Ein junger Journalist versucht inmitten der Unruhen um den Istanbuler Gezi-Park die Erwartungen seiner Mutter abzuschütteln, die nach dem Mauerfall 1989 das Reisefieber gepackt hat. Ein Wanderer geht während eines Schneesturms in den uralten verwunschenen Wäldern des Engadin verloren. Ein kleines Mädchen wird zum nächsten Venusdurchgang von der Großmutter ans Ende der Welt geflogen. Wohin ihre Spuren führen, ist eines der vielen Rätsel dieser Geschichten. Ulrike Almut Sandig beschreibt mit ihrer farbigen und poetischen Sprache nur scheinbar vergangene Orte. In Wirklichkeit leben sie in den Biografien der Älteren und den Lebensentwürfen der jungen Generation fort. Beziehungen werden von den Stürmen der Geschichte durchweht und trügerische Gewissheiten geraten ins Wanken. In ihrem neuen Buch bietet Ulrike Almut Sandig den Zauber des Erzählens gegen das Verschwinden ganzer Welten aus dem Bewusstsein auf.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.04.2015Hej, ich hab was für dich
Ulrike Almut Sandigs romantisch-gegenwärtiges „Buch gegen das Verschwinden“
besteht aus lauter Geschichten, an denen man sich auf beglückende Art schwindelig lesen kann
VON INA HARTWIG
Bei manchen Büchern entscheidet sich schon auf der ersten Seite, ob sie einen erwischen; andere muss man erst bis zum Ende lesen, bevor ihr Rätsel sich erschließt. Ulrike Almut Sandigs „Buch gegen das Verschwinden“ ein Rätsel zu nennen, ist gewiss angebracht. Und doch gehört dieser zweite Prosaband der 1979 geborenen Autorin zur ersten Sorte: Hier ist gleich klar, dass eine Könnerin schreibt, die ihre Satzmelodien ganz leicht anzuschrägen versteht.
„Geschichten“ nennt der Verlag die Texte, nicht Erzählungen. Auch nicht Storys. Eine ambivalente Gattungsbezeichnung mit einem altertümlichen Hallraum; Geschichten schließen beides ein, Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Und wie das so heute ist, man googelt und denkt sich: Sieh an, die Autorin entstammt einem ostdeutschen Pfarrhaus, was noch nichts heißen muss, aber wenn sie ihre „Geschichten“ anordnet wie die sieben Tage der Schöpfungsgeschichte, dann vielleicht doch?
Fünf längere Texte lesen wir in diesem „Buch gegen das Verschwinden“. Eingefasst werden sie von einem kleinen, opaken Prosastück über das Jahr 2117 – genau: über den 11. Dezember jenes Jahres, an dem die Venus wieder als blinder Fleck vor der Sonne vorüberziehen wird. (Das letzte Mal tat sie das im Juni 2012.) Und beendet wird das Buch von einem Schlusskapitel voller Fußnoten, das die Autorin „Sonntag“ nennt. Das ist der Tag, an dem in den evangelischen Pfarrhäusern auf Ruhe gehalten wird, während die Kirchenglocken läuten. Wohingegen das titellose Einleitungsstück keineswegs die Arbeit des Montags übernimmt, um Himmel und Erde zu schaffen. Nein, von einem „Sonnabend“ in ferner Zukunft ist am Anfang die Rede: „am elften Dezember 2117 bist du nicht mehr da, und ich bin auch nicht mehr da, und das Kind, das in meinem Bauch wächst, es ist auch gar nicht mehr da.“
Rätsel total. Man wird das erst verstehen, wenn man bei der fünften Geschichte angekommen ist. Sie heißt „Über unsere Abwesenheit“ und spielt in exakt jenem Jahr 2117. Eine Großmutter – ein bisschen Futurismus muss sein – spricht in ihre Hand, die zugleich ein Aufnahmegerät ist, denn es wurde ihr ein Chip eingepflanzt. Weil sie aber vergessen hat, ob in die rechte oder die linke Hand, kann sie sich nicht sicher sein, dass ihr Reisebericht vom anderen Ende der Welt ihren Sohn erreicht. Der will endlich einmal allein sein, also ist die Oma mit der Enkelin nach Notonesien gereist (gegründet 2062), wo den beiden allerhand Abenteuer widerfahren, unter anderem dies: Die Venus zieht als „fast unsichtbarer, pechschwarzer Punkt“ über die Sonne. So stand es am Anfang – „im Anfang“, mit Johannes gesagt – und jetzt wird es wahr. Ewigkeit, Textgläubigkeit und Zukunft gehen, ohne dass es aufdringlich wäre, eine kühne Verbindung ein bei Ulrike Almut Sandig.
Auch die „Geburtstagsgeschichte“ steht auf doppeltem Textboden. Man liest zunächst die Erzählung eines Mannes, den seine Frau verlässt, sodass das gemeinsame Kind fortan zwischen zwei Wohnungen pendelt. Die neue Wohnung des Vaters unterm Dach ist ausgestattet mit einer „barrierefreien Dusche“, denn, wie allmählich klar wird, handelt es sich um einen, der „einmal jemand ganz anderes gewesen war, nicht einmal ich konnte das glauben, dabei hätte ich jede Menge Zeugen gehabt, sogar Pjotr“. Dieser Pjotr ist der Bruder des Erzählers, ein Sportreporter und ständig unterwegs in aller Welt. Zum Geburtstag des gehandicapten Bruders kommt er nicht vorbei, schickt stattdessen eine Mail: „hej, ich hab was für dich. es ist eine wahre geschichte. kein boulevard, kein sportredaktionsgequatsche, verstehst du? ich muss dir etwas erzählen, das mir passiert ist und mit dir zu tun hat.“
Die angekündigte Geschichte wird kunstvoll verzögert, bis sie schließlich als seitenlange Fußnote im Abschnitt „Sonntag“ zu lesen steht: Die Autorin taucht ab in die surrealen Windungen der DDR-Historie, in der unter ständig wechselnden Namen, einer davon ist Pjotr, ein späterer Verleger in der perfekten Maskerade eines weltweit agierenden Fußballreporters die Behörden foppt, dass es eine Freude ist. Erst als er über einen erstklassigen einbeinigen (!) Fußballspieler aus Liberia berichtet, kommt bei seinen Auftraggebern der Hauch eines Zweifels auf – tja, und einbeinig ist auch der Ich-Erzähler der „Geburtstagsgeschichte“. Als dieser seinem Bruder Pjotr, oder Pete, oder Pietro – er wechselt ebenfalls ständig den Namen - eine Mail schickt, wird sie als elektronischer Dämon retourniert: „Ich stellte mir den Mailerdämon als gesichtslosen Nachtmahr aus einem meiner seltenen Albträume vor. Ein Nachtmahr mit der Seele eines defekten Uhrwerks, der mir schwer auf der Brust saß und sich so lange um die eigene Achse drehte, bis mir schwindelte.“
Ja, zum Schwindeligwerden ist dieses auf gegenwärtige Weise romantische Buch voller unlösbarer Rätsel, und gerade das macht es so schön. Nein, nicht nur schön. Auch melancholisch, böse, rührend sind diese Geschichten vom Verschwinden, die sich „gegen das Verschwinden“ richten. Was aber verschwindet eigentlich? Alles, könnte man sagen: Ein Kind verschwindet, fast; das Gespräch verschwindet durch Kommunikation; eine Ehefrau verschwindet nach einem langen, geteilten Leben; ein Archiv verschwindet in den Tiefen einer Stadt; ein Wanderer verschwindet im Schnee, und einmal verschwindet sogar ein Geschlecht für ein anderes, neues. Die alte Heimat ist längst verschwunden, wie Gewohnheiten und Freundschaften.
Es ist faszinierend, wie die Autorin, die neben Prosa auch Lyrik schreibt, die Mikroneurosen gegenwärtiger Bastelfamilien, deren psychische Kollateralschäden sie genau erfasst, kombiniert mit einem erdgeschichtlichen Sinn für Landschaften und Naturgewalt. Überhaupt Gewalt: der Auftritt einer vandalierenden Affenhorde ist so eindringlich geschildert wie der Schneesturm im Unterengadin; wie der Tod einer geliebten Person und die darauf folgende Einsamkeit.
Ulrike Almut Sandig verfügt über eine erstaunliche Sprache und hat, wie es aussieht, den Menschen ziemlich tief in die Seele geschaut. Doch ist es der schöpfungsgeschichtliche Subtext, der ihrem „Buch gegen das Verschwinden“ das überzeitliche Surplus verleiht. Lesend fühlt man sich immer leicht neben der Spur. Das ist ein gutes, komplexes Gefühl.
Das Rätsel löst sich erst,
wenn man beim fünften Text
angekommen ist
Diese erstaunliche Autorin
hat den Menschen ziemlich tief
in die Seele geblickt
Dass Ulrike Almut Sandig aus einem ostdeutschen Pfarrhaus stammt, muss nichts heißen. Oder doch?
Foto: L. Rauch/Schöffling
Ulrike Almut Sandig: Buch gegen das Verschwinden. Geschichten. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 208 Seiten,
18,95 Euro. E-Book
14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ulrike Almut Sandigs romantisch-gegenwärtiges „Buch gegen das Verschwinden“
besteht aus lauter Geschichten, an denen man sich auf beglückende Art schwindelig lesen kann
VON INA HARTWIG
Bei manchen Büchern entscheidet sich schon auf der ersten Seite, ob sie einen erwischen; andere muss man erst bis zum Ende lesen, bevor ihr Rätsel sich erschließt. Ulrike Almut Sandigs „Buch gegen das Verschwinden“ ein Rätsel zu nennen, ist gewiss angebracht. Und doch gehört dieser zweite Prosaband der 1979 geborenen Autorin zur ersten Sorte: Hier ist gleich klar, dass eine Könnerin schreibt, die ihre Satzmelodien ganz leicht anzuschrägen versteht.
„Geschichten“ nennt der Verlag die Texte, nicht Erzählungen. Auch nicht Storys. Eine ambivalente Gattungsbezeichnung mit einem altertümlichen Hallraum; Geschichten schließen beides ein, Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Und wie das so heute ist, man googelt und denkt sich: Sieh an, die Autorin entstammt einem ostdeutschen Pfarrhaus, was noch nichts heißen muss, aber wenn sie ihre „Geschichten“ anordnet wie die sieben Tage der Schöpfungsgeschichte, dann vielleicht doch?
Fünf längere Texte lesen wir in diesem „Buch gegen das Verschwinden“. Eingefasst werden sie von einem kleinen, opaken Prosastück über das Jahr 2117 – genau: über den 11. Dezember jenes Jahres, an dem die Venus wieder als blinder Fleck vor der Sonne vorüberziehen wird. (Das letzte Mal tat sie das im Juni 2012.) Und beendet wird das Buch von einem Schlusskapitel voller Fußnoten, das die Autorin „Sonntag“ nennt. Das ist der Tag, an dem in den evangelischen Pfarrhäusern auf Ruhe gehalten wird, während die Kirchenglocken läuten. Wohingegen das titellose Einleitungsstück keineswegs die Arbeit des Montags übernimmt, um Himmel und Erde zu schaffen. Nein, von einem „Sonnabend“ in ferner Zukunft ist am Anfang die Rede: „am elften Dezember 2117 bist du nicht mehr da, und ich bin auch nicht mehr da, und das Kind, das in meinem Bauch wächst, es ist auch gar nicht mehr da.“
Rätsel total. Man wird das erst verstehen, wenn man bei der fünften Geschichte angekommen ist. Sie heißt „Über unsere Abwesenheit“ und spielt in exakt jenem Jahr 2117. Eine Großmutter – ein bisschen Futurismus muss sein – spricht in ihre Hand, die zugleich ein Aufnahmegerät ist, denn es wurde ihr ein Chip eingepflanzt. Weil sie aber vergessen hat, ob in die rechte oder die linke Hand, kann sie sich nicht sicher sein, dass ihr Reisebericht vom anderen Ende der Welt ihren Sohn erreicht. Der will endlich einmal allein sein, also ist die Oma mit der Enkelin nach Notonesien gereist (gegründet 2062), wo den beiden allerhand Abenteuer widerfahren, unter anderem dies: Die Venus zieht als „fast unsichtbarer, pechschwarzer Punkt“ über die Sonne. So stand es am Anfang – „im Anfang“, mit Johannes gesagt – und jetzt wird es wahr. Ewigkeit, Textgläubigkeit und Zukunft gehen, ohne dass es aufdringlich wäre, eine kühne Verbindung ein bei Ulrike Almut Sandig.
Auch die „Geburtstagsgeschichte“ steht auf doppeltem Textboden. Man liest zunächst die Erzählung eines Mannes, den seine Frau verlässt, sodass das gemeinsame Kind fortan zwischen zwei Wohnungen pendelt. Die neue Wohnung des Vaters unterm Dach ist ausgestattet mit einer „barrierefreien Dusche“, denn, wie allmählich klar wird, handelt es sich um einen, der „einmal jemand ganz anderes gewesen war, nicht einmal ich konnte das glauben, dabei hätte ich jede Menge Zeugen gehabt, sogar Pjotr“. Dieser Pjotr ist der Bruder des Erzählers, ein Sportreporter und ständig unterwegs in aller Welt. Zum Geburtstag des gehandicapten Bruders kommt er nicht vorbei, schickt stattdessen eine Mail: „hej, ich hab was für dich. es ist eine wahre geschichte. kein boulevard, kein sportredaktionsgequatsche, verstehst du? ich muss dir etwas erzählen, das mir passiert ist und mit dir zu tun hat.“
Die angekündigte Geschichte wird kunstvoll verzögert, bis sie schließlich als seitenlange Fußnote im Abschnitt „Sonntag“ zu lesen steht: Die Autorin taucht ab in die surrealen Windungen der DDR-Historie, in der unter ständig wechselnden Namen, einer davon ist Pjotr, ein späterer Verleger in der perfekten Maskerade eines weltweit agierenden Fußballreporters die Behörden foppt, dass es eine Freude ist. Erst als er über einen erstklassigen einbeinigen (!) Fußballspieler aus Liberia berichtet, kommt bei seinen Auftraggebern der Hauch eines Zweifels auf – tja, und einbeinig ist auch der Ich-Erzähler der „Geburtstagsgeschichte“. Als dieser seinem Bruder Pjotr, oder Pete, oder Pietro – er wechselt ebenfalls ständig den Namen - eine Mail schickt, wird sie als elektronischer Dämon retourniert: „Ich stellte mir den Mailerdämon als gesichtslosen Nachtmahr aus einem meiner seltenen Albträume vor. Ein Nachtmahr mit der Seele eines defekten Uhrwerks, der mir schwer auf der Brust saß und sich so lange um die eigene Achse drehte, bis mir schwindelte.“
Ja, zum Schwindeligwerden ist dieses auf gegenwärtige Weise romantische Buch voller unlösbarer Rätsel, und gerade das macht es so schön. Nein, nicht nur schön. Auch melancholisch, böse, rührend sind diese Geschichten vom Verschwinden, die sich „gegen das Verschwinden“ richten. Was aber verschwindet eigentlich? Alles, könnte man sagen: Ein Kind verschwindet, fast; das Gespräch verschwindet durch Kommunikation; eine Ehefrau verschwindet nach einem langen, geteilten Leben; ein Archiv verschwindet in den Tiefen einer Stadt; ein Wanderer verschwindet im Schnee, und einmal verschwindet sogar ein Geschlecht für ein anderes, neues. Die alte Heimat ist längst verschwunden, wie Gewohnheiten und Freundschaften.
Es ist faszinierend, wie die Autorin, die neben Prosa auch Lyrik schreibt, die Mikroneurosen gegenwärtiger Bastelfamilien, deren psychische Kollateralschäden sie genau erfasst, kombiniert mit einem erdgeschichtlichen Sinn für Landschaften und Naturgewalt. Überhaupt Gewalt: der Auftritt einer vandalierenden Affenhorde ist so eindringlich geschildert wie der Schneesturm im Unterengadin; wie der Tod einer geliebten Person und die darauf folgende Einsamkeit.
Ulrike Almut Sandig verfügt über eine erstaunliche Sprache und hat, wie es aussieht, den Menschen ziemlich tief in die Seele geschaut. Doch ist es der schöpfungsgeschichtliche Subtext, der ihrem „Buch gegen das Verschwinden“ das überzeitliche Surplus verleiht. Lesend fühlt man sich immer leicht neben der Spur. Das ist ein gutes, komplexes Gefühl.
Das Rätsel löst sich erst,
wenn man beim fünften Text
angekommen ist
Diese erstaunliche Autorin
hat den Menschen ziemlich tief
in die Seele geblickt
Dass Ulrike Almut Sandig aus einem ostdeutschen Pfarrhaus stammt, muss nichts heißen. Oder doch?
Foto: L. Rauch/Schöffling
Ulrike Almut Sandig: Buch gegen das Verschwinden. Geschichten. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 208 Seiten,
18,95 Euro. E-Book
14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Anja Hirsch empfiehlt den neuen Prosaband von Ulrike Almut Sandig wegen seines lyrischen Potenzials, den kleinen Rätseln in ihnen, vor allem aber wegen der unbeschönigten Darstellung des Verschwindens und Vermissens. Doch zuerst müssen Bindungen beschrieben werden, erklärt Hirsch den Aufbau der untereinander thematisch korrespondierenden Geschichten, dann kommt der Verlust. Sandigs "weiche", verdichtende Sprache scheint Hirsch gut geeignet diesen Vorgang einzufangen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2016Der Mergel unter unseren Füßen
Im Sturm verloren: Die Geschichten der Lyrikerin Ulrike Almut Sandig
Schriftsteller haben ihren eigenen Abwehrzauber gegen das Verschwinden von Menschen und Dingen: Sie erzählen darüber, und die Toten, die Verlorenen, die Vergessenen sind wieder da, jedenfalls für einen Moment in unserer Vorstellung. Die mit drei Lyrikbänden bekannt gewordene, 1979 geborene Ulrike Almut Sandig legt jetzt als zweite Prosaarbeit ein solches "Buch gegen das Verschwinden" vor.
Der Tod erhält in diesen Geschichten auf widersprüchliche Art eine Kontur. Es fängt damit an, dass eine gewisse Erika nicht einfach stirbt, sondern "verschwimmt", wie ihr Mann erzählt: "Sie wurde von den Rändern her durchsichtig", und man weiß wirklich nicht, ob das an seinen schlechter werdenden Augen liegt oder an Erikas Wenigerwerden.
Sandig zieht einen hinein in diesen Strudel des Vermissens. Und wenn sie dann als Ritual dieses Paares schildert, wie der Mann seiner Erika abends im Bett die Bodenschichten unter dem Haus beschrieb und dabei manchmal statt vom "Auelehm" vom "Geschiebelehm" oder vom "Geschiebemergel" sprach, erkennt man die wortbegeisterte Lyrikerin. Sie fängt sich aber schnell und lässt die Gedanken dieses Mannes weiter auf uns einwirken, bis wir ihn selbst fast verschwinden sehen.
Manchmal geht ein Ruck durch diese ansonsten eher ruhigen Geschichten. In der Eröffnungserzählung über den ersten gemeinsamen Ausflug eines Vaters mit seinem kleinen Sohn sowie der neuen Freundin des Vaters kommt es zu einer unschönen Szene: Die Freundin ohrfeigt den Partner, und dessen Sohn sieht es vom Strand. Da reißt uns die Erzählerin abrupt aus der Szene heraus und ruft: "Aber muss es so aufhören? Wenn wir schon im wirklichen Leben nichts wiedergutmachen können, warum dann nicht in den Geschichten, die wir uns später erzählen?"
Doch Erika, die Frau aus der Geschichte "Weit unter uns die flüssigen Felsen", bleibt trotzdem tot, und wir sehen, wie der Mann zum Friedhof geht und im Haus zunehmend vereinsamt, und die Erzählerin beschönigt nichts. Sie stößt mit ihren Sätzen höchstens mal das eine oder andere Hilfreiche an; ein Gespräch mit den Rot-Kreuz-Helfern oder dem Buchhändler, der dem täglichen Besucher "selbst gemachte" Bücher zusteckt, solche, die der Mann dann dreimal liest, obwohl er sie gar nicht versteht. Der Buchhändler verheißt dem Witwer auch, dass er sicher bald in der Gegenwart ankommen werde, weil er sich doch schon für die Erdzeitalter begeistere, und der Mann stimmt zu: "Auf seine Weise hatte er recht. Kam ich nicht langsam an der Oberfläche der Erde zum Vorschein?"
Sandigs Prosa gegen das Verschwinden erzählt in unterschiedlichen Tonfällen von Bindungen. Das ist kein Widerspruch, sondern vielmehr der Grund, warum das Verschwinden dann schmerzt. Ein Schweizer, eben noch Wanderbegleiter, geht im Sturm verloren. Ganze Dörfer samt Kirche verschwinden wegen der Braunkohle. Ein Mann verschwindet in seiner Krankheit, und die Familie wendet sich ab. Doch nirgendwo findet sich eine Spur Pathos oder Selbstmitleid. Sparsam setzt Sandig die Gegenstände des neuen Lebens ins Licht, die Krücken, den Rollator. So dezent, dass man sich selbst zusammenreimen muss, dass es bergab, nicht bergauf geht.
Als Chronisten schleichender Veränderungen schaffen diese Erzähler ein Textgewebe, das stark genug ist, das Flüchtige zu tragen. Untereinander pflegen die sechs Geschichten thematische Korrespondenzen, etwa, wenn eine Geschichte in Erwartung von Geburtstagsgästen endet und die Ich-Erzählerin der nächsten auf die Geburtstagsgeschichte des Bruders wartet - der vielleicht der Reporter aus der dritten Geschichte ist, aber mit anderem Schwerpunkt. Schön auch die kleinen, ungelösten Rätsel, die man zwischendurch vergisst, an die man aber am Ende wieder denkt. Wie an den Vorfall in einer kalten, dunklen, wolkenlosen Nacht. Irgendwas war da mit Erika passiert. Aber dem Mann fehlen die Worte: "Ein anderer als ich, in einer Sprache, die ich nicht kann, soll das beschreiben."
Sandigs scheinbar stolperlose, bildhafte, weiche Sprache kennt Sätze, die alles verdichten und verändern. Sie geht mit ganz eigenwilligen Kunstwaffen gegen das Verschwinden an. Oder nimmt sie es nicht vielmehr hin? Bei besonders schwierigen Fällen benutzt sie beharrlich die Anrede "du", wie in "Die blauen Augen deiner Mutter": Ein Journalist soll eine Reportage über die Demonstrationen im Gezi-Park schreiben und geht deshalb nicht ans Telefon: Es könnte seine Mutter sein, die sich dennoch in sein Leben schleicht, in Ausdrücken, die sie benutzt, und Erinnerungsbildern. Die Mütter und Väter verschwinden nie. Doch man könnte sie ins Gebet nehmen.
ANJA HIRSCH
Ulrike Almut Sandig: "Buch gegen das Verschwinden". Geschichten. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 205 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Sturm verloren: Die Geschichten der Lyrikerin Ulrike Almut Sandig
Schriftsteller haben ihren eigenen Abwehrzauber gegen das Verschwinden von Menschen und Dingen: Sie erzählen darüber, und die Toten, die Verlorenen, die Vergessenen sind wieder da, jedenfalls für einen Moment in unserer Vorstellung. Die mit drei Lyrikbänden bekannt gewordene, 1979 geborene Ulrike Almut Sandig legt jetzt als zweite Prosaarbeit ein solches "Buch gegen das Verschwinden" vor.
Der Tod erhält in diesen Geschichten auf widersprüchliche Art eine Kontur. Es fängt damit an, dass eine gewisse Erika nicht einfach stirbt, sondern "verschwimmt", wie ihr Mann erzählt: "Sie wurde von den Rändern her durchsichtig", und man weiß wirklich nicht, ob das an seinen schlechter werdenden Augen liegt oder an Erikas Wenigerwerden.
Sandig zieht einen hinein in diesen Strudel des Vermissens. Und wenn sie dann als Ritual dieses Paares schildert, wie der Mann seiner Erika abends im Bett die Bodenschichten unter dem Haus beschrieb und dabei manchmal statt vom "Auelehm" vom "Geschiebelehm" oder vom "Geschiebemergel" sprach, erkennt man die wortbegeisterte Lyrikerin. Sie fängt sich aber schnell und lässt die Gedanken dieses Mannes weiter auf uns einwirken, bis wir ihn selbst fast verschwinden sehen.
Manchmal geht ein Ruck durch diese ansonsten eher ruhigen Geschichten. In der Eröffnungserzählung über den ersten gemeinsamen Ausflug eines Vaters mit seinem kleinen Sohn sowie der neuen Freundin des Vaters kommt es zu einer unschönen Szene: Die Freundin ohrfeigt den Partner, und dessen Sohn sieht es vom Strand. Da reißt uns die Erzählerin abrupt aus der Szene heraus und ruft: "Aber muss es so aufhören? Wenn wir schon im wirklichen Leben nichts wiedergutmachen können, warum dann nicht in den Geschichten, die wir uns später erzählen?"
Doch Erika, die Frau aus der Geschichte "Weit unter uns die flüssigen Felsen", bleibt trotzdem tot, und wir sehen, wie der Mann zum Friedhof geht und im Haus zunehmend vereinsamt, und die Erzählerin beschönigt nichts. Sie stößt mit ihren Sätzen höchstens mal das eine oder andere Hilfreiche an; ein Gespräch mit den Rot-Kreuz-Helfern oder dem Buchhändler, der dem täglichen Besucher "selbst gemachte" Bücher zusteckt, solche, die der Mann dann dreimal liest, obwohl er sie gar nicht versteht. Der Buchhändler verheißt dem Witwer auch, dass er sicher bald in der Gegenwart ankommen werde, weil er sich doch schon für die Erdzeitalter begeistere, und der Mann stimmt zu: "Auf seine Weise hatte er recht. Kam ich nicht langsam an der Oberfläche der Erde zum Vorschein?"
Sandigs Prosa gegen das Verschwinden erzählt in unterschiedlichen Tonfällen von Bindungen. Das ist kein Widerspruch, sondern vielmehr der Grund, warum das Verschwinden dann schmerzt. Ein Schweizer, eben noch Wanderbegleiter, geht im Sturm verloren. Ganze Dörfer samt Kirche verschwinden wegen der Braunkohle. Ein Mann verschwindet in seiner Krankheit, und die Familie wendet sich ab. Doch nirgendwo findet sich eine Spur Pathos oder Selbstmitleid. Sparsam setzt Sandig die Gegenstände des neuen Lebens ins Licht, die Krücken, den Rollator. So dezent, dass man sich selbst zusammenreimen muss, dass es bergab, nicht bergauf geht.
Als Chronisten schleichender Veränderungen schaffen diese Erzähler ein Textgewebe, das stark genug ist, das Flüchtige zu tragen. Untereinander pflegen die sechs Geschichten thematische Korrespondenzen, etwa, wenn eine Geschichte in Erwartung von Geburtstagsgästen endet und die Ich-Erzählerin der nächsten auf die Geburtstagsgeschichte des Bruders wartet - der vielleicht der Reporter aus der dritten Geschichte ist, aber mit anderem Schwerpunkt. Schön auch die kleinen, ungelösten Rätsel, die man zwischendurch vergisst, an die man aber am Ende wieder denkt. Wie an den Vorfall in einer kalten, dunklen, wolkenlosen Nacht. Irgendwas war da mit Erika passiert. Aber dem Mann fehlen die Worte: "Ein anderer als ich, in einer Sprache, die ich nicht kann, soll das beschreiben."
Sandigs scheinbar stolperlose, bildhafte, weiche Sprache kennt Sätze, die alles verdichten und verändern. Sie geht mit ganz eigenwilligen Kunstwaffen gegen das Verschwinden an. Oder nimmt sie es nicht vielmehr hin? Bei besonders schwierigen Fällen benutzt sie beharrlich die Anrede "du", wie in "Die blauen Augen deiner Mutter": Ein Journalist soll eine Reportage über die Demonstrationen im Gezi-Park schreiben und geht deshalb nicht ans Telefon: Es könnte seine Mutter sein, die sich dennoch in sein Leben schleicht, in Ausdrücken, die sie benutzt, und Erinnerungsbildern. Die Mütter und Väter verschwinden nie. Doch man könnte sie ins Gebet nehmen.
ANJA HIRSCH
Ulrike Almut Sandig: "Buch gegen das Verschwinden". Geschichten. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 205 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die Idee des Bandes entfaltet sich mit aller Kraft: Indem die Autorin vom Entgleiten schreibt, gibt sie ihm zugleich wieder einen Platz.«Björn Hayer, Der Tagesspiegel»Ja, zum Schwindeligwerden ist dieses auf gegenwärtige Weise romantische Buch voller unlösbarer Rätsel, und gerade das macht es so schön.«Ina Hartwig, Süddeutsche Zeitung»Die sechs Erzählungen (...) lesen sich, als könnten sie nur auf diese Weise erzählt werden.«Gabi Rüth, WDR5, Scala»Sorgfältig gebaute Prosatexte. Glashart.«tip Berlin»In lyrisch verdichteter Sprache, mit gelegentlichen Anflügen trockenen Humors entwirft Sandig rätselhafte Welten, bietet neue Sichtweisen.«Thomas Klingebiel, Neue Westfälische»Dieser Erzählband hält warm, obwohl es in manchen der Geschichten bitterkalt zugeht.«HR2 Buch der Woche»Die Sprache folgt mit erstaunlicher Leichtigkeit einer eigenen Melodie. Poetische Bilder vermitteln die besondere Atmosphäre der Texte.«Karin Großmann, Sächsische Zeitung»Das Thema Demenz wird hier mit so vielWürde, Romantik und Erhabenheit behandelt, wie es selten gelungen ist.«Michael Kraft, Shitesite»Dass bei ihren Figuren die Wahrnehmung zu verschwimmen scheint, sorgt für einen ganz eigenen Reiz, der den Leser unweigerlich in den Bann dieser Geschichten zieht (...).«Kai Agthe, Mitteldeutsche Zeitung»Phantasie und Realität verzahnen sich außerordentlich kunstvoll, die Grenze dazwischen ist weder unverrückbar noch ein Ding von Dauer und verläuft oft außerhalb der Wahrnehmung.«Ingrid Mylo, Badische Zeitung»Hier begegnen Wunsch und Wirklichkeit einander im Möglichen - einem Ort des Verschwindens. Oder des Erkennens.«Janine Fleischer, Leipziger Volkszeitung»Die Figuren (...) sind die Erzähler ihrer eigenen Geschichte, haben so eine zweite Chance. Wo, wenn nicht in der Literatur, lässt sich das Leben umschreiben.«Märkische Allgemeine Zeitung»Das Besondere ist Sandigs Umgang mit dem Erzählen und zugleich mit dem Thema Verschwinden: Sie behandelt ihre Literatur wie eine literarische Versuchsanordnung (...).«Michael Hametner, MDR figaro»Das Buch gegen das Verschwinden zeigt, wie Sprache vor Einsamkeit und Verlorensein schützt. Dann jedenfalls, wenn man so erzählen kann wie Ulrike Almut Sandig.«Christoph Schröder, Zeit online»Ihre bildhafte, weiche Sprache kennt Sätze, die alles verdichten und verändern.«Anja Hirsch, Stuttgarter Zeitung»Das perfekte Buch für den Moment.«Lydia Herms, DRadio Wissen