daß Kinder immer recht haben. Mit ihm und ihr endete unwiderruflich die Machtpädagogik der Erwachsenen. Biographien wie diese enthalten in der Regel auch einen Bildteil, der den Helden in kleinen und großen Momenten seines Lebens präsentiert. Hier müssen wir unsere Neugier mit einem Foto des alten Mannes auf dem Schutzumschlag befriedigen. Bei einem Mann, der sich selbst immer als häßlich erlebt, eine Dissertation zur Verteidigung des Naturschönen geschrieben und im Alltag den größten Wert auf ein ästhetisches Ambiente gelegt hat, mag man da kaum an einen Zufall glauben. "Gott sei Dank, es ist ein Junge," soll seine Mutter beim Anblick des Neugeborenen ausgerufen haben, und das, so behauptet Bettelheim, bezog sich auf nichts als auf sein abstoßendes Äußere.
Er kompensierte die fehlende Attraktivität mit großzügigen Geschenken, angeberischen Auftritten und unaufhörlichen Versuchen, wenigstens intellektuell zu verführen. Dabei versprach er oft mehr, als er halten konnte. Die Flucht in die Manie wurde ihm in Amerika leichtgemacht, meint seine Biographin. Denn dort investiere man nur in strahlende Sieger, und das dann recht kritiklos. Das "debunking" einer als Wissenschaftler und Psychoanalytiker überschätzten, als Pädagoge aber interessanten Figur begann mit seinem Tod. Bettelheim, das häßliche Kind, wußte am besten, daß er anders denn als stets absturzgefährdeter Hochstapler seiner selbst nicht durchs Leben kommen würde. Spuren hat er genug gelegt: Hat er nicht Vaihingers Philosophie des "Als ob" und Theodor Lessings "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen" als die wichtigsten Bücher seines Lebens benannt?
Nina Sutton: "Bruno Bettelheim". Auf dem Weg zur Seele des Kindes. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1996. 623 S., geb., 68,- DM.
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Bettelheim - Nina Suttons Biographie eines Elefanten ohne Weisheit / Von Katharina Rutschky
Die Leser seiner vielen erfolgreichen Bücher über den richtigen Umgang mit schwierigen Kindern hat Bruno Bettelheim mit seinem elenden Tod nicht nur erschüttert, sondern enttäuscht. Sein Selbstmord in einem Altersheim, unter Zuhilfenahme von Tabletten, Alkohol und einer über den Kopf gezogenen Plastiktüte, hat so gar nichts von dem Stoizismus Freuds gehabt, der sich sein Ende verabredet und vertrauensvoll von seinem Arzt Max Schur erleichtern lassen konnte. Bettelheim starb, wie er gelebt hatte, voller Wut, Trotz und einer Aggression, die er zuletzt nicht mehr gegen die Feinde des Lebens, sondern nur noch gegen sich selbst richten konnte.
Von Menschen, die als bewegende, ratgebende und mutmachende Schriftsteller das Leben so vieler beeinflußt haben, erwarten wir auch ein vorbildliches Sterben. Daß Bruno Bettelheim uns das nicht vormachen konnte, erklärt wenigstens zum Teil die Leidenschaft, mit der man sich nach seinem Tod über ihn, seine Fehler, seine Täuschungen und Illusionen hergemacht hat. Weil der große Mann, siebenundachtzigjährig, erfolgreich und weltberühmt, sich nicht lebenssatt und weise verabschieden konnte, fanden die Klagen und Beschwerden von ehemaligen Schülern, Patienten und Mitarbeitern ein schrilles Medienecho, das in der Apostrophierung seiner Person und der von ihm jahrzehntelang geleiteten Forschungseinrichtung als "Benno Brutalheim" gipfelte.
Auch er konnte autistische Kinder nicht heilen, wie er behauptet hatte, und schlimmer noch, er hatte Kinder geschlagen, aus therapeutischen Gründen, wie Wohlmeinende zugaben, aber auch weil er zu Wutausbrüchen neigte, die er guruhaft rationalisierte. Reichen einige Ohrfeigen und einige in der Tat krasse Szenen in der Orthogenic School der Universität von Chicago, die er drei Jahrzehnte beherrschte und aus der er als Schriftsteller seine Beispiele bezog, wirklich hin, ein Leben und ein zu seiner Zeit wichtiges Werk zu diskreditieren?
Die englische Journalistin Nina Sutton begann ihre für lange Zeit wohl definitive Biographie 1990 mit dem Enthusiasmus der Verehrerin. Die Enthüllungen der "Affäre Bettelheim" im selben Jahr verwandelten sie fast ins Gegenteil. So ist ihr Buch etwas langsam und breit geraten, weil sie Freunden und Feinden, und natürlich ihrem umstrittenen Helden, Gerechtigkeit nur um den Preis widerfahren lassen konnte, auch Banalitäten und Tratsch gewissenhaft zu sezieren. Das allmähliche Verfertigen der Affäre in den Medien wird im Prolog beschrieben, das private Scheitern eines Ehemanns, Vaters von drei Kindern und eines verzweifelten Pensionärs füllt den Epilog.
Zwei Dinge haben dieses prototypische Leben bestimmt. Bettelheim, 1903 in eine wohlhabende Wiener Familie geboren, war Jude, und er war häßlich. Daß er Jude war, erfuhr er unmißverständlich, als er nach dem "Anschluß" Österreichs mit anderen Leidensgenossen verhaftet und nach Dachau gebracht wurde. Er gehörte zu den ersten, die aus keinem anderen Grund als dem der jüdischen Herkunft Opfer wurden.
Aber vielleicht gab es auch noch einen weiteren Grund, den Sutton recherchiert hat: Das florierende Familienunternehmen der Bettelheims wurde "arisiert" und just an den Bankangestellten "verkauft", der jahrelang ihre Geschäfte betreut hatte. Er führte es bis 1955 unangefochten weiter. Von Dachau kam Bettelheim nach einigen Monaten nach Buchenwald und von dort dank persönlicher Beziehungen zu einer amerikanischen Millionärin, deren krankes Kind das Ehepaar Bettelheim in Wien aufgenommen hatte, in letzter Minute 1939 nach New York. Mutter und Schwester und erste Ehefrau konnten sich ebenfalls vor dem Holocaust in die Vereinigten Staaten retten - die Spuren einer großen Verwandtschaft verlieren sich in Auschwitz.
Seine Erfahrungen in den Konzentrationslagern vor der Wannsee-Konferenz und den Vernichtungsbeschlüssen der Nazis, aber auch der Holocaust als solcher waren die ersten Themen - wenn man so sagen darf -, die Bettelheim produktiv machten. Er beschrieb, gerade gerettet, aus seiner persönlichen Erfahrung das Lager. Noch war niemand bereit, diesen Aufsatz zu veröffentlichen. Erst 1943 kam eine objektivierte Fassung zur Drucklegung und wurde nach 1945, auf Geheiß Eisenhowers, vervielfältigt und an amerikanische Offiziere in Europa verteilt.
Bettelheim hat seine Erfahrungen als KZ-Häftling und den Holocaust nicht anders denn manisch-aktivistisch, trotzig eben, interpretieren können - doch das entwertet seine Beobachtungen und Thesen keineswegs. Die Lagererfahrung habe ihm, so tönte er, dessen Psychoanalyse, durch die Emigration Richard Sterbas und die Zeitumstände 1938 bedingt, sehr kurz ausgefallen war, viel Umstände erspart. Das KZ als Psychotherapie?
Man weiß, daß neurotisches Elend in realen Katastrophen zumindest vorübergehend verschwinden kann. So war es wohl bei Bettelheim, dessen lebenslanger Hang zur Depression im Lager einem Überlebenswillen Platz machte, den er dann retrospektiv als Tatkraft und Mut bei seinen Leidensgenossen vermißte. Seine Kritik am Vater von Anne Frank, der seine Familie nicht mit Waffengewalt geschützt habe, seine These vom Ghettodenken, das die Juden handlungsunfähig und ihren Verfolgern das barbarische Handwerk leichtgemacht habe, stießen in den sechziger Jahren auf heftigen Widerspruch. Mit dem Abstand der Jahre kann man Bettelheims Versuch, seine und die Ohnmacht der Juden zu verleugnen, wohl mit mehr Verständnis begegnen.
Die Durchleuchtung von hoffnungslosen Extremsituationen hin auf Handlungspotentiale liegt auch seinem therapeutischen Konzept im Umgang mit schwer gestörten, manchmal autistischen Kindern zugrunde. Was im KZ die äußere, muß bei diesen Kindern als innere Realität unterstellt werden. Nicht nur dem Personal seiner Klinikschule, auch Eltern erlegte er in populären Schriften die Pflicht zu einer Empathie auf, die von Selbstaufopferung kaum noch zu unterscheiden ist. Er war der Pionier der seinerzeit wichtigen pädagogischen Hypothese, daß Kinder immer recht haben. Mit ihm und ihr endete unwiderruflich die Machtpädagogik der Erwachsenen. Biographien wie diese enthalten in der Regel auch einen Bildteil, der den Helden in kleinen und großen Momenten seines Lebens präsentiert. Hier müssen wir unsere Neugier mit einem Foto des alten Mannes auf dem Schutzumschlag befriedigen. Bei einem Mann, der sich selbst immer als häßlich erlebt, eine Dissertation zur Verteidigung des Naturschönen geschrieben und im Alltag den größten Wert auf ein ästhetisches Ambiente gelegt hat, mag man da kaum an einen Zufall glauben. "Gott sei Dank, es ist ein Junge," soll seine Mutter beim Anblick des Neugeborenen ausgerufen haben, und das, so behauptet Bettelheim, bezog sich auf nichts als auf sein abstoßendes Äußere.
Er kompensierte die fehlende Attraktivität mit großzügigen Geschenken, angeberischen Auftritten und unaufhörlichen Versuchen, wenigstens intellektuell zu verführen. Dabei versprach er oft mehr, als er halten konnte. Die Flucht in die Manie wurde ihm in Amerika leichtgemacht, meint seine Biographin. Denn dort investiere man nur in strahlende Sieger, und das dann recht kritiklos. Das "debunking" einer als Wissenschaftler und Psychoanalytiker überschätzten, als Pädagoge aber interessanten Figur begann mit seinem Tod. Bettelheim, das häßliche Kind, wußte am besten, daß er anders denn als stets absturzgefährdeter Hochstapler seiner selbst nicht durchs Leben kommen würde. Spuren hat er genug gelegt: Hat er nicht Vaihingers Philosophie des "Als ob" und Theodor Lessings "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen" als die wichtigsten Bücher seines Lebens benannt?
Nina Sutton: "Bruno Bettelheim". Auf dem Weg zur Seele des Kindes. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1996. 623 S., geb., 68,- DM.
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