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»Bürgerliche Kälte« bezeichnet eine Gefühlslage der Gegenwart, mit der sich Bürger:innen vor der Gewalt schützen, die sie selbst verursachen. Den Kolonialismus und die Philosophie der Aufklärung im Blick, legt Henrike Kohpeiß dar, wie sich rassistische Gefühlsstrukturen ausbilden. Dafür treten die klassischen, kritischen Texte von Adorno und Horkheimer in einen Dialog mit dem Feld der Black Studies und Denker:innen wie Saidiya Hartman, Fred Moten und Denise Ferreira da Silva. Diese beiden intellektuellen Traditionen verbindet die radikale Kritik an der kapitalistischen und kolonialen…mehr

Produktbeschreibung
»Bürgerliche Kälte« bezeichnet eine Gefühlslage der Gegenwart, mit der sich Bürger:innen vor der Gewalt schützen, die sie selbst verursachen. Den Kolonialismus und die Philosophie der Aufklärung im Blick, legt Henrike Kohpeiß dar, wie sich rassistische Gefühlsstrukturen ausbilden. Dafür treten die klassischen, kritischen Texte von Adorno und Horkheimer in einen Dialog mit dem Feld der Black Studies und Denker:innen wie Saidiya Hartman, Fred Moten und Denise Ferreira da Silva. Diese beiden intellektuellen Traditionen verbindet die radikale Kritik an der kapitalistischen und kolonialen Einrichtung der Welt. Die Gewaltgeschichte des europäischen Kolonialismus wird so als Affekttheorie bürgerlicher Subjektivität gelesen, ihr wird jeder Anschein von Unschuld genommen.
Autorenporträt
Henrike Kohpeiß, Dr. phil., ist Philosophin und arbeitet in den Bereichen Kritische Theorie, Black Studies und Affekttheorie.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Martin Hartmann sucht erfolglos nach einem Fixpunkt, von dem aus Henrike Kohpeiß den Humanismus als Ganzes kritisiert. Er schätzt er den Versuch der Autorin zu "entlarven und abzuräumen", indem sie die bürgerliche Selbstkritik als 'zahnlos' entlarvt: auch sie ist nur eine Ware, die, zur leeren Routine geworden ist und letztendlich keine Veränderung herbeiführt. Keine eindeutige Antwort findet auf die Frage nach Kohpeiß' Sprecherposition: Wie entgeht sie ihrer eigenen "Kritik der Selbstkritik"? Lesenswert findet er Kohpeiß, wenn sie den Blick weitet auf unsere Kälte angesichts der Krisen und Kriege in der Welt und Ansätze der critical race studies diskutiert. Für Hartmann überzeugender als ihre Beschäftigung mit Adorno und dem Begriff des Bürgerlichen, den die Autorin nicht mit neuer Substanz zu füllen vermag, wie er findet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2023

Eine Kälte, die das Leben gut durchwärmt
Selbstkritik schadet nicht fürs Weitermachen in den gegebenen Verhältnissen: Henrike Kohpeiß widmet sich recht erbarmungslos Sozialtechniken der affektiven Abschottung

Seit dem Jahr 2014, so lautet eine Schätzung, sind rund 28.000 Menschen auf ihrer Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken. Manchmal erhalten einzelne Vorfälle Aufmerksamkeit, ein totes Kind am Strand, eine auffällig hohe Zahl an Toten, allzu offensichtlich illegale Pushbacks. Dann schauen wir kurz auf und nehmen zur Kenntnis, der eine oder andere mag erschüttert sein. Und gehen schließlich wieder Geschäften des Alltags nach.

Wie gelingt uns das? Das ist eine der Fragen, die die Berliner Philosophin Henrike Kohpeiß in ihrem Buch stellt. Wir wissen, was passiert, wir halten - zumeist jedenfalls - Menschenrechte und Humanität hoch, ja sind stolz auf die Werte, in deren Namen wir etwa die Ukraine im Krieg gegen Russland unterstützen - und doch lassen wir das Sterben auf dem Meer zu. Sind wir schlicht kollektiv schizophren? Sind wir Heuchler, denen Bekenntnisse über die Lippen gehen, an die wir uns in der Praxis nicht halten? Oder sind wir, wie Kohpeiß vermutet, erkaltet, haben wir uns abgehärtet, um den Schrecken der Realität nicht an uns heranzulassen? "Bürgerliche Kälte", so Kohpeiß, "kreiert in der Welt einen affektiven Schutzraum, in dem die unmittelbaren Folgen vieler Katastrophen nicht vordringen." Als Vergleich dient dabei die Funktionsweise einer Klimaanlage, die auf künstliche Weise Innenräume kühlt, "während es draußen brennt".

Auch wenn Kohpeiß mit dieser Diagnose an die klassische Studie über die "Verhaltenslehren der Kälte" von Helmut Lethen anknüpft, ist ihr wesentlicher Bezugspunkt zunächst Theodor W. Adorno, der Kälte einmal das Grundprinzip bürgerlicher Subjektivität genannt hat, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre. Anders als Adorno und Lethen aber will Kohpeiß unter Kälte nicht Gefühllosigkeit verstehen. Die Kälte, die sie meint, ist vielmehr selbst ein Affekt, ist eine "affektive Sozialtechnik", die wir wählen, gestalten oder mobilisieren können, wenn wir, wie es einmal etwas undeutlich heißt, der "Aufforderung des Gegenüber" ausweichen wollen.

Es ist also nicht so, dass wir von Natur aus voller Wärme für andere Menschen wären und uns zur Kälte erst erziehen müssen. Fast paradox könnte man sagen, dass Kälte ihre eigene Wärme hat, sie etabliert Beziehungen, stiftet ein bestimmtes "Wir", das sich von einem "Anderen" abgrenzt. Auf diese Abgrenzung kommt es an, sie dient als "Ressource für den Selbstschutz", sie blockt Mitgefühl genauso ab wie Wut oder Angst vor der wahrgenommenen Bedrohung eigener Identität. Man geht seinem Tagwerk nach, während es draußen brennt. Diese begrifflichen Bestimmungen erlauben Kohpeiß einerseits all die Mechanismen zu untersuchen, die in ihren Augen zur Erkaltung des bürgerlichen Menschen beitragen. Die moderne Bürokratie etwa zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihren eigenen Folgen häufig gleichgültig gegenübersteht, die Bindungen, die sie erzeugt, richten sich eher nach innen und gelten der Stabilität staatlicher Lenkungsfunktionen. Überraschenderweise thematisiert Kohpeiß auch die Fähigkeit zur Selbstkritik als Medium der Kälte. Auch wenn es ihr nie wirklich gelingt, den Begriff des Bürgerlichen über Adorno hinaus mit Substanz zu füllen, geht sie doch davon aus, dass ein kritischer Blick auf grundlegende Annahmen der eigenen Weltsicht wesentlich zur bürgerlichen Praxis gehört.

Gerade im Bereich der Kultur wird eine gewisse Form der Kritik an problematischen Zügen der Gesellschaft geradezu erwartet und zelebriert. Für Kohpeiß aber ist diese Kritik in ihrer Routine zahnlos geworden. Mehr noch, weil man das eigene moralische Versagen doch immer wieder offen benennt, muss man die eigene Lebensform als Ganze nicht wirklich infrage stellen. Auf eigentümliche Weise wird Selbstkritik damit bloß zu einer weiteren Macht der Abschottung und Selbstbestätigung, Kritik wird zu einer Ware, die konsumiert wird, um dann weiter zu machen wie zuvor. Auch das nennt Kohpeiß Kälte, Selbstkritik betreibe in Wirklichkeit Selbstschutz im Gewand des Fortschritts und mache sich derart auf tückische Weise unangreifbar.

Das ist hart formuliert, und es provoziert die Frage nach dem Standpunkt, von dem aus Kohpeiß ihre Form der Kritik betreibt. Bevor jedoch auf diesen Punkt im Buch eingegangen wird, gilt es, weitere Artikulationen der Kälte kennenzulernen. Wovor schützt sich das bürgerliche Subjekt? "Affekt und koloniale Subjektivität" - so heißt der Untertitel des Buchs. Für Kohpeiß ist es eben kein Zufall, dass vor allem Flüchtende aus dem globalen Süden im Mittelmeer ertrinken (während man für Flüchtende aus der Ukraine zunächst Verständnis hatte und sie mehr oder weniger bereitwillig aufnahm).

Man muss genau lesen: "kolonial", nicht "postkolonial" steht dort, wie man vielleicht erwarten könnte. Wenn auch der Kolonialismus politisch an Wirkmacht verloren haben mag, so übe der rassistisch getrübte koloniale Blick nach wie vor Einfluss aus. Wie auch sonst im Buch sucht Kohpeiß die Kälte im rassistischen Blick auf "Europas Andere" vor allem dort, wo wir uns gerade weit weg von ihr wähnen, etwa in der Empathie mit den Opfern der globalen Fluchtbewegungen oder in Reaktionen auf gelungene Rettungsaktionen auf dem Meer. Fast schon verstörend ist, wie Kohpeiß die Stellung Carola Racketes verhandelt und sich um eine Einschätzung ihrer Rettungsaktion vor Lampedusa bemüht. Gerade im linken politischen Spektrum wird Rackete gefeiert, Empathie mit den Opfern gehört zum guten Ton. Aber bringt diese Empathie die Opfer zum Sprechen? Oder setzen wir unsere Gefühle nicht einfach nur an die Stelle der Gefühle der Opfer, die dadurch noch einmal zum Schweigen gebracht werden? Kohpeiß sucht hier das Gespräch mit den vielfältigen Ansätzen der critical race studies und erweitert damit den Rahmen ihrer Kälteanalyse entschieden; manchmal zieht sie ihn zu weit und verliert den argumentativen Faden, was die Lektüre erschwert.

Gereicht hätte ja schon ein Blick in die westlich geprägte philosophische Literatur über die Thematik der Migration. Konrad Ott, David Miller, Andreas Cassee, Julian Nida-Rümelin - sie alle lassen die, um die es geht, so gut wie nie zu Wort kommen. Auf dem Titelbild von Nida-Rümelins Studie "Grenzen denken. Eine Ethik der Migration" ist niemand anders zu sehen als - Nida-Rümelin selbst. Das ist, vielleicht unfreiwillig, eindeutig und definiert klar, wer - ethisch abgesichert - sprechen darf und wer nicht. Auch das ist die Kälte, die Kohpeiß meint und für welche die Lektüre auf die Aufmerksamkeit schärft. Ihr Buch ist damit immer auch eine Selbstkritik der Philosophie und ihrer kalten Vernunft, ihrer "Komplizenschaft" mit Formen der Machterhaltung.

Bleibt die Frage, wie Kohpeiß ihrer eigenen Kritik der Selbstkritik entgeht? Von wo aus und mit welcher Stimme spricht "Bürgerliche Kälte"? Man wird auf diese Frage keine klare Antwort in dem Buch finden. Tatsächlich spielt sie am Ende mit dem Gedanken der Zerstörung der Institutionen (gemeint sind wohl die der akademischen Philosophie) und plädiert für ein Kollabieren überkommener ethischer Kategorien. Der Humanismus sei "als Ganzes faul", so heißt es. Alternativen werden so wenig wie bei Adorno benannt, das Buch will entlarven und abräumen. So zeigt es immerhin, wie weit man gehen kann mit der Verurteilung der eigenen philosophischen Instrumente, ganz so kaputt können sie also doch nicht sein. Das Buch entgeht der Ethik nicht, die es verdammt. MARTIN HARTMAN

Henrike Kohpeiß: "Bürgerliche Kälte". Affekt und koloniale Subjektivität.

Campus Verlag, Frankfurt am Main 2023. 406 S., br., 30,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»In ihrer brillanten Art, Texte der Frankfurter Schule und der Black Studies in einen Dialog zu bringen - die ansonsten allzu häufig in getrennte Sphären sortiert werden -, gelingt Kohpeiß eine dialektische und genealogische Glanzleistung.« Tatjana Söding, kritisch-lesen.de, 11.07.2023»Mit 'Bürgerliche Kälte' analysiert Henrike Kohpeiß umfangreich und tiefgreifend, wie es eine kühle und indifferente affektive Struktur bürgerlichen Subjekten ermöglicht, sich mit der Gewalt zu arrangieren, die die bürgerliche Ordnung für all jene bedeutet, die zu dieser Ordnung nicht gezählt werden.« Marvin Bucka, Socialnet.de, 20.11.2023»Henrike Kohpeiß widmet sich recht erbarmungslos Sozialtechniken der affektiven Abschottung.« Martin Hartmann, faz.net, 20.11.2023»[...] Henrike Kohpeiß staunt darüber, 'wie erfolgreich die bürgerliche Gesellschaft ihr Überleben organisiert, obwohl ihre Überwindung politisch und kulturell geboten scheint'« Leo Schwarz, 54books.de, 14.09.2023»'Bürgerliche Kälte' istein [...] inspirierendes Buch, das überzeugende Brücken schlägt zwischen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, den Affekttheorien und den Theorien der Dekolonisierung und der Blackness. Die wissenschaftliche Analyse der Funktionsweise der Bourgeoisie ist aktueller denn je. Doch um sie durchzuführen, müssen [...] marxistische, feministische und dekoloniale Theorie miteinander [...] gelesen werden. Wie fruchtbar solche Grenzüberschreitungen sein können, zeigt Henrike Kohpeiß in sehr eindrücklicher Weise.« Jonas Bens, soziopolis.de, 02.05.2024…mehr