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"Das ganz Alltägliche bleibt immer siegreich." Entstehungsbedingungen, Eigentümlichkeiten und Ausdrucksweisen, Themenwahl, Stilvarianz und Rezeption von Literatur und Dichtung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Produktbeschreibung
"Das ganz Alltägliche bleibt immer siegreich."
Entstehungsbedingungen, Eigentümlichkeiten und Ausdrucksweisen, Themenwahl, Stilvarianz und Rezeption von Literatur und Dichtung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996

Auf Stelzen zu schönen Werken
Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit in Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur / Von Hannelore Schlaffer

Belesenheit und Liebe zu den literarischen Werken sind - anders als erboste Schriftsteller und Kulturkritiker annehmen - bei den akademischen Literaturhistorikern nicht verlorengegangen. Doch geradezu verschämt verstecken sich jene Tugenden heutzutage hinter den nützlichen Informationen über die Bedingungen, unter denen die vergangene Literatur überhaupt erst möglich war, über den Markt, die Zeitschriften und anderen Medien, die die Literatur dem Publikum vermittelten, über die Lage der Schriftsteller, das Lesepublikum, die literarischen Vereine, das Mäzenatentum, über die politischen Umstände, auf die die Literatur reagierte, die Theorien, die sie trug. Der Weg zu den schönen Werken der Vergangenheit jedenfalls ist so lang geworden, daß es verzeihlich ist, wenn etwa ein Student in den fünf Jahren, die er Zeit hat, ihn zu durchwandern, bei der Dichtung selbst nie ankommt.

Symptomatisch für diese von den Professoren selbstverschuldete Unlust ihrer Studenten an der Lektüre ist der sechste Band von Hansers Sozialgeschichte der Literatur über den "Bürgerlichen Realismus und die Gründerzeit". Er ist in seinem ersten Teil so ausgezeichnet wie in seinem zweiten unausgewogen. Von den knapp siebenhundertzwanzig Seiten Text befassen sich die ersten dreihundert mit den Präliminarien des poetischen Schaffens, mit den sozialen, politischen und theoretischen Prämissen, ehe unter den gattungspoetischen Rubriken "Drama, Lyrik, Novelle, Roman" eine zufällige Auswahl von Dichtern und Werken abgehandelt wird, die großen, Keller, Stifter, Raabe, die kleineren, Heyse, Geibel, Freytag, und viele ganz kleine, Saar, Kurz, Alexis.

Sieht man davon ab, daß einige wenige Beiträge stilistisch auf Stelzen gehen, daß sie Wortschöpfungen und Komposita - "Kohärenzierung, Konsensbruch, Kosubjekt-Funktion, Evolutionsabnormität, Selbsterhaltungsinstrument" - erfinden, in deren Gelenken es arthrotisch knarzt, so breiten die Artikel des ersten Teils - sie unterrichten über den Begriff des Realismus, über Verbreitung und Rezeption der "realistischen" Literatur, über Arbeiterbewegung und -literatur, über Lehrprogramme für die Schule, über das Verhältnis der Dichtung zu den Naturwissenschaften - ihr großes Wissen aus, ohne in Informationen zu ersticken und ohne je gedankenlos zu werden.

Die Einleitung des Herausgebers Gerhard Plumpe verankert den Begriff des Realismus, der bislang als Epochenbezeichnung und Tendenz wie eine einmalige, gerade erst dem neunzehnten Jahrhundert entsprungene, historische Erscheinung gehandhabt worden ist, in der Tradition, indem er darauf hinweist, "daß der Realismusbegriff offensichtlich das Erbe einer Zentralkategorie der abendländischen Poetik angetreten hat, die von der Antike bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein die Diskussion um den Wirklichkeitsbezug der Dichtung bestimmte: die Kategorie der Naturnachahmung, der Mimesis".

Bei einer strikten Nachahmung der Wirklichkeit, so setzt Gerhard Plumpe seine Überlegung fort, müßte nun Schönheit als die Kategorie der Kunst par excellence preisgegeben werden. Das neunzehnte Jahrhundert erfindet sich darum den Begriff der "Verklärung", um so die Mimesis einer häßlichen Realität mit der klassischen Idee der Schönheit zu versöhnen. An solche Klärungen schließen sich Kapitel über die Ästhetik und Theorie der Literatur an, die allerdings viel zu ausführlich geraten.

Im übrigen stellt sich die Reihe als eine "Sozialgeschichte der Literatur" vor, doch hat sich der Akzent der Abhandlungen von der soziologischen zur politischen Faktengeschichte hin verschoben. Die Überlegungen zum Begriff der Realpolitik sind daher ebenso ausführlich wie die Ausführungen zum literarischen und poetischen Realismus. Auch Klaus-Michael Bogdals Kapitel über "Arbeiterbewegung und Literatur", das wohl zu den lehr- und gedankenreichsten des Bandes zählt, beschreibt weniger, wie es die Ideologiekritik der sechziger und siebziger Jahre tat, die Lebensumstände der Arbeiter und ihre Widerspiegelung in der Literatur.

Vielmehr erscheint die Arbeiterliteratur als Medium der sozialdemokratischen Politik: "So bleibt als unbestrittene Aufgabe der Literatur innerhalb der Arbeiterbewegung, das Klassenspezifische der Arbeiterpolitik in welthistorischer Perspektive zu deuten. Literatur soll veranschaulichen, ,daß die Sozialdemokratie nur nominell eine Partei' ist, in Wirklichkeit jedoch die Sache ,der Kultur, die Sache der Menschheit' vertrete."

Wer nicht selbst politisch handelt, sondern die Politik von außen betrachtet, stützt sein Urteil im allgemeinen auf einen vagen Begriff von Humanität, der Handlungszwänge im allgemeinen für gering erachtet und lieber nach dem Nutzen politischer Entscheidungen für die Privatexistenz fragt. Folge einer solchen politischen Perspektive der Autoren ist daher ein gelegentlicher Moralismus. Er bleibt jedoch nur eine Kontur am Horizont dieser Literaturgeschichte, die Details verblassen nicht vor ihm.

Gleichwohl erscheint Bismarck, auch wenn sein Name nicht allzuoft genannt ist, als Bezugsperson der Kapitel des ersten Teils über die Zirkulation der Literatur. Der Realpolitik des gründerzeitlichen Deutschland entsprechen die konservativen Lehrpläne, wie etwa die "Stiehlschen Regulative", ebenso wie die Arbeiterliteratur, die ihr Konzept gegen die Bismarcksche Sozialpolitik entwickelt.

Maximilian II. von Bayern eröffnet den anderen, den eigentlich literaturhistorischen Teil des Bandes. Zum konservativen Politiker Bismarck stellt er, der aus München ein Refugium der kulturellen Antimoderne macht, das kulturpolitische Pendant dar. Ein Kapitel über den Münchner Dichterkreis, dessen Werke in gleichem Maße Politik wie Poesie sind, bildet das Scharnier, das die vorbereitenden sozialgeschichtlichen Abhandlungen mit den literaturhistorischen verknüpft. Doch diese Beiträge sind inhomogen und setzen, da sie von Spezialisten geschrieben sind, willkürliche Akzente.

Eine allzu genaue Kenntnis im Detail erweist sich in einer Literaturgeschichte als Nachteil. Literaturgeschichten von einem einzigen Verfasser hingegen besitzen den Vorteil, daß dieser das gesamte Gebiet, das er behandelt, überschaut und die Bedeutung der einzelnen Teile gegeneinander abwägen kann. Hier hingegen wird dem Münchner Dichterkreis mit fünfunddreißig Seiten genau soviel Raum gegönnt wie der gesamten übrigen deutschen Lyrik in dieser Epoche, in der die eigentlich bedeutenden Gedichte - die Mörikes, Conrad Ferdinand Meyers, Storms - außerhalb Münchens entstehen.

Aber auch innerhalb der gattungspoetischen Abschnitte ist die Rangordnung nicht selten willkürlich. Freilich gehört es sich in der modernen Literaturwissenschaft nicht mehr, einen Kanon und eine hierarchische Skala von guten und besseren Werken zu akzeptieren. Die Herausgeber scheinen sich statt dessen für eine exemplarische Methode entschieden zu haben: Werke werden demnach besprochen, sofern sie beispielhaft für eine bestimmte Stilrichtung oder eine Tendenz sind. Aber auch dieses Verfahren wird von den Verfassern äußerst unzulänglich gehandhabt. Ein Germanistikstudent zum Beispiel, der sein Examen mit den Kenntnissen über Hebbel bestreiten müßte, wie er sie aus diesem Band gewinnen kann, würde wieder einmal seinem Prüfer Gelegenheit geben, über das literarische Desinteresse der heutigen Studenten die Hände zu ringen.

Die "Nibelungen"-Trilogie und "Herodes und Mariamne" werden gerade einmal erwähnt, im übrigen befassen sich einige Seiten damit, "das Bemühen Hebbels in ,Agnes Bernauer' um die Bedeutung des Politischen" zu zeigen. Im Register wird, damit dieser produktive und erfolgreiche Dramatiker nicht gar so mager daherkommt, "Der Nachsommer" als sein Werk aufgeführt, womit aber nichts anderes gemeint ist als eine Rezension von Stifters Roman, die bei Hebbel gerade etwas mehr als eine Druckseite umfaßt.

Die Gattungspoetik, nach der im Inhaltsverzeichnis die literarischen Kapitel organisiert sind, bestimmt dennoch nicht die Perspektive der Beiträge: an der literarischen Form, also an der ästhetischen Erscheinung ist ihnen wenig gelegen. Das Kapitel über die Novelle begnügt sich mit reinen Inhaltsangaben, auch das über den Roman, etwa über Stifters "Nachsommer", verfolgt inhaltliche Perspektiven, Motive und Ideen wie Natur, Liebe, Kunst, Bildung; bei der Charakterisierung von Kellers Werk wiederum dominiert die psychologische Deutung, die allerdings den Leser durch ihre genaue Beobachtung fasziniert.

Das Buch, das so entschieden sozialgeschichtlich und politisch akzentuiert ist, erscheint immerhin im Rahmen einer mehrbändigen Literaturgeschichte. Dennoch sind die historischen Linien innerhalb der Kapitel dünn gezogen, wenn sie nicht ganz weggelassen wurden. Die Epoche des Realismus erscheint in sich rund und schön, kaum werden Beziehungen zu Vorgängern hergestellt, kaum entsteht in ihr etwas, was in die Zukunft weist, und am seltensten werden Vergleiche zur europäischen Literatur gezogen, etwa zur französischen Lyrik oder zum englischen Roman. Der Verlust der historischen Perspektive - trotz der Fülle historischen Materials - entpuppt sich nun aber als gravierender Nachteil: Werke minderen Ranges zu lesen würde sich nur rechtfertigen, wenn sich an ihnen die literaturgeschichtliche Entwicklung Schritt für Schritt verfolgen ließe.

Notwendig also produziert eine Literaturgeschichte wie diese, die so recht keine mehr ist, die Leser - und vor allem werden das Studenten sein -, die nicht mehr lesen. Sie werden durch die Sozialgeschichte des literarischen Lebens angeregt, unter den literarischen Werken gerade noch ein paar Belege für ihr aufgeklärtes Bewußtsein zusammenzusuchen.

Es ist schiere Ketzerei, das alte Standardwerk über diese Epoche zu empfehlen, Fritz Martinis "Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus". Und dennoch: Wollte der Examenskandidat reüssieren, so könnte er auf das ältere Buch nicht verzichten. Martinis große Kenntnisse im Bereich der Literatur, seine Entscheidung für eine Hierarchie bedeutender, heute noch lesenswerter Autoren, sein Blick für die Ästhetik der Formen wie für die Verbindungen zur europäischen Literatur bestimmen, auch wenn sich jeder schämt, das zuzugeben, noch heute das literaturgeschichtliche Bewußtsein der gebildeten Leser und mehr noch der professionellen Germanisten. Sie erwarten deshalb immer noch, daß jeder, der sich für Literatur interessiert, sich dieses Wissen aneignet, und dennoch verheimlichen sie es zugunsten eines politischen Unterrichts.

Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Band 6: "Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848-1890". Herausgegeben von Edward McInnes und Gerhard Plumpe. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1996. 896 S., geb., 148,- DM.

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