»Buch Vier«, der vierte Gedichtband von Dieter M. Gräf, beginnt im September 2001 inmitten eines Taifuns in der taiwanesischen Metropole Taipeh, mit den CNN-Bildern von 9/11 im Hintergrund, und endet in New York, vor Ground Zero. Der traumatische Beginn des neuen Jahrhunderts zieht sich durch diesen Band, der Poesie als zeitgenössische Kunstform positioniert. In vier Kapiteln, zwischen dem Auftakt in Südostasien und dem Finale in Amerika, wird die alte Welt - vornehmlich in Venedig, Rom und Vézelay - erkundet. Immer wieder geht es dabei auch um den Tod, von dem aus ein Leben neu ausgeleuchtet wird. So begegnet man dem Kunsthistoriker Winckelmann und dem Filmemacher Pasolini, dem linksradikalen Verleger Feltrinelli oder dem faschistischen Diktator Mussolini sowie der Black-Muslim-Ikone Malcom X. Im Umgang mit Leitmotiven, Metaphernflächen, Bildclustern ist »Buch Vier« ein sprachästhetisches Statement, das aus Orten Strukturen entwickelt, und ein Versuch, das deutschsprachige Gegenwartsgedicht zu hinterfragen. »Dieser Lyriker geht aufs Ganze«, so begrüßte Anton Thuswaldner in den Salzburger Nachrichten Gräfs Debüt: »Bei Gräf hält die Sprache ihr Wort. Wenn nämlich ein Autor von seinem Kaliber mit ihr einen Pakt schließt, lässt sie einen nicht im Stich. Solche Texte sind Expeditionen.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2008Weit ist der Mantel offen
Typographie ist noch keine Poesie, modische Mätzchen kann man sich dabei sparen: Dieter M. Gräf dichtet gegen den Feind als diskretes Pixel-Objekt an.
Warum soll man Lyrikbände nicht mit Opus-Zahlen versehen? Die Lyra legt es doch nahe. Dieter M. Gräf jedenfalls folgt dieser Idee und nennt seinen neuen Gedichtband "Buch Vier" - nämlich nach "rauschstudie: Vater + Sohn" (1994), "Treibender Kopf" (1997) und "Westrand" (2002). Wer nun in Gräfs neues Opus hineinblättert, könnte in der wechselnden typographischen Gliederung der Seiten so etwas wie Sprachpartituren sehen. Dieser Eindruck wird durch die Abwesenheit von Reim und Versmaß noch unterstützt. Ist "Buch Vier", das sich in vier Kapitel aufgliedert, so etwas wie eine Sinfonie in vier Sätzen oder zumindest eine Analogie zu T.S. Eliots "Four Quartetts"? Der Anspruch auf eine großangelegte Komposition ist jedenfalls unübersehbar.
"Buch Vier" ist ein Stück Programmmusik - poetisch eine global gedachte lyrische Reportage. Sie beginnt inmitten eines Taifuns in Taipeh, unter dem Eindruck der CNN-Bilder vom Einsturz der Twin Towers, und endet in New York, im Anblick von Ground Zero. Weitere Stationen ergeben sich durch die zahlreichen Stipendienaufenthalte, die Gräf absolviert hat, unter anderem in der Villa Aurora in Los Angeles und der Villa Massimo in Rom oder als Gast der Deutschen Festspiele in Indien.
Dennoch täuscht die international illuminierte Szenerie. In Taipeh besucht Gräf eine Napoleon-Ausstellung, aber das Gedicht darüber schreibt er in Köln. Die Twin-Tower-Gedichte entstehen in Köln und Berlin, wo Gräf lebt. Die alte Welt ist immer noch das Zentrum seiner Bilder und Ideen. Die Galerie seiner Protagonisten, allesamt gefährdete und todessüchtige Figuren, reicht von Winckelmann zu Pasolini als den Opfern sexuell bestimmter Gewalt, vom linksradikalen Verleger Feltrinelli zur Black-Muslim-Ikone Malcolm X. Recht eindrücklich unter diesen Todesballaden ist die an Ezra Pounds "Cantos" geschulte Geschichte Claretta Petaccis, der letzten Geliebten Mussolinis. Ihr grausames Sterben wird als "bibel / schlimme / gnade" glorifiziert.
Viel ist von Tod die Rede, viel von Gewalt; und auch die Heiligen haben dazu ihr Teil beizutragen. Der heiligen Elisabeth und weiteren Heiligen gilt eine bemerkenswert lange Anmerkung im Anhang des Bandes. Aber das Gedicht selbst ist eher kurz, eine Art Haiku oder ein Poundsches "image": "DIE BRUSTWARZEN DER HEILIGEN / Elisabeth wurden abgeschnitten / von Verehrern ihrer Keuschheit. / Schutzheilige / der ..., so / weit ist der Mantel / offen." Das ist schon raffiniert gemacht. Es spart alles aus, was an kulturellem Wissen zitierbar wäre. Es sucht den Effekt: den fast voyeuristisch-intimen Blick auf den offenen Mantel.
Solche Effekte belegen Gräfs Virtuosität. Sie gelingen immer dort, wo der Autor seiner Obsession von Sex, Gewalt und Tod folgen kann. Wenn er schon Hölderlin zitiert, dann seinen Tod fürs Vaterland; und auch Theodor Körner, der Dichter der Freiheitskriege, erscheint als probater Zeuge für den soldatischen Opfertod. Er figuriert freilich äußerst verfremdet, nämlich in einem modischen typographischen Mätzchen aus Strichbalken, wie sie an automatisierten Kassen abgelesen werden. Dazu passt dann der Titel: "Der Feind als diskretes Pixel-Objekt." Und der Schluss opfert den Ernst des Themas einem Kalauer: "Tapete / im koernigsten Videostill." Armer Körner.
Tapete, so darf man sagen, ist kein schlechter Begriff für das typographische Arrangement mancher Textflächen. Wo Gräfs Texte nicht klanglich und bildlich tragen, also keine Partituren, keine Musik sind, bleibt von der Poesie nur das Muster von Textclustern zurück. In "Vézelay Dschihad" wird eine langsame Welt beschworen. Aber die Wortfolge "die langsame Welt die langsame Welt die langsame Welt", die noch sechsmal wiederholt wird, hebt uns diese Langsamkeit nicht ins Bewusstsein. Typographie ist noch keine Poesie - umso weniger, wenn sie sich an einem Gegenstand wie 9/11 versucht. Dort, in einem lettristischen Arrangement, soll die Zerbröselung der Wörter und Satzzeichen (etwa "aHRldDogAschewolkeTWFsB") den Einsturz der Twin Towers vergegenwärtigen - typographische Mimesis eines Grauens, das sich solchen Sprachexperimenten entzieht.
Dabei sind Gräfs Intentionen hochgespannt und achtbar. In seinem in Taipeh spielenden Gedicht "Taifun" formuliert er sie schön und prägnant: "In herbeizitierter Landschaft / eine neue eröffnen, zum Singen, // während die Instrumente / in den Boxen bleiben." Wie wahr, wie richtig. Vielleicht sollte Gräf manche seiner modisch-glatten Instrumente tatsächlich in den Boxen lassen. Vielleicht lassen sich Landschaften nicht herbeizitieren, wohl aber beschwören.
Manche Passagen bei Gräf leisten solche Beschwörung und kommen dabei dem Gesang nahe. "Buch Vier" hat durchaus sein Thema: Tod und Gewalt. Im "Appendix" lesen wir zu "Taifun": ",Tod' (szu) und ,vier' (szu) sind im Chinesischen synonym, einschließlich des Tons, in dem die Silbe gesprochen wird." Manchmal macht der "Ton" in Gräfs "Buch Vier" tatsächlich schon die Musik. Das macht auf Opus 5 neugierig.
HARALD HARTUNG
Dieter M. Gräf: "Buch Vier". Gedichte. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2008. 108 S., geb., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Typographie ist noch keine Poesie, modische Mätzchen kann man sich dabei sparen: Dieter M. Gräf dichtet gegen den Feind als diskretes Pixel-Objekt an.
Warum soll man Lyrikbände nicht mit Opus-Zahlen versehen? Die Lyra legt es doch nahe. Dieter M. Gräf jedenfalls folgt dieser Idee und nennt seinen neuen Gedichtband "Buch Vier" - nämlich nach "rauschstudie: Vater + Sohn" (1994), "Treibender Kopf" (1997) und "Westrand" (2002). Wer nun in Gräfs neues Opus hineinblättert, könnte in der wechselnden typographischen Gliederung der Seiten so etwas wie Sprachpartituren sehen. Dieser Eindruck wird durch die Abwesenheit von Reim und Versmaß noch unterstützt. Ist "Buch Vier", das sich in vier Kapitel aufgliedert, so etwas wie eine Sinfonie in vier Sätzen oder zumindest eine Analogie zu T.S. Eliots "Four Quartetts"? Der Anspruch auf eine großangelegte Komposition ist jedenfalls unübersehbar.
"Buch Vier" ist ein Stück Programmmusik - poetisch eine global gedachte lyrische Reportage. Sie beginnt inmitten eines Taifuns in Taipeh, unter dem Eindruck der CNN-Bilder vom Einsturz der Twin Towers, und endet in New York, im Anblick von Ground Zero. Weitere Stationen ergeben sich durch die zahlreichen Stipendienaufenthalte, die Gräf absolviert hat, unter anderem in der Villa Aurora in Los Angeles und der Villa Massimo in Rom oder als Gast der Deutschen Festspiele in Indien.
Dennoch täuscht die international illuminierte Szenerie. In Taipeh besucht Gräf eine Napoleon-Ausstellung, aber das Gedicht darüber schreibt er in Köln. Die Twin-Tower-Gedichte entstehen in Köln und Berlin, wo Gräf lebt. Die alte Welt ist immer noch das Zentrum seiner Bilder und Ideen. Die Galerie seiner Protagonisten, allesamt gefährdete und todessüchtige Figuren, reicht von Winckelmann zu Pasolini als den Opfern sexuell bestimmter Gewalt, vom linksradikalen Verleger Feltrinelli zur Black-Muslim-Ikone Malcolm X. Recht eindrücklich unter diesen Todesballaden ist die an Ezra Pounds "Cantos" geschulte Geschichte Claretta Petaccis, der letzten Geliebten Mussolinis. Ihr grausames Sterben wird als "bibel / schlimme / gnade" glorifiziert.
Viel ist von Tod die Rede, viel von Gewalt; und auch die Heiligen haben dazu ihr Teil beizutragen. Der heiligen Elisabeth und weiteren Heiligen gilt eine bemerkenswert lange Anmerkung im Anhang des Bandes. Aber das Gedicht selbst ist eher kurz, eine Art Haiku oder ein Poundsches "image": "DIE BRUSTWARZEN DER HEILIGEN / Elisabeth wurden abgeschnitten / von Verehrern ihrer Keuschheit. / Schutzheilige / der ..., so / weit ist der Mantel / offen." Das ist schon raffiniert gemacht. Es spart alles aus, was an kulturellem Wissen zitierbar wäre. Es sucht den Effekt: den fast voyeuristisch-intimen Blick auf den offenen Mantel.
Solche Effekte belegen Gräfs Virtuosität. Sie gelingen immer dort, wo der Autor seiner Obsession von Sex, Gewalt und Tod folgen kann. Wenn er schon Hölderlin zitiert, dann seinen Tod fürs Vaterland; und auch Theodor Körner, der Dichter der Freiheitskriege, erscheint als probater Zeuge für den soldatischen Opfertod. Er figuriert freilich äußerst verfremdet, nämlich in einem modischen typographischen Mätzchen aus Strichbalken, wie sie an automatisierten Kassen abgelesen werden. Dazu passt dann der Titel: "Der Feind als diskretes Pixel-Objekt." Und der Schluss opfert den Ernst des Themas einem Kalauer: "Tapete / im koernigsten Videostill." Armer Körner.
Tapete, so darf man sagen, ist kein schlechter Begriff für das typographische Arrangement mancher Textflächen. Wo Gräfs Texte nicht klanglich und bildlich tragen, also keine Partituren, keine Musik sind, bleibt von der Poesie nur das Muster von Textclustern zurück. In "Vézelay Dschihad" wird eine langsame Welt beschworen. Aber die Wortfolge "die langsame Welt die langsame Welt die langsame Welt", die noch sechsmal wiederholt wird, hebt uns diese Langsamkeit nicht ins Bewusstsein. Typographie ist noch keine Poesie - umso weniger, wenn sie sich an einem Gegenstand wie 9/11 versucht. Dort, in einem lettristischen Arrangement, soll die Zerbröselung der Wörter und Satzzeichen (etwa "aHRldDogAschewolkeTWFsB") den Einsturz der Twin Towers vergegenwärtigen - typographische Mimesis eines Grauens, das sich solchen Sprachexperimenten entzieht.
Dabei sind Gräfs Intentionen hochgespannt und achtbar. In seinem in Taipeh spielenden Gedicht "Taifun" formuliert er sie schön und prägnant: "In herbeizitierter Landschaft / eine neue eröffnen, zum Singen, // während die Instrumente / in den Boxen bleiben." Wie wahr, wie richtig. Vielleicht sollte Gräf manche seiner modisch-glatten Instrumente tatsächlich in den Boxen lassen. Vielleicht lassen sich Landschaften nicht herbeizitieren, wohl aber beschwören.
Manche Passagen bei Gräf leisten solche Beschwörung und kommen dabei dem Gesang nahe. "Buch Vier" hat durchaus sein Thema: Tod und Gewalt. Im "Appendix" lesen wir zu "Taifun": ",Tod' (szu) und ,vier' (szu) sind im Chinesischen synonym, einschließlich des Tons, in dem die Silbe gesprochen wird." Manchmal macht der "Ton" in Gräfs "Buch Vier" tatsächlich schon die Musik. Das macht auf Opus 5 neugierig.
HARALD HARTUNG
Dieter M. Gräf: "Buch Vier". Gedichte. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2008. 108 S., geb., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Durchaus gemischte Gefühle hat Dieter M. Gräfs neuer Gedichtband "Buch Vier" bei Rezensent Harald Hartung ausgelöst. Er beschreibt das Werk als ein "Stück Programmmusik" und als "global gedachte lyrische Reportage", wie Gedichte über einen Taifun in Taipeh oder über den 11. September nahelegen. Gleichwohl bleibe die alte Welt "Zentrum seiner Bilder und Ideen". Thematisch kreisen die Stücke Hartung zufolge vor allem um Tod und Gewalt. Besonders hebt er ein Gedicht über die heilige Elisabeth hervor, das für ihn Gräfs Virtuosität bezeugt. Andererseits findet er in dem Band immer wieder Stücke, die ihn "klanglich" und "bildlich" nicht überzeugen, die auf teilweise typographische Effekte setzten, ohne poetisch zu sein. Kritisch äußert er sich in diesem Zusammenhang über das Gedicht, das den Einsturz der Twin Towers in einer Art typographischer Nachahmung vergegenwärtigen will, sieht er hier doch ein Grauen, "das sich solchen Sprachexperimenten entzieht".
© Perlentaucher Medien GmbH
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