Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2001Hinweis
BÜRGERSINN. Am 5. November 2000 feierte Wolfgang Mommsen, gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Hans, seinen siebzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlaß ist eine Sammlung seiner Aufsätze zur bürgerlichen Kultur erschienen. Ob deren Thema die Geschichte der Kunst- und Museumsvereine in Deutschland, die innovativen künstlerischen Strömungen des Kaiserreichs oder die Haltung der kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg sind, leitend ist stets die Frage nach der Verhärtung liberaler Ideen zu nationaler Ideologie, nach dem Ferment, das die Modernitätskeime bürgerlicher Kultur zum Saatgut der Deutschtümelei werden ließ. Es trifft den Kern seines Anliegens, als Umschlagbild Otto Dix' albtraumhaftes Gemälde "Schützengraben" (um 1917) zu wählen. Die Katastrophe von 1914 ist der Fluchtpunkt einer Entwicklung, die Nietzsche 1871 überspitzt auf den Nenner der "Niederlage, ja Extirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches" brachte. Mommsen zeigt, wie die Vorstellung einer genuin bürgerlichen Kultur von Beginn an mit der Idee der Nation verknüpft war. In einem Aufsatz über den Historismus zitiert er Gerwinus, der den Historiker als "Parteimann des Schicksals" und "natürlichen Verfechter des Fortschritts" definierte. Von diesem Glauben an das Walten "sittlicher Mächte" (Droysen) in der Geschichte nimmt Mommsen Abstand: Solche Erwartungen möchten "vermessen, ja sogar absurd erscheinen". Doch diese Distanznahme verdankt sich nicht Neigung, sondern einer aus Schaden gewonnenen Klugheit. Aus Mommsens Schriften spricht immer unverkennbar der Sympathisant mit der Sache der Freiheit. (Wolfgang J. Mommsen: "Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830-1933". Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2000. 272 S., br., 26,90 DM.)
rik
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BÜRGERSINN. Am 5. November 2000 feierte Wolfgang Mommsen, gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Hans, seinen siebzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlaß ist eine Sammlung seiner Aufsätze zur bürgerlichen Kultur erschienen. Ob deren Thema die Geschichte der Kunst- und Museumsvereine in Deutschland, die innovativen künstlerischen Strömungen des Kaiserreichs oder die Haltung der kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg sind, leitend ist stets die Frage nach der Verhärtung liberaler Ideen zu nationaler Ideologie, nach dem Ferment, das die Modernitätskeime bürgerlicher Kultur zum Saatgut der Deutschtümelei werden ließ. Es trifft den Kern seines Anliegens, als Umschlagbild Otto Dix' albtraumhaftes Gemälde "Schützengraben" (um 1917) zu wählen. Die Katastrophe von 1914 ist der Fluchtpunkt einer Entwicklung, die Nietzsche 1871 überspitzt auf den Nenner der "Niederlage, ja Extirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches" brachte. Mommsen zeigt, wie die Vorstellung einer genuin bürgerlichen Kultur von Beginn an mit der Idee der Nation verknüpft war. In einem Aufsatz über den Historismus zitiert er Gerwinus, der den Historiker als "Parteimann des Schicksals" und "natürlichen Verfechter des Fortschritts" definierte. Von diesem Glauben an das Walten "sittlicher Mächte" (Droysen) in der Geschichte nimmt Mommsen Abstand: Solche Erwartungen möchten "vermessen, ja sogar absurd erscheinen". Doch diese Distanznahme verdankt sich nicht Neigung, sondern einer aus Schaden gewonnenen Klugheit. Aus Mommsens Schriften spricht immer unverkennbar der Sympathisant mit der Sache der Freiheit. (Wolfgang J. Mommsen: "Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830-1933". Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2000. 272 S., br., 26,90 DM.)
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