Varujan Vosganian breitet einen fein gewebten Teppich an Geschichten und Figuren vor uns aus. In Focsani, einer Provinzstadt in Rumänien, scheinen sich die Wege des aus seiner Heimat vertriebenen armenischen Volkes zu kreuzen: Da ist Sahag, der von seiner Mutter für einen Sack Mehl verkauft wurde, und Siruni, die von den Russen nach Sibirien deportiert wurde. Und da ist Großvater Garabet, der weise die Fäden dieser so wunder- wie grausamen Saga zusammenhält. Eine fremde und ferne Welt, voll von phantastischen Geschichten und von tragischer Geschichte - das Schicksal des Volkes von Armenien als epochaler Roman.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein "Jahrhundertbuch!" jubelt Rezensentin Sabine Berking nach der Lektüre von Varujan Vosganians "Buch des Flüsterns". Auch wenn der Autor vor allem als umstrittener neoliberaler und rechtspopulistischer Politiker Rumäniens bekannt ist, wird dieses Buch in die Literaturgeschichte eingehen, versichert die Kritikerin. Poetisch und zugleich "präzis-lakonisch" erzähle Vosganian die grausame und erschütternde Geschichte der Armenier. Die Rezensentin liest etwa vom Schicksal Hartin Fringhians, der in Rumänien ein großes Zuckerimperium aufbaute, auf dessen Grundstück er nach der sowjetischen Verstaatlichung gerade noch Walnüsse sammeln durfte, um sich einen knappen Lebensunterhalt zu sichern. Viele derartige historisch reale und literarisch erdachte Schicksale liest Berking hier und erhält auf diese Weise nicht nur tiefe Einblicke in die leidvolle Geschichte Armeniens, beginnend mit den Massakern von Trapezunt bis zu der Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, sondern erfährt auch von fast vergessenem Unrecht, etwa von der von den Sowjets organisierten zweifelhaften Repatriierung Tausender Armenier. Dass diese in "orientalisch-patriarchalischen" Episoden erzählten tragischen Geschichten nun von Ernest Wichner exzellent und feinfühlig übersetzt wurden, ist ein großes Glück, findet die Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2013Einer bleibt, der von Leid und Vergeltung erzählt
Nach Franz Werfel schreibt der in Rumänien umstrittene Politiker Varujan Vosganian mit dem "Buch des Flüsterns" die Geschichte der Armenier fort
General Dro, mit bürgerlichem Namen Drastamat Kanayan, sucht man vergeblich in der deutschsprachigen Wikipedia, was verwundert, denn das Schicksal des militärischen Haudegens war aufs engste mit dem deutschen verstrickt. In der kurzen Zeit der Unabhängigkeit Armeniens von 1918 bis 1920 Verteidigungsminister seines Landes, floh er nach dem Machtantritt der Sowjets ins Exil nach Rumänien. Seine Frau und sein Sohn wurden von den Bolschewiken "als Pfand" in ein Lager deportiert. Während des Zweiten Weltkrieges stellte er trotz seiner Erfahrung eines Völkermords vor dem Holocaust eine Wehrmachtslegion vor allem aus sowjetischen Kriegsgefangenen armenischer Herkunft zusammen.
Der General hatte geglaubt, dass die Deutschen nach einem "Endsieg" die Souveränität des in den Verträgen von Lausanne zugunsten der Türkei geopferten Armeniens garantieren würden. Ähnlich wie im Falle des Ukrainers Stepan Bandera ging diese Rechnung nicht auf. Mehr noch: Nach dem Krieg rächten sich die Sowjets aufs grausamste an tatsächlichen und vermeintlichen armenischen Kollaborateuren, die sie in Güterwaggons nach Sibirien verbrachten oder gleich an Ort und Stelle ermordeten. Halb Rumänen kämmten sie auf der Suche nach dem General durch. Vergeblich. Er hatte sich in den Libanon abgesetzt und starb 1956 in den Vereinigten Staaten. Seine sterblichen Überreste wurden vor einigen Jahren in seine nun unabhängige Heimat überführt, wo dem nicht unumstrittenen Nationalhelden ein eindrucksvolles Mausoleum errichtet wurde.
Hartin Fringhians Kämpfernatur war anderer Art. Der Einberufung ins osmanische Heer konnte sich der junge Mann aus dem ostanatolischen Erzurum entziehen, indem er in Konstantinopel unter falschem griechischen Namen ein Schiff nach Constanta bestieg. Wenig später war der Weg zurück versperrt. Von den zweihunderttausend Armeniern Erzurums hatte kaum einer überlebt. In Rumänien brachte es der tüchtige Kaufmann zu Reichtum, baute ein Zuckerimperium auf und gleich dazu die Häuser für seine Arbeiter. Er legte nahe seiner Fabrik einen Obstgarten an und bedachte seine Angestellten, da er kinderlos und unverheiratet geblieben war, in einem minutiös ausgefertigten Testament. Sie sollten die Fabrik erben.
Doch auch er hatte die Rechnung ohne den sowjetischen Wirt gemacht, der nach dem Krieg sein Eigentum verstaatlichte. In letzter Minute floh der Zuckerkönig in die Berge, wo sein edler Anzug bei der Arbeit als Schafhirt langsam zerschliss. Ohne dieses Versteck hätten ihn die Kommunisten als Klassenfeind ins Arbeitslager deportiert oder erschossen. Nach Stalins Tod kehrte er noch einmal in seine Fabrik und seinen Obstgarten zurück, wo der einstige Unternehmer unter den erstaunten Augen seiner einstigen Arbeiter Walnüsse einsammelte. Aus diesen fabrizierte er Salzkekse, von deren Verkauf der verarmte Alte seine letzten Lebensjahre mehr schlecht als recht bestreiten konnte.
Dutzende solcher Schicksale aus dem blutigen zwanzigsten Jahrhundert begegnen dem Leser in den Erzählungen von Großvater Garabet. Sein Enkel belauscht sie im Hof des alten Mannes in der rumänischen Provinzstadt Fosçani und spinnt als Alter Ego des Autors daraus den Stoff für einen atemberaubenden Roman. Angesichts der beengten politischen Verhältnisse und der fragilen gesellschaftlichen Position der Akteure als Angehörige einer auch noch im Kommunismus misstrauisch beargwöhnten Minderheit wurden die Geschichten mit ihren oft grausamen Details nur flüsternd wieder- und weitergegeben.
Die historisch realen und literarisch erdachten Protagonisten sind Armenier, denen es nicht selten als Einzigen ihrer Familien gelungen war, dem 1915 durch die Jungtürken initiierten Genozid an ihrem Volk zu entkommen. Ein Leben lang trugen sie an der Schuld, überlebt zu haben, wie Sahag Seitanian, der mit seinen Eltern und seiner Schwester durch das Martyrium der Todesmärsche in die syrische Wüste getrieben wurde. Er kam davon, weil ihn seine Mutter im letzten Kreis der Hölle Beduinen zur Sklavenarbeit übergeben hatte. Irgendwann konnte er fliehen und sich nach Rumänien retten. Hier wird er noch Jahrzehnte später heimgesucht von den Stimmen und Bildern der Verhungerten und Ermordeten.
Mit seiner poetischen, präzis-lakonischen Sprache, kongenial und einfühlsam von Ernest Wichner ins Deutsche gebracht, ist dies wahrlich ein Jahrhundertbuch. Sein Autor, Varujan Vosganian, ein studierter Mathematiker und promovierter Volkswirt, gilt als Politiker im heutigen Rumänien als höchst umstritten. 1958 im rumänischen Craiova in einer armenischen Familie geboren, ist er derzeit Minister für Handel und Industrie seines Landes. Wegen seiner neoliberalen und rechtskonservativen Positionen, etwa der nach einem staatlichen Anschluss Moldaus an Rumänien, wird er heftig kritisiert. Eine Kandidatur als Vertreter Rumäniens in der Europäischen Kommission scheiterte.
Dessen ungeachtet erntete er für seinen Roman, der in mehreren europäischen Sprachen vorliegt, zu Recht Anerkennung. Die Handlung beginnt mit den Massakern in Trapezunt, dem heutigen Trabzon, im Jahr 1895/96 und endet mit der Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink durch einen aus Trabzon stammenden Attentäter. Dazwischen zieht sich das Schicksal des armenischen Widerstandes wie ein roter Faden durch die Handlung. Nach den nie vollstreckten Urteilen an den türkischen Drahtziehern des Genozids hatte es eine Untergrundgruppe auf sich genommen, das den Armeniern zugefügte Unrecht durch gezielte Attentate im Rahmen der Operation Nemesis zu rächen. Der Roman ist somit nicht nur einer über die ungeheuren Leiden, sondern auch über die Widerstandskraft dieses kleinen Volkes und dürfte neben Franz Werfels "Vierzig Tage des Musa Dagh" in die Literaturgeschichte eingehen.
Die zahlreichen episodisch aufgebauten - oft orientalisch-patriarchalischen - Erzählungen geben Einblick in tragische und tragikomische Verstrickungen der Menschen in die totalitären Systeme des vergangenen Jahrhunderts. Während die einen, wie Hatin Fringhian, mit Glück und Chuzpe den brutalen Ideologien und ihren Vollstreckern widerstanden oder sie, wenn auch mit Blessuren, zumindest überlebten, liefen andere im Gleichschritt der Mächtigen, wie jener Armenier, der sich als Chef der Securitate in Constanta am Angstschweiß seiner Opfer berauschen konnte. Die Leistung des Buches besteht auch darin, fast vergessenes Unrecht literarisch zu dokumentieren, wie die unter der Regie der Sowjets nach dem Krieg organisierte höchst zweifelhafte Repatriierung Tausender Armenier in die sowjetische Föderalrepublik, eine Heim-ins-Reich Aktion, bei der die Rückkehrer meist vom Regen in die Traufe kamen. Viele landeten wenig später als verdächtige Nationalisten und angebliche Spione in sibirischen Arbeitslagern.
Es sei vorbei, hatte der Großvater auf seinem Totenbett geflüstert, bevor man ihm die zerfledderte Kladde mit der Dokumentation der Operation Nemesis in den Sarg legte. Doch hier irrte der sonst so weise Alte. Der Genozid existiert als offene Wunde nicht nur im Gedächtnis der in alle Welt verstreuten Armenier bis in unsere Tage fort. Im Istanbuler Gezi Park stieß man bei Bauarbeiten auf Grabsteine des größten armenischen Friedhofs der Stadt, der 1939 endgültig zerstört wurde. Keine Gedenktafel erinnert daran. Und gegen die in Genf in der Nähe des Quartiers der Vereinten Nationen für 2014 geplante Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Armenier - Laternen, die Tränen gleichen - laufen türkische Stellen Sturm.
SABINE BERKING.
Varujan Vosganian: "Buch des Flüsterns".
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013. 510 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach Franz Werfel schreibt der in Rumänien umstrittene Politiker Varujan Vosganian mit dem "Buch des Flüsterns" die Geschichte der Armenier fort
General Dro, mit bürgerlichem Namen Drastamat Kanayan, sucht man vergeblich in der deutschsprachigen Wikipedia, was verwundert, denn das Schicksal des militärischen Haudegens war aufs engste mit dem deutschen verstrickt. In der kurzen Zeit der Unabhängigkeit Armeniens von 1918 bis 1920 Verteidigungsminister seines Landes, floh er nach dem Machtantritt der Sowjets ins Exil nach Rumänien. Seine Frau und sein Sohn wurden von den Bolschewiken "als Pfand" in ein Lager deportiert. Während des Zweiten Weltkrieges stellte er trotz seiner Erfahrung eines Völkermords vor dem Holocaust eine Wehrmachtslegion vor allem aus sowjetischen Kriegsgefangenen armenischer Herkunft zusammen.
Der General hatte geglaubt, dass die Deutschen nach einem "Endsieg" die Souveränität des in den Verträgen von Lausanne zugunsten der Türkei geopferten Armeniens garantieren würden. Ähnlich wie im Falle des Ukrainers Stepan Bandera ging diese Rechnung nicht auf. Mehr noch: Nach dem Krieg rächten sich die Sowjets aufs grausamste an tatsächlichen und vermeintlichen armenischen Kollaborateuren, die sie in Güterwaggons nach Sibirien verbrachten oder gleich an Ort und Stelle ermordeten. Halb Rumänen kämmten sie auf der Suche nach dem General durch. Vergeblich. Er hatte sich in den Libanon abgesetzt und starb 1956 in den Vereinigten Staaten. Seine sterblichen Überreste wurden vor einigen Jahren in seine nun unabhängige Heimat überführt, wo dem nicht unumstrittenen Nationalhelden ein eindrucksvolles Mausoleum errichtet wurde.
Hartin Fringhians Kämpfernatur war anderer Art. Der Einberufung ins osmanische Heer konnte sich der junge Mann aus dem ostanatolischen Erzurum entziehen, indem er in Konstantinopel unter falschem griechischen Namen ein Schiff nach Constanta bestieg. Wenig später war der Weg zurück versperrt. Von den zweihunderttausend Armeniern Erzurums hatte kaum einer überlebt. In Rumänien brachte es der tüchtige Kaufmann zu Reichtum, baute ein Zuckerimperium auf und gleich dazu die Häuser für seine Arbeiter. Er legte nahe seiner Fabrik einen Obstgarten an und bedachte seine Angestellten, da er kinderlos und unverheiratet geblieben war, in einem minutiös ausgefertigten Testament. Sie sollten die Fabrik erben.
Doch auch er hatte die Rechnung ohne den sowjetischen Wirt gemacht, der nach dem Krieg sein Eigentum verstaatlichte. In letzter Minute floh der Zuckerkönig in die Berge, wo sein edler Anzug bei der Arbeit als Schafhirt langsam zerschliss. Ohne dieses Versteck hätten ihn die Kommunisten als Klassenfeind ins Arbeitslager deportiert oder erschossen. Nach Stalins Tod kehrte er noch einmal in seine Fabrik und seinen Obstgarten zurück, wo der einstige Unternehmer unter den erstaunten Augen seiner einstigen Arbeiter Walnüsse einsammelte. Aus diesen fabrizierte er Salzkekse, von deren Verkauf der verarmte Alte seine letzten Lebensjahre mehr schlecht als recht bestreiten konnte.
Dutzende solcher Schicksale aus dem blutigen zwanzigsten Jahrhundert begegnen dem Leser in den Erzählungen von Großvater Garabet. Sein Enkel belauscht sie im Hof des alten Mannes in der rumänischen Provinzstadt Fosçani und spinnt als Alter Ego des Autors daraus den Stoff für einen atemberaubenden Roman. Angesichts der beengten politischen Verhältnisse und der fragilen gesellschaftlichen Position der Akteure als Angehörige einer auch noch im Kommunismus misstrauisch beargwöhnten Minderheit wurden die Geschichten mit ihren oft grausamen Details nur flüsternd wieder- und weitergegeben.
Die historisch realen und literarisch erdachten Protagonisten sind Armenier, denen es nicht selten als Einzigen ihrer Familien gelungen war, dem 1915 durch die Jungtürken initiierten Genozid an ihrem Volk zu entkommen. Ein Leben lang trugen sie an der Schuld, überlebt zu haben, wie Sahag Seitanian, der mit seinen Eltern und seiner Schwester durch das Martyrium der Todesmärsche in die syrische Wüste getrieben wurde. Er kam davon, weil ihn seine Mutter im letzten Kreis der Hölle Beduinen zur Sklavenarbeit übergeben hatte. Irgendwann konnte er fliehen und sich nach Rumänien retten. Hier wird er noch Jahrzehnte später heimgesucht von den Stimmen und Bildern der Verhungerten und Ermordeten.
Mit seiner poetischen, präzis-lakonischen Sprache, kongenial und einfühlsam von Ernest Wichner ins Deutsche gebracht, ist dies wahrlich ein Jahrhundertbuch. Sein Autor, Varujan Vosganian, ein studierter Mathematiker und promovierter Volkswirt, gilt als Politiker im heutigen Rumänien als höchst umstritten. 1958 im rumänischen Craiova in einer armenischen Familie geboren, ist er derzeit Minister für Handel und Industrie seines Landes. Wegen seiner neoliberalen und rechtskonservativen Positionen, etwa der nach einem staatlichen Anschluss Moldaus an Rumänien, wird er heftig kritisiert. Eine Kandidatur als Vertreter Rumäniens in der Europäischen Kommission scheiterte.
Dessen ungeachtet erntete er für seinen Roman, der in mehreren europäischen Sprachen vorliegt, zu Recht Anerkennung. Die Handlung beginnt mit den Massakern in Trapezunt, dem heutigen Trabzon, im Jahr 1895/96 und endet mit der Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink durch einen aus Trabzon stammenden Attentäter. Dazwischen zieht sich das Schicksal des armenischen Widerstandes wie ein roter Faden durch die Handlung. Nach den nie vollstreckten Urteilen an den türkischen Drahtziehern des Genozids hatte es eine Untergrundgruppe auf sich genommen, das den Armeniern zugefügte Unrecht durch gezielte Attentate im Rahmen der Operation Nemesis zu rächen. Der Roman ist somit nicht nur einer über die ungeheuren Leiden, sondern auch über die Widerstandskraft dieses kleinen Volkes und dürfte neben Franz Werfels "Vierzig Tage des Musa Dagh" in die Literaturgeschichte eingehen.
Die zahlreichen episodisch aufgebauten - oft orientalisch-patriarchalischen - Erzählungen geben Einblick in tragische und tragikomische Verstrickungen der Menschen in die totalitären Systeme des vergangenen Jahrhunderts. Während die einen, wie Hatin Fringhian, mit Glück und Chuzpe den brutalen Ideologien und ihren Vollstreckern widerstanden oder sie, wenn auch mit Blessuren, zumindest überlebten, liefen andere im Gleichschritt der Mächtigen, wie jener Armenier, der sich als Chef der Securitate in Constanta am Angstschweiß seiner Opfer berauschen konnte. Die Leistung des Buches besteht auch darin, fast vergessenes Unrecht literarisch zu dokumentieren, wie die unter der Regie der Sowjets nach dem Krieg organisierte höchst zweifelhafte Repatriierung Tausender Armenier in die sowjetische Föderalrepublik, eine Heim-ins-Reich Aktion, bei der die Rückkehrer meist vom Regen in die Traufe kamen. Viele landeten wenig später als verdächtige Nationalisten und angebliche Spione in sibirischen Arbeitslagern.
Es sei vorbei, hatte der Großvater auf seinem Totenbett geflüstert, bevor man ihm die zerfledderte Kladde mit der Dokumentation der Operation Nemesis in den Sarg legte. Doch hier irrte der sonst so weise Alte. Der Genozid existiert als offene Wunde nicht nur im Gedächtnis der in alle Welt verstreuten Armenier bis in unsere Tage fort. Im Istanbuler Gezi Park stieß man bei Bauarbeiten auf Grabsteine des größten armenischen Friedhofs der Stadt, der 1939 endgültig zerstört wurde. Keine Gedenktafel erinnert daran. Und gegen die in Genf in der Nähe des Quartiers der Vereinten Nationen für 2014 geplante Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Armenier - Laternen, die Tränen gleichen - laufen türkische Stellen Sturm.
SABINE BERKING.
Varujan Vosganian: "Buch des Flüsterns".
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2013. 510 S., geb., 26,- [Euro].
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"Trotz oder gerade wegen seiner Nüchternheit mutet der Text ergreifend an. Vosganian schockiert durch den trockenen Realismus seiner Schilderungen. Klischees vermeidet er bravourös." Ulf Heise, MDR Figaro, 23.04.15 "Ein Füllhorn eindrucksvoller Figuren und bald wundersamer, bald komischer, oft aber auch grausamster Geschichten. ... Ein außerordentliches, vom tragischen Sinn der Historie beherrschtes Fresko." Jan Koneffke, Neue Zürcher Zeitung, 24.08.13 "Ein literarisches Werk erster Güte, eine Art von Gegen-Geschichtsschreibung, in der nicht nur die grausamen Fakten aufgerollt, sondern auch die Träume, die Illusionen, die glücklichen Momente derer aufgehoben sind, die dem großen Schlachten entkamen und, versehrt in der Seele, weiterlebten." Karl-Markus Gauß, Süddeutsche Zeitung, 08.10.13 "Mit seiner poetischen, präzis-lakonischen Sprache, kongenial und einfühlsam von Ernest Wichner ins Deutsche gebracht, ist dies wahrlich ein Jahrhundertbuch. ... Der Roman ... dürfte neben Franz Werfels "Vierzig Tage des Musa Dagh" in die Literaturgeschichte eingehen." Sabine Berking, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10.13 "Eine Art südosteuropäisches Gegenstück zu Gabriel García Márquez' 'Hundert Jahre Einsamkeit'." Der Spiegel, 30.12.13