Die funkelnde Formel einer »Neuen Bürgerlichkeit« sorgt seit Jahren für Aufsehen. Neu an dieser forcierten Thematisierung von Bürgerlichkeit und Bürgertum ist, dass sie in der Berliner Republik alle intellektuellen Generationen und Milieus umfasst und gleichermaßen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft als Debatte vorangetrieben wird. Was für ein Potential für die Analyse und Orientierung moderner Lebensformen steckt im Streit um die »Rückkehr der Bürgerlichkeit«? Kann - und soll - es im 21. Jahrhundert überhaupt noch ein Bürgertum als Träger einer »neuen Bürgerlichkeit« geben? Mit Beiträgen von: Clemens Albrecht, Karl Heinz Bohrer, Norbert Bolz, Heinz Bude, Andreas Fahrmeir, Joachim Fischer, Manuel Frey, Jens Hacke, Bernd Kauffmann, Hans-Peter Müller, Andreas Reckwitz, Karl-Siegbert Rehberg, Tilman Reitz.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2010Distinktion braucht es einfach überall
Von neuer Bürgerlichkeit ist mittlerweile viel die Rede. Doch klar wird selten, wie viel daran Beschreibung, Wunsch oder auch Polemik ist: Ein Sammelband besichtigt die Evokation alter Ideale unter Bedingungen der Gegenwart.
Es scheint, als habe die neue Bürgerlichkeit, die zunächst als kulturbürgerliche Wert- und Sittendebatte auftauchte, mit den jüngsten Bürgerprotesten ihren politischen Reflex gefunden. Das bürgerschaftliche Engagement reicht hier klar erkennbar über lokale Bedeutung hinaus, und in Stuttgart, wo sich Bürgerlichkeit unter anderem als Konflikt zwischen Bleibenden und Durchreisenden zeigte, trat ein Element hervor, das auch in der kulturbürgerlichen Debatte zentral ist: das Verlangen nach Unterscheidbarkeit und Festigkeit, das auch der wiedererwachten Wertschätzung von Manieren und Familie, der Blüte von Museen und Stiftungen, der Klassikerpflege und den Kanonbemühungen zugrunde liegt.
Die intuitive Überzeugung, die neue Bürgerlichkeit sei trotzdem nur Übergangserscheinung und Nachahmungskultur, weil sie sich auf keine bürgerliche Schicht mehr stützen könne, hat Hans-Ulrich Wehler mit dem Verweis auf eine Reihe von Studien bestritten, die eine strukturelle Konstanz des Bürgertums bis in die Gegenwart belegen. Der jetzt erschienene Sammelband "Bürgerlichkeit ohne Bürgertum" geht an diesem Einwand elegant vorbei: Die neue Bürgerlichkeit, ist seine These, kann auch ohne Trägerschicht auskommen, weil sie nur auf die Ausweitung einer Norm und Haltung abzielt. Die Umstände für diese Expansion sind günstig. Das Bürgerliche hat viele seiner Gegner überlebt oder vereinnahmt. Die sozialistische Polemik ist weggefallen, die Protestgeneration etabliert. Auch die Grünen tragen ihre strukturelle Bürgerlichkeit immer deutlicher zur Schau. Dazu schafft die Migration neuen Distinktionsbedarf. Während die antibürgerliche Provokationsgeste heute ins Leere zielt, ist in der Wüste einer leergelaufenen Massenkultur das Gespenst der Unterschicht wieder aufgetaucht.
Vor allem aber ist es der Schwund von Mittelklasse und Sozialstaat, der bürgerlicher Pflicht- und Leistungsethik zuspielt. Wer in der Schere zwischen denen, die sich selbst versorgen, und denen, die sich versorgen lassen, seinen Platz auf der aktiven Seite haben möchte, ist mit bürgerlichen Tugenden gut bedient. Aus dem weiten bürgerlichen Wertekatalog legen die Autoren daher immer wieder den Akzent auf Eigeninitiative und Selbstbestimmung, auch als wirksame Mittel gegen die Deklassierungsängste in der Globalisierungsdynamik. Heinz Bude sieht das Ideal des Bürgers mit den gestiegenen Selbstverantwortunganforderungen der modernen Arbeitswelt geradezu automatisch verjüngt.
Daneben bezeugt die Renaissance des Bürgerlichen die Bedeutung des historischen Datums 1989. Joachim Fischer weist auf die bisher unterschätzte Zäsur hin, die in der Anerkennung des westlichen Modells durch auf sozialistischem Boden gewachsene Bürgerbewegungen liegt. Das gestiegene Selbstbewusstsein der Berliner Republik geht mit der demonstrativen Abkehr von der Bonner Arbeitnehmerrepublik einher. Der gesichtslose Zivilist kann die neue Sehnsucht nach Prägnanz und Distinktion nicht befriedigen.
Es ist dieser Wille zur Bürgerlichkeit, den der Band ausführlich dokumentiert und der stark auf seine eigene Argumentation abfärbt. Als soziologisches Erklärungsmuster und Aufbauhelfer ersehnt, wird der Bürger kaum noch an seinem gebrochenen universalen Maßstab gemessen, sondern nach seinem Dienstleistungswert befragt. Der klassische Topos der Künstlerkritik an Leidenschaftsverzicht und Äquivalenzdenken taucht nur noch am Rande auf. Keine Rede davon, dass die neue Unangefochtenheit klassischer Kultur auch auf dem Pakt mit der Eventkultur beruht. Joachim Fischer treibt die Begriffsgymnastik so weit, dass auch Wissensquiz und Shoppingcenter problemlos im bürgerlichen Kanon unterkommen. Die begriffliche Kontinuität müssen semantische Zugeständnisse retten. Karl-Siegbert Rehberg weist demgegenüber zu Recht darauf hin, dass es Bürgerlichkeit als alle Lebensbereiche durchziehende Distinktionsform nicht mehr gibt.
Erstaunlich ist, dass die Umformung der Universität und die Unterhöhlung bürgerlicher Solidität durch Digitalisierungsprozesse weitgehend ausgeblendet bleiben. Die Manie des öffentlichen Bekenntnisses in sozialen Netzwerken etwa harmoniert schlecht mit bürgerlicher Intimität. Wenn die Gegenwart auch partiell auf bürgerliche Formen zugreift, so meidet sie in der Regel ihre moralische Komponente. Auf Selbstverantwortung allein lässt sich aber noch kein umfassender Begriff von Bürgerlichkeit gründen.
Es ist letztlich eine Bürgerlichkeit aus der Defensive, die ihre Semantik aus dem neunzehnten Jahrhundert hinüberrettet und jetzt zur Offensivkraft berufen wird. Ähnlich der wiedererwachten Spiritualität hat sie Bedarfs-, aber keinen Bekenntnischarakter und lässt in dieser Optionalität auch unbürgerliche Züge zu. Die Autoren des Buches reflektieren das alles, normativer Anspruch und Wunsch ragen aber oft über empirische Befunde hinaus. Jens Hacke empfiehlt Bürgerlichkeit als Leitwert von überhistorischer Geltung. Hans-Peter Müller betont die Bedeutung der ideellen Triebfeder beim welthistorischen Aufstieg des Bürgertums, beschwört dann aber das blutleere Fortleben einer Institution gewordenen bürgerlichen Haltung, die keine emphatischen Träger mehr braucht. Ritterlichkeit als Haltung überdauert das Rittertum, daran erinnert Norbert Bolz. Man weiß auch, wo eine zur Lebensform gemachte Ritterlichkeit endet.
THOMAS THIEL
"Bürgerlichkeit ohne Bürgertum". In welchem Land leben wir?
Hrsg. von Heinz Bude, Joachim Fischer und Bernd Kauffmann. Wilhelm Fink Verlag. München 2010. 232 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von neuer Bürgerlichkeit ist mittlerweile viel die Rede. Doch klar wird selten, wie viel daran Beschreibung, Wunsch oder auch Polemik ist: Ein Sammelband besichtigt die Evokation alter Ideale unter Bedingungen der Gegenwart.
Es scheint, als habe die neue Bürgerlichkeit, die zunächst als kulturbürgerliche Wert- und Sittendebatte auftauchte, mit den jüngsten Bürgerprotesten ihren politischen Reflex gefunden. Das bürgerschaftliche Engagement reicht hier klar erkennbar über lokale Bedeutung hinaus, und in Stuttgart, wo sich Bürgerlichkeit unter anderem als Konflikt zwischen Bleibenden und Durchreisenden zeigte, trat ein Element hervor, das auch in der kulturbürgerlichen Debatte zentral ist: das Verlangen nach Unterscheidbarkeit und Festigkeit, das auch der wiedererwachten Wertschätzung von Manieren und Familie, der Blüte von Museen und Stiftungen, der Klassikerpflege und den Kanonbemühungen zugrunde liegt.
Die intuitive Überzeugung, die neue Bürgerlichkeit sei trotzdem nur Übergangserscheinung und Nachahmungskultur, weil sie sich auf keine bürgerliche Schicht mehr stützen könne, hat Hans-Ulrich Wehler mit dem Verweis auf eine Reihe von Studien bestritten, die eine strukturelle Konstanz des Bürgertums bis in die Gegenwart belegen. Der jetzt erschienene Sammelband "Bürgerlichkeit ohne Bürgertum" geht an diesem Einwand elegant vorbei: Die neue Bürgerlichkeit, ist seine These, kann auch ohne Trägerschicht auskommen, weil sie nur auf die Ausweitung einer Norm und Haltung abzielt. Die Umstände für diese Expansion sind günstig. Das Bürgerliche hat viele seiner Gegner überlebt oder vereinnahmt. Die sozialistische Polemik ist weggefallen, die Protestgeneration etabliert. Auch die Grünen tragen ihre strukturelle Bürgerlichkeit immer deutlicher zur Schau. Dazu schafft die Migration neuen Distinktionsbedarf. Während die antibürgerliche Provokationsgeste heute ins Leere zielt, ist in der Wüste einer leergelaufenen Massenkultur das Gespenst der Unterschicht wieder aufgetaucht.
Vor allem aber ist es der Schwund von Mittelklasse und Sozialstaat, der bürgerlicher Pflicht- und Leistungsethik zuspielt. Wer in der Schere zwischen denen, die sich selbst versorgen, und denen, die sich versorgen lassen, seinen Platz auf der aktiven Seite haben möchte, ist mit bürgerlichen Tugenden gut bedient. Aus dem weiten bürgerlichen Wertekatalog legen die Autoren daher immer wieder den Akzent auf Eigeninitiative und Selbstbestimmung, auch als wirksame Mittel gegen die Deklassierungsängste in der Globalisierungsdynamik. Heinz Bude sieht das Ideal des Bürgers mit den gestiegenen Selbstverantwortunganforderungen der modernen Arbeitswelt geradezu automatisch verjüngt.
Daneben bezeugt die Renaissance des Bürgerlichen die Bedeutung des historischen Datums 1989. Joachim Fischer weist auf die bisher unterschätzte Zäsur hin, die in der Anerkennung des westlichen Modells durch auf sozialistischem Boden gewachsene Bürgerbewegungen liegt. Das gestiegene Selbstbewusstsein der Berliner Republik geht mit der demonstrativen Abkehr von der Bonner Arbeitnehmerrepublik einher. Der gesichtslose Zivilist kann die neue Sehnsucht nach Prägnanz und Distinktion nicht befriedigen.
Es ist dieser Wille zur Bürgerlichkeit, den der Band ausführlich dokumentiert und der stark auf seine eigene Argumentation abfärbt. Als soziologisches Erklärungsmuster und Aufbauhelfer ersehnt, wird der Bürger kaum noch an seinem gebrochenen universalen Maßstab gemessen, sondern nach seinem Dienstleistungswert befragt. Der klassische Topos der Künstlerkritik an Leidenschaftsverzicht und Äquivalenzdenken taucht nur noch am Rande auf. Keine Rede davon, dass die neue Unangefochtenheit klassischer Kultur auch auf dem Pakt mit der Eventkultur beruht. Joachim Fischer treibt die Begriffsgymnastik so weit, dass auch Wissensquiz und Shoppingcenter problemlos im bürgerlichen Kanon unterkommen. Die begriffliche Kontinuität müssen semantische Zugeständnisse retten. Karl-Siegbert Rehberg weist demgegenüber zu Recht darauf hin, dass es Bürgerlichkeit als alle Lebensbereiche durchziehende Distinktionsform nicht mehr gibt.
Erstaunlich ist, dass die Umformung der Universität und die Unterhöhlung bürgerlicher Solidität durch Digitalisierungsprozesse weitgehend ausgeblendet bleiben. Die Manie des öffentlichen Bekenntnisses in sozialen Netzwerken etwa harmoniert schlecht mit bürgerlicher Intimität. Wenn die Gegenwart auch partiell auf bürgerliche Formen zugreift, so meidet sie in der Regel ihre moralische Komponente. Auf Selbstverantwortung allein lässt sich aber noch kein umfassender Begriff von Bürgerlichkeit gründen.
Es ist letztlich eine Bürgerlichkeit aus der Defensive, die ihre Semantik aus dem neunzehnten Jahrhundert hinüberrettet und jetzt zur Offensivkraft berufen wird. Ähnlich der wiedererwachten Spiritualität hat sie Bedarfs-, aber keinen Bekenntnischarakter und lässt in dieser Optionalität auch unbürgerliche Züge zu. Die Autoren des Buches reflektieren das alles, normativer Anspruch und Wunsch ragen aber oft über empirische Befunde hinaus. Jens Hacke empfiehlt Bürgerlichkeit als Leitwert von überhistorischer Geltung. Hans-Peter Müller betont die Bedeutung der ideellen Triebfeder beim welthistorischen Aufstieg des Bürgertums, beschwört dann aber das blutleere Fortleben einer Institution gewordenen bürgerlichen Haltung, die keine emphatischen Träger mehr braucht. Ritterlichkeit als Haltung überdauert das Rittertum, daran erinnert Norbert Bolz. Man weiß auch, wo eine zur Lebensform gemachte Ritterlichkeit endet.
THOMAS THIEL
"Bürgerlichkeit ohne Bürgertum". In welchem Land leben wir?
Hrsg. von Heinz Bude, Joachim Fischer und Bernd Kauffmann. Wilhelm Fink Verlag. München 2010. 232 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2010Willensbürger
im Weltsystem
Noch ein Lebensstil-Angebot: Ein Zwischenbericht
zum Stand der Bürgerlichkeitsdebatte
Die Umwälzung von 1989 hat auch im kommunistischen Weltteil die Grundprinzipien einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung – ökonomischer Privatbesitz, politische Selbstorganisation, freie kulturelle Selbstverständigung – wiederhergestellt. Die Versuche des 20. Jahrhunderts zu kollektiven, staatlich reglementierten Vergemeinschaftungen wurden zu den Akten gelegt. Trotzdem bedeutet 1989 mehr als eine nachholende Revolution, weil die nun zusammenwachsende posttotalitäre Weltgesellschaft (auf Englisch: commercial-civil-creative society) längst im Bewusstsein der anderen Möglichkeit, also ihrer eigenen Nicht-Notwendigkeit existiert.
So argumentiert der Soziologe und Hellmuth-Plessner-Verehrer Joachim Fischer in dem anregenden Sammelband „Bürgertum ohne Bürgerlichkeit“, der die neue deutsche Bürgertums-Debatte zu einem Zwischenabschluss führt. Diesen weit gefassten, über Habitus- und Stilfragen hinausreichenden Bürgerlichkeitsbegriff sieht Fischer anderen soziologischen Gegenwartskonzepten wie „Kapitalismus“ oder Systemtheorie oder gar beschreibenden „Wimmelbegriffen“ wie „Risikogesellschaft“, „Erlebnisgesellschaft“ oder „planetarisches Kleinbürgertum“ als deutlich überlegen an: Denn er rückt die neue Weltgesellschaft in eine historische, dabei nicht geschichtsphilosophische Perspektive, und er gewichtet die Anteile von Unternehmens- und Kapitaleigentum, von zivilgesellschaftlicher Initiative und von individuellem Biographie-Design gleich; es gibt also nicht die eine ökonomische Basis, die den ganzen Rest erklärt, sondern es geht immer noch um die nur in der „okzidentalen Stadt“ (Max Weber) entwickelte, äußerst wandelbare westliche Lebensform.
Das mag bedenken, wer vieles am neuen Bürgerlichkeitsdiskurs geschwätzhaft findet; selbst wenn man „Bürgerlichkeit“ beispielsweise in der deutschen Nachwende-Gesellschaft nur als eines von mehreren Lebensstilangeboten relativiert, muss man doch zugeben, dass eben die Pluralität solcher Angebote etwas prinzipiell Bürgerliches ist. Auch wer sich für den stilistischen Proletarier-Retro entscheidet, tut dies, solange die Grundordnung bleibt, wie sie ist, im bürgerlichen Rahmen. Damit ist festgestellt, dass es mindestens zwei Ebenen in der heutigen Bürgerlichkeitsdiskussion gibt: die gesellschaftstheoretische einerseits und die immer noch ständische andererseits. Dies – übrigens eher unfreiwillig – immer wieder zu verdeutlichen, ist ein Verdienst dieses recht heterogenen Bandes.
Dort findet man ätzende Befragungen aus linksparteilich-klassentheoretischer Sicht ebenso wie hochfahrende Unterschichtsverwerfungen und Lebensführungs-Appelle aus den brillanten Federn von Karl Heinz Bohrer und Norbert Bolz. Marx und Nietzsche erstehen gleichermaßen aus ihren Gruften. Dazwischen tummelt sich der gewohnt ausgeruhte Heinz Bude, dem Joachim Fischer als lustigem „Theorietaktiker“ ausdrücklich den seriösen „theoriestrategischen“ Rahmen schaffen möchte.
Bude nämlich beobachtet im Übergang von der alten Bundesrepublik zur Berliner Republik die Ablösung eines klassenübergreifenden, sozialpartnerschaftlichen Modells der „Arbeitnehmergesellschaft“ durch eine fordernde Bürgerlichkeit, die auf Eigenverantwortung, Familiensinn, Gemeinwohlorientierung setzt, natürlich in nach-adelig meritokratisch erneuerter Version. Bude wiederholt dabei seine schon 2005 vorgestellte deutsche Generationentypologie, die vom „Weimarer Restbürger“ (Beispiel Hellmuth Becker), dem „skeptischem Neubürger“ (etwa Joachim Fest) zum „postrebellischen Willensbürger“ (Joschka Fischer) reicht.
Das Andere der Bürgerlichkeit – zählen überhaupt mehr als 20 Prozent unserer Gesellschaft im engeren Sinn dazu? – sind die jüngst neuentdeckten „Unterschichten“ und der Staat. An die Unterschichten, die es, wie Hans-Ulrich Wehler gegen sozialdemokratische Tüteligkeit festhält, selbstredend immer gegeben hat, richten sich Angebot und Appell zur Verbürgerlichung (Fördern und Fordern); ihnen gilt auch die Verachtung der altneuen Elite, die mit der Zeitschrift Merkur den Sozialstaat als Mutti verachtet. Der Staat soll nur das Regelwerk für Geselligkeit und Markt sichern, ohne den Menschen deswegen die Gemeinschaftsformen vorzuschreiben. Von Fall zu Fall lässt er sich vom Protest aus der „bürgerlichen Mitte“ zu Schlichtungsgesprächen bewegen.
Man merkt dem aus einer Tagung in Neuhardenberg im Jahre 2007 hervorgegangenen Band an, dass er im Kern bereits vor der Finanzkrise entstand. Seither sind die Sicherungsfunktionen des globalen Staatenverbunds wieder dramatisch ins Bewusstsein gerückt; und dass staatliche Friedensaufgaben nicht nur Recht und Ordnung, sondern auch soziale Grundsicherung umfassen, akzeptieren wir heute wieder leichter. Die Transferleistungen, die der Staat den Wohlhabenden abverlangt, schützen diese vor sozialen Unruhen, ja selbst vor Bettelei. Und bei aller Skepsis gegen ökonomistische Reduktionen: Ohne stabiles Finanzwesen funktioniert der ganze Laden nicht. So beobachten wir derzeit bei Euro und Dollar den dramatischen Versuch, wieder einmal die Grundlagen der bürgerlichen Welt zu retten. GUSTAV SEIBT
HEINZ BUDE, JOACHIM FISCHER, BERND KAUFFMANN (Hrsg.): Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir? Wilhelm Fink Verlag, München 2010. 231 Seiten, 16 Euro.
Hier erstehen Marx und
Nietzsche gleichermaßen
aus ihren Gruften
Unterschichten gab es immer
– ihnen gelten Angebote, Appelle
und Verachtung
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
im Weltsystem
Noch ein Lebensstil-Angebot: Ein Zwischenbericht
zum Stand der Bürgerlichkeitsdebatte
Die Umwälzung von 1989 hat auch im kommunistischen Weltteil die Grundprinzipien einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung – ökonomischer Privatbesitz, politische Selbstorganisation, freie kulturelle Selbstverständigung – wiederhergestellt. Die Versuche des 20. Jahrhunderts zu kollektiven, staatlich reglementierten Vergemeinschaftungen wurden zu den Akten gelegt. Trotzdem bedeutet 1989 mehr als eine nachholende Revolution, weil die nun zusammenwachsende posttotalitäre Weltgesellschaft (auf Englisch: commercial-civil-creative society) längst im Bewusstsein der anderen Möglichkeit, also ihrer eigenen Nicht-Notwendigkeit existiert.
So argumentiert der Soziologe und Hellmuth-Plessner-Verehrer Joachim Fischer in dem anregenden Sammelband „Bürgertum ohne Bürgerlichkeit“, der die neue deutsche Bürgertums-Debatte zu einem Zwischenabschluss führt. Diesen weit gefassten, über Habitus- und Stilfragen hinausreichenden Bürgerlichkeitsbegriff sieht Fischer anderen soziologischen Gegenwartskonzepten wie „Kapitalismus“ oder Systemtheorie oder gar beschreibenden „Wimmelbegriffen“ wie „Risikogesellschaft“, „Erlebnisgesellschaft“ oder „planetarisches Kleinbürgertum“ als deutlich überlegen an: Denn er rückt die neue Weltgesellschaft in eine historische, dabei nicht geschichtsphilosophische Perspektive, und er gewichtet die Anteile von Unternehmens- und Kapitaleigentum, von zivilgesellschaftlicher Initiative und von individuellem Biographie-Design gleich; es gibt also nicht die eine ökonomische Basis, die den ganzen Rest erklärt, sondern es geht immer noch um die nur in der „okzidentalen Stadt“ (Max Weber) entwickelte, äußerst wandelbare westliche Lebensform.
Das mag bedenken, wer vieles am neuen Bürgerlichkeitsdiskurs geschwätzhaft findet; selbst wenn man „Bürgerlichkeit“ beispielsweise in der deutschen Nachwende-Gesellschaft nur als eines von mehreren Lebensstilangeboten relativiert, muss man doch zugeben, dass eben die Pluralität solcher Angebote etwas prinzipiell Bürgerliches ist. Auch wer sich für den stilistischen Proletarier-Retro entscheidet, tut dies, solange die Grundordnung bleibt, wie sie ist, im bürgerlichen Rahmen. Damit ist festgestellt, dass es mindestens zwei Ebenen in der heutigen Bürgerlichkeitsdiskussion gibt: die gesellschaftstheoretische einerseits und die immer noch ständische andererseits. Dies – übrigens eher unfreiwillig – immer wieder zu verdeutlichen, ist ein Verdienst dieses recht heterogenen Bandes.
Dort findet man ätzende Befragungen aus linksparteilich-klassentheoretischer Sicht ebenso wie hochfahrende Unterschichtsverwerfungen und Lebensführungs-Appelle aus den brillanten Federn von Karl Heinz Bohrer und Norbert Bolz. Marx und Nietzsche erstehen gleichermaßen aus ihren Gruften. Dazwischen tummelt sich der gewohnt ausgeruhte Heinz Bude, dem Joachim Fischer als lustigem „Theorietaktiker“ ausdrücklich den seriösen „theoriestrategischen“ Rahmen schaffen möchte.
Bude nämlich beobachtet im Übergang von der alten Bundesrepublik zur Berliner Republik die Ablösung eines klassenübergreifenden, sozialpartnerschaftlichen Modells der „Arbeitnehmergesellschaft“ durch eine fordernde Bürgerlichkeit, die auf Eigenverantwortung, Familiensinn, Gemeinwohlorientierung setzt, natürlich in nach-adelig meritokratisch erneuerter Version. Bude wiederholt dabei seine schon 2005 vorgestellte deutsche Generationentypologie, die vom „Weimarer Restbürger“ (Beispiel Hellmuth Becker), dem „skeptischem Neubürger“ (etwa Joachim Fest) zum „postrebellischen Willensbürger“ (Joschka Fischer) reicht.
Das Andere der Bürgerlichkeit – zählen überhaupt mehr als 20 Prozent unserer Gesellschaft im engeren Sinn dazu? – sind die jüngst neuentdeckten „Unterschichten“ und der Staat. An die Unterschichten, die es, wie Hans-Ulrich Wehler gegen sozialdemokratische Tüteligkeit festhält, selbstredend immer gegeben hat, richten sich Angebot und Appell zur Verbürgerlichung (Fördern und Fordern); ihnen gilt auch die Verachtung der altneuen Elite, die mit der Zeitschrift Merkur den Sozialstaat als Mutti verachtet. Der Staat soll nur das Regelwerk für Geselligkeit und Markt sichern, ohne den Menschen deswegen die Gemeinschaftsformen vorzuschreiben. Von Fall zu Fall lässt er sich vom Protest aus der „bürgerlichen Mitte“ zu Schlichtungsgesprächen bewegen.
Man merkt dem aus einer Tagung in Neuhardenberg im Jahre 2007 hervorgegangenen Band an, dass er im Kern bereits vor der Finanzkrise entstand. Seither sind die Sicherungsfunktionen des globalen Staatenverbunds wieder dramatisch ins Bewusstsein gerückt; und dass staatliche Friedensaufgaben nicht nur Recht und Ordnung, sondern auch soziale Grundsicherung umfassen, akzeptieren wir heute wieder leichter. Die Transferleistungen, die der Staat den Wohlhabenden abverlangt, schützen diese vor sozialen Unruhen, ja selbst vor Bettelei. Und bei aller Skepsis gegen ökonomistische Reduktionen: Ohne stabiles Finanzwesen funktioniert der ganze Laden nicht. So beobachten wir derzeit bei Euro und Dollar den dramatischen Versuch, wieder einmal die Grundlagen der bürgerlichen Welt zu retten. GUSTAV SEIBT
HEINZ BUDE, JOACHIM FISCHER, BERND KAUFFMANN (Hrsg.): Bürgerlichkeit ohne Bürgertum. In welchem Land leben wir? Wilhelm Fink Verlag, München 2010. 231 Seiten, 16 Euro.
Hier erstehen Marx und
Nietzsche gleichermaßen
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Unterschichten gab es immer
– ihnen gelten Angebote, Appelle
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Restlos überzeugt von diesem Sammelband zum Thema neue Bürgerlichkeit ist Thomas Thiel jedenfalls nicht. Obgleich er die Reflexionen der Autoren eigentlich recht gut gestreut findet und ihm die vielbeschworenen bürgerlichen Tugenden der Selbstverantwortung und Leistungsorientierung als wichtige Momente des bürgerlichen Wertekatalogs ausreichend beleuchtet erscheinen, hätte er sich die These von der frei schwebenden Bürgerlichkeit ohne Trägerschicht doch besser belegt gewünscht. Die empirischen Befunde, meint er, fallen doch allzu häufig hinter den normativen Anspruch zurück. So wird der Wille zur Bürgerlichkeit zwar gut dokumentiert, meint Thiel, zugleich jedoch sorge er auch für eine entsprechende Vorformung des Bürgers zum Erklärungsmuster.
© Perlentaucher Medien GmbH
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