Überschreitungen in Budapest - das geschieht hier im Doppelsinn. In den Geschichten wird immer wieder die Donau überschritten, ein Übersetzen von Buda nach Pest, hin und her, wo die Seelen sehr verschieden ihr Unwesen treiben. Überschritten werden dabei zugleich die üblichen Grenzen der Diskretion. Geheimnisse werden gelüftet, Gewißheiten erschüttert, Verschüttetes wird aufgedeckt. János Térey liefert einen lyrischen (Ver-)Führer durch das Budapest von heute und gestern, Blicke eines Eingeweihten auf diese schaurig-schöne Stadt.
An vielen dieser Orte geht es um Liebeskatastrophen, um Eifersucht und trickreichen Betrug. Oder um die Ästhetik von Filmen. Oder um einen Stalker am Telefon. Wir werden unversehens zu Voyeuren beim Dreh eines Pornos, bewegen uns in wunderschönen Bauhauswohnungen, in denen aber böse Geister spuken, weil Adolf Eichmann sie zu Tatorten des Terrors gegen Juden machte. Wir versinken in den Tiefen und Abgründen der Stadt, geführt von der eigenwilligen Sprache des Erzählers, der seine Abwege zu genießen versteht.
Jeder Geschichte werden im Inhaltsverzeichnis Straßen und Plätze zugeordnet. Dem wäre nachzugehen, die Grenzen zwischen Fiktion und Reportage geraten ins Fließen. Dabei bleibt der Autor immer ein Dichter, selbst wenn er Romane oder Dramen schreibt. Er arbeitet mit Sprache, weil sie in ihm arbeitet, sich Wege sucht wie eine Urkraft. So wurde Térey zu einer unüberhörbaren Stimme in der ungarischen Gegenwartsliteratur. Wer ihn zu lesen versteht, ist dem ungarischen Zeitgeist nicht mehr hilflos ausgeliefert, er lernt, ihm zu widersprechen und mit ihm zu spielen.
An vielen dieser Orte geht es um Liebeskatastrophen, um Eifersucht und trickreichen Betrug. Oder um die Ästhetik von Filmen. Oder um einen Stalker am Telefon. Wir werden unversehens zu Voyeuren beim Dreh eines Pornos, bewegen uns in wunderschönen Bauhauswohnungen, in denen aber böse Geister spuken, weil Adolf Eichmann sie zu Tatorten des Terrors gegen Juden machte. Wir versinken in den Tiefen und Abgründen der Stadt, geführt von der eigenwilligen Sprache des Erzählers, der seine Abwege zu genießen versteht.
Jeder Geschichte werden im Inhaltsverzeichnis Straßen und Plätze zugeordnet. Dem wäre nachzugehen, die Grenzen zwischen Fiktion und Reportage geraten ins Fließen. Dabei bleibt der Autor immer ein Dichter, selbst wenn er Romane oder Dramen schreibt. Er arbeitet mit Sprache, weil sie in ihm arbeitet, sich Wege sucht wie eine Urkraft. So wurde Térey zu einer unüberhörbaren Stimme in der ungarischen Gegenwartsliteratur. Wer ihn zu lesen versteht, ist dem ungarischen Zeitgeist nicht mehr hilflos ausgeliefert, er lernt, ihm zu widersprechen und mit ihm zu spielen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.09.2019Im Taubenschlag friert der Verkehrskontrolleur
Ohne schöne blaue Donau, aber voller Gespenster: Der ungarische Autor János Térey starb im Juni dieses Jahres.
Seine „Budapester Überschreitungen“ sind moderne Großstadtliteratur
VON LOTHAR MÜLLER
In einer Siedlung nahe der Gasfabrik lebt Natasa, technische Zeichnerin, fünfundvierzig Jahre alt. Es gibt da verrostete Ölfässer, hässliche Garagenreihen und trotzig grüne Fensterläden, die auf Idylle machen. Natasa ist gerade von ihrem zwanzig Jahre jüngeren Freund verlassen worden. Mehr Raum aber benötigt in der Erzählung, in deren Mittelpunkt sie steht, der Todeskampf ihres Katers, den irgendjemand vergiftet hat. Er ist die größere Katastrophe. Von den Eisenpfosten der alten Industrie, dem längst geschlossenen Kulturhaus, an dem der Kater gewöhnlich kauerte, spaziert die Verlassene am Ende zum neuen Industriepark. „Hier blieb Natasa stehen vor der schlanken Bronzegestalt / Mit der Brille und dem wirren Blick. /,Auch er klammert sich an sein Handy, hatte Sorgen genug‘.“
Überall in den großen Städten nisten die Geschichten. Sie müssen nicht verbrieft, wirklich geschehen sein, um erzählt werden zu können. Es reicht, wenn der Möglichkeitssinn an einer Straßenecke, in einem alten Depot oder in einem frisch bezogenem Haus voller Luxusapartments die Geschichten aufspürt. Die Einheimischen, in der Stadt Geborenen, haben die Fähigkeit dazu nicht gepachtet. Oft haben die Zugezogenen aus fernen Ländern oder der Provinz die feinsten Wünschelruten.
János Térey, 1970 in Debrecen im östlichen Ungarn, unweit der Grenze zu Rumänien geboren, kam als junger Mann nach Budapest, gerade rechtzeitig, um dort den Umbruch von 1989/90 zu erleben, den Zerfall des Sozialismus, die große Hektik der Neunzigerjahre. Er studierte Literatur und Geschichte, vor allem aber wurde er rasch zum Autor. Mit seinem Versroman „Paulus“, mit Theaterstücken, Übersetzungen, vor allem aber mit seinen Gedichten avancierte er zu einer der wichtigsten Stimmen der Generation nach Péter Nádas und Péter Esterházy.
Eine Auswahl erschien unter dem Titel „KaltWasserKult“ (2007) auch auf Deutsch, Monika Rinck und Gerhard Falkner zählten zu seinen Übersetzern, und es gab einen Doppelauftritt mit Anja Utler in der Reihe „Dichterpaare“ (2009), aber er blieb hierzulande eine Randerscheinung. Unerwartet und viel zu früh, erst 48 Jahre alt, starb er Anfang Juni 2019, kurz vor der Fertigstellung der deutschen Ausgabe seines Erzählungsbandes „Budapester Überschreitungen“ aus dem Jahr 2014.
Térey blieb auch beim Erzählen Lyriker , er machte seine Geschichten zu Langgedichten. Der Übersetzer Wilhelm Droste hat das im Deutschen nachgebildet, zum Glück in einer Diktion, die auf alles „Poetische“ verzichtet. Wenn Térey die Stadt diesseits und jenseits der Donau durchquert, durch Pest und die Hügel von Buda streift, schneiden die Versenden der Erzählerstimme jeden Zugang zum Gravitätischen, Sonoren ab. „Von einer Friseurauslage sprang sein Blick / Auf eine Zelle an der Hausfront: so einen Hochsitz, / An die schmutzige Wand geheftet. / In diesem Taubenschlag fror der Verkehrskontrolleur / Und hantierte an seinen Schaltern.“
Der Lyriker im Erzähler ist mit der auf Details geeichten Wahrnehmung im Bunde. Dass in der Auftakterzählung, deren Hauptschauplatz eine Straßenbahnschleife ist, der äußere Bogen der Schienen höher montiert ist als der innere, damit die Bahnen sich in die Kurve legen können, entgeht ihm nicht. Die intensive Anwesenheit des Mechanischen der Verkehrsbetriebe färbt ab auf die Geschichte der beiden Kollegen, die sich als routinegeprägte Ehebruchsgeschichte entpuppt.
Bei jeder Geschichte gibt Térey an, in welchem Bezirk, in welcher Straße sie spielt. Man kann die Orte im Stadtplan aufsuchen. Natasa zum Beispiel wohnt im dritten Bezirk, in den zu Beginn des Jahrtausends die Computerindustrie Einzug gehalten hat. Die schlanke Gestalt mit der Brille und dem wirren Blick – „das Nervenbündel-Denkmal“ – ist Steve Jobs, dem eine Internetfirma kurz nach seinem Tod 2011 einer überlebensgroße Bronzestatue errichtet hat. Aber dieses Spiel mit den handfesten Zeichen der Zeit betreibt dieser Erzähler nicht, um seine Geschichten zu beglaubigen. Er ist kein Reporter, sondern ein Geisterseher. Er versieht seine Schauplätze mit historischen Signaturen und bevölkert sie dann mit Gespenstern.
Dort, wo in den Budaer Hügeln eine Zahnradbahn zwanzig Prozent Steigung zu überwinden hat, stehen in der Erzählung „Wer lebt, hinterlässt Geräusche“, Fachwerkvillen in nationalem Stil, ehemalige Hotels mit schnörkellosen, modernen Fassaden, die längst zu Kleinstwohnungen parzelliert sind. Hier kauft ein junges Paar einem Rentner der Staatssicherheit seine Wohnung ab. Und gerät in eine Echokammer, in der die Bremsen der Zahnradbahn wie ein Stöhnen klingen.
Den für Umbau und Renovierung herbeigerufenen alten Architekten zieht der Blick in den Fahrstuhlschacht hinein in die Erinnerungen an das Jahr 1944, als hier während der deutschen Besatzung die Gestapo residierte. „Der Wagen der Geheimpolizei brachte ihn runter ins Ghetto, / Und der Weg ist der gleiche wie immer schon, /Derselbe Weg aus uralter Zeit / Durch die Weinberge an den Kreuzen vor bei: / Alles wie immer! // Selbst nach einem halben Jahrhundert erkennt er das Haus, / Der junge Mann, erniedrigt, zu Brei geschlagen./ Ein dämonischer Ort, die finstere Zeit riecht aus den Ziegeln: / Todeshaus mit Hakenkreuzfahne ...“
Es gibt in diesem Buch keine schöne blaue Donau. Vergeblich warten die Ausflugsboote auf eine Hauptrolle. In einer der stärksten Geschichten, „Die Landung“, stolpert ein verwitweter Gesangslehrer, als er der Stadt den Rücken kehren will, durch eine Landzunge der Donau, in der sich die ungarische Geschichte wie auf einem Schuttplatz abgelagert hat. Der Fluchtversuch aus dem Alltag scheitert.
Ein Kraftzentrum des Bandes, gehasst und nicht loszuwerden, sind die Neunzigerjahre, die durch Pop, Rock und Punk schon vor 1989 begannen. „Schlangengrube“, nach dem Song „Snake Pit“ der Band The Cure, heißt eine Schlüsselerzählung. Sie überblendet die Erinnerung an Konzerte, Vorstadtkeller und selbstgemixte Cocktails der Neunzigerjahre mit der Gegenwart. Aus dem Punkfan ist ein Pornoregisseur geworden, der seine Freundin in immer drastischere Opferrollen zwingt.
Téreys Budapest-Erzählungen verabschieden alles Pittoreske, sind moderne Großstadtliteratur. Durch die Schauplätze werden Erinnerungen und Obsessionen entsichert, etwa beim Ingenieur, der nach seiner Scheidung die Stadt verlassen hat, wegen einer Konferenz zurückkehrt und die längst leer stehende Wohnung seiner Ex-Frau mit erotischen Fantasien bevölkert. Er passt zur Debatte über Ingmar Bergmans „Schweigen“, die im Filmklub geführt wird. Hoffentlich verwandelt sich in einer zweiten Auflage der „Bergmann“ wieder in den schwedischen Regisseur.
Ein Kraftzentrum des
Erzählungsbandes sind
die Neunzigerjahre
Mit Fotografien aus der Sammlung Fortepan, die seit 2010 Amateurbilder von Budapester Städtebewohnern archiviert, ist Téreys Erzählungsband illustriert.
Fotos: Sammlung Fortepan Budapest, Tamás Urbán,Arco Verlag
Dichter und Erzähler: János Térey, geboren 1970 in Debrecen, gestorben 2019 in Budapest.
Foto: Máté Péter/ Jelenkor Kiadó / Arco Verlag
János Térey: Budapester Überschreitungen. Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Wilhelm Droste. Arco Verlag, Wuppertal und Wien 2019. 124 Seiten,
20 Euro.
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Ohne schöne blaue Donau, aber voller Gespenster: Der ungarische Autor János Térey starb im Juni dieses Jahres.
Seine „Budapester Überschreitungen“ sind moderne Großstadtliteratur
VON LOTHAR MÜLLER
In einer Siedlung nahe der Gasfabrik lebt Natasa, technische Zeichnerin, fünfundvierzig Jahre alt. Es gibt da verrostete Ölfässer, hässliche Garagenreihen und trotzig grüne Fensterläden, die auf Idylle machen. Natasa ist gerade von ihrem zwanzig Jahre jüngeren Freund verlassen worden. Mehr Raum aber benötigt in der Erzählung, in deren Mittelpunkt sie steht, der Todeskampf ihres Katers, den irgendjemand vergiftet hat. Er ist die größere Katastrophe. Von den Eisenpfosten der alten Industrie, dem längst geschlossenen Kulturhaus, an dem der Kater gewöhnlich kauerte, spaziert die Verlassene am Ende zum neuen Industriepark. „Hier blieb Natasa stehen vor der schlanken Bronzegestalt / Mit der Brille und dem wirren Blick. /,Auch er klammert sich an sein Handy, hatte Sorgen genug‘.“
Überall in den großen Städten nisten die Geschichten. Sie müssen nicht verbrieft, wirklich geschehen sein, um erzählt werden zu können. Es reicht, wenn der Möglichkeitssinn an einer Straßenecke, in einem alten Depot oder in einem frisch bezogenem Haus voller Luxusapartments die Geschichten aufspürt. Die Einheimischen, in der Stadt Geborenen, haben die Fähigkeit dazu nicht gepachtet. Oft haben die Zugezogenen aus fernen Ländern oder der Provinz die feinsten Wünschelruten.
János Térey, 1970 in Debrecen im östlichen Ungarn, unweit der Grenze zu Rumänien geboren, kam als junger Mann nach Budapest, gerade rechtzeitig, um dort den Umbruch von 1989/90 zu erleben, den Zerfall des Sozialismus, die große Hektik der Neunzigerjahre. Er studierte Literatur und Geschichte, vor allem aber wurde er rasch zum Autor. Mit seinem Versroman „Paulus“, mit Theaterstücken, Übersetzungen, vor allem aber mit seinen Gedichten avancierte er zu einer der wichtigsten Stimmen der Generation nach Péter Nádas und Péter Esterházy.
Eine Auswahl erschien unter dem Titel „KaltWasserKult“ (2007) auch auf Deutsch, Monika Rinck und Gerhard Falkner zählten zu seinen Übersetzern, und es gab einen Doppelauftritt mit Anja Utler in der Reihe „Dichterpaare“ (2009), aber er blieb hierzulande eine Randerscheinung. Unerwartet und viel zu früh, erst 48 Jahre alt, starb er Anfang Juni 2019, kurz vor der Fertigstellung der deutschen Ausgabe seines Erzählungsbandes „Budapester Überschreitungen“ aus dem Jahr 2014.
Térey blieb auch beim Erzählen Lyriker , er machte seine Geschichten zu Langgedichten. Der Übersetzer Wilhelm Droste hat das im Deutschen nachgebildet, zum Glück in einer Diktion, die auf alles „Poetische“ verzichtet. Wenn Térey die Stadt diesseits und jenseits der Donau durchquert, durch Pest und die Hügel von Buda streift, schneiden die Versenden der Erzählerstimme jeden Zugang zum Gravitätischen, Sonoren ab. „Von einer Friseurauslage sprang sein Blick / Auf eine Zelle an der Hausfront: so einen Hochsitz, / An die schmutzige Wand geheftet. / In diesem Taubenschlag fror der Verkehrskontrolleur / Und hantierte an seinen Schaltern.“
Der Lyriker im Erzähler ist mit der auf Details geeichten Wahrnehmung im Bunde. Dass in der Auftakterzählung, deren Hauptschauplatz eine Straßenbahnschleife ist, der äußere Bogen der Schienen höher montiert ist als der innere, damit die Bahnen sich in die Kurve legen können, entgeht ihm nicht. Die intensive Anwesenheit des Mechanischen der Verkehrsbetriebe färbt ab auf die Geschichte der beiden Kollegen, die sich als routinegeprägte Ehebruchsgeschichte entpuppt.
Bei jeder Geschichte gibt Térey an, in welchem Bezirk, in welcher Straße sie spielt. Man kann die Orte im Stadtplan aufsuchen. Natasa zum Beispiel wohnt im dritten Bezirk, in den zu Beginn des Jahrtausends die Computerindustrie Einzug gehalten hat. Die schlanke Gestalt mit der Brille und dem wirren Blick – „das Nervenbündel-Denkmal“ – ist Steve Jobs, dem eine Internetfirma kurz nach seinem Tod 2011 einer überlebensgroße Bronzestatue errichtet hat. Aber dieses Spiel mit den handfesten Zeichen der Zeit betreibt dieser Erzähler nicht, um seine Geschichten zu beglaubigen. Er ist kein Reporter, sondern ein Geisterseher. Er versieht seine Schauplätze mit historischen Signaturen und bevölkert sie dann mit Gespenstern.
Dort, wo in den Budaer Hügeln eine Zahnradbahn zwanzig Prozent Steigung zu überwinden hat, stehen in der Erzählung „Wer lebt, hinterlässt Geräusche“, Fachwerkvillen in nationalem Stil, ehemalige Hotels mit schnörkellosen, modernen Fassaden, die längst zu Kleinstwohnungen parzelliert sind. Hier kauft ein junges Paar einem Rentner der Staatssicherheit seine Wohnung ab. Und gerät in eine Echokammer, in der die Bremsen der Zahnradbahn wie ein Stöhnen klingen.
Den für Umbau und Renovierung herbeigerufenen alten Architekten zieht der Blick in den Fahrstuhlschacht hinein in die Erinnerungen an das Jahr 1944, als hier während der deutschen Besatzung die Gestapo residierte. „Der Wagen der Geheimpolizei brachte ihn runter ins Ghetto, / Und der Weg ist der gleiche wie immer schon, /Derselbe Weg aus uralter Zeit / Durch die Weinberge an den Kreuzen vor bei: / Alles wie immer! // Selbst nach einem halben Jahrhundert erkennt er das Haus, / Der junge Mann, erniedrigt, zu Brei geschlagen./ Ein dämonischer Ort, die finstere Zeit riecht aus den Ziegeln: / Todeshaus mit Hakenkreuzfahne ...“
Es gibt in diesem Buch keine schöne blaue Donau. Vergeblich warten die Ausflugsboote auf eine Hauptrolle. In einer der stärksten Geschichten, „Die Landung“, stolpert ein verwitweter Gesangslehrer, als er der Stadt den Rücken kehren will, durch eine Landzunge der Donau, in der sich die ungarische Geschichte wie auf einem Schuttplatz abgelagert hat. Der Fluchtversuch aus dem Alltag scheitert.
Ein Kraftzentrum des Bandes, gehasst und nicht loszuwerden, sind die Neunzigerjahre, die durch Pop, Rock und Punk schon vor 1989 begannen. „Schlangengrube“, nach dem Song „Snake Pit“ der Band The Cure, heißt eine Schlüsselerzählung. Sie überblendet die Erinnerung an Konzerte, Vorstadtkeller und selbstgemixte Cocktails der Neunzigerjahre mit der Gegenwart. Aus dem Punkfan ist ein Pornoregisseur geworden, der seine Freundin in immer drastischere Opferrollen zwingt.
Téreys Budapest-Erzählungen verabschieden alles Pittoreske, sind moderne Großstadtliteratur. Durch die Schauplätze werden Erinnerungen und Obsessionen entsichert, etwa beim Ingenieur, der nach seiner Scheidung die Stadt verlassen hat, wegen einer Konferenz zurückkehrt und die längst leer stehende Wohnung seiner Ex-Frau mit erotischen Fantasien bevölkert. Er passt zur Debatte über Ingmar Bergmans „Schweigen“, die im Filmklub geführt wird. Hoffentlich verwandelt sich in einer zweiten Auflage der „Bergmann“ wieder in den schwedischen Regisseur.
Ein Kraftzentrum des
Erzählungsbandes sind
die Neunzigerjahre
Mit Fotografien aus der Sammlung Fortepan, die seit 2010 Amateurbilder von Budapester Städtebewohnern archiviert, ist Téreys Erzählungsband illustriert.
Fotos: Sammlung Fortepan Budapest, Tamás Urbán,Arco Verlag
Dichter und Erzähler: János Térey, geboren 1970 in Debrecen, gestorben 2019 in Budapest.
Foto: Máté Péter/ Jelenkor Kiadó / Arco Verlag
János Térey: Budapester Überschreitungen. Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Wilhelm Droste. Arco Verlag, Wuppertal und Wien 2019. 124 Seiten,
20 Euro.
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