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Die evangelischen Pfarrer sahen sich im 19. Jahrhundert einem tief greifenden theologischen, kircheninstitutionellen, sozialen und kulturellen Wandel ausgesetzt - ein Prozess, durch den am Ende des 19. Jahrhunderts in Kirche und Gesellschaft nichts mehr so war wie zu seinem Anfang. Die Pfarrer reagierten darauf mit einer breit angelegten Selbstverständigungsdebatte. Als Bürger und kirchliche Beamte waren sie zunehmend bestrebt, den Gang der gesellschaftlichen und kirchenpolitischen Entwicklung maßgeblich mitzubestimmen.Frank-Michael Kuhlemann zeichnet die Geschichte der Verbürgerlichung der…mehr

Produktbeschreibung
Die evangelischen Pfarrer sahen sich im 19. Jahrhundert einem tief greifenden theologischen, kircheninstitutionellen, sozialen und kulturellen Wandel ausgesetzt - ein Prozess, durch den am Ende des 19. Jahrhunderts in Kirche und Gesellschaft nichts mehr so war wie zu seinem Anfang. Die Pfarrer reagierten darauf mit einer breit angelegten Selbstverständigungsdebatte. Als Bürger und kirchliche Beamte waren sie zunehmend bestrebt, den Gang der gesellschaftlichen und kirchenpolitischen Entwicklung maßgeblich mitzubestimmen.Frank-Michael Kuhlemann zeichnet die Geschichte der Verbürgerlichung der evangelischen Pfarrerschaft in Baden nach und zeigt, wie sie Teil der bürgerlichen Gesellschaft wurde und mehr und mehr an den Kulturidealen und an der Weltdeutung des Bürgertums partizipierte. Er fragt nach der Mentalität der Pfarrer ebenso wie nach dem sozialen Handeln der Geistlichen in den Umbrüchen der modernen Gesellschaftsentwicklung. Dabei blieb Religion nicht auf den Raum der Kirche beschränkt; auch in der übrigen Gesellschaft kam den Pfarrern als den bildungsbürgerlichen Meinungsmachern eine tragende Bedeutung zu. Religion und Kirche, Milieus und Pfarrerschaft erscheinen in einem neuen Licht: modern und offen für Reformen in Gesellschaft, Politik, Kirchenpolitik und Kultur.
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Autorenporträt
Dr. Frank-Michael Kuhlemann ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Technischen Universität Dresden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2002

Gott geht in die Bürgerkirche
Frank-Michael Kuhlemann führt die Pfarrer aus Bielefeld heraus

1951 veröffentlichte Fritz Fischer einen berühmten Aufsatz: "Der deutsche Protestantismus und die Politik im 19. Jahrhundert". Der einstige Musterschüler Reinhold Seebergs entwickelte eine radikal kritische Sicht des deutschen Luthertums, dem er autoritären Untertanengeist, Demokratiefeindschaft und Verachtung aller bürgerlichen Liberalität vorwarf. Doch schon für Preußen ist Fischers einflußreiches Geschichtsbild zu undifferenziert. Den protestantischen Lebenswelten in vielen anderen deutschen Regionen wird es überhaupt nicht gerecht. Frank-Michael Kuhlemann will in seiner materialreichen Bielefelder Habilitationsschrift zur Sozialgeschichte und Mentalität protestantischer Pfarrer in Baden deshalb alternative Sichtweisen entfalten. Dazu grenzt er sich vom Konzept einer fortschreitenden "Entbürgerlichung" der protestantischen Pfarrerschaft ab, das Oliver Janz 1995 für Preußen entwickelt hatte (siehe F.A.Z. vom 21. März 1995).

Methodisch sensibel betont Kuhlemann die hohe Vielfalt der deutschen Protestantismen, die sich unter keinen homogenen Begriff subsumieren lassen. Der badische Protestantismus repräsentierte im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert jedenfalls eine bürgerlich-liberale Religionskultur eigener Art. Hier blieben die Bürger in Stadt und Land der Kirche enger als in anderen deutschen Regionen verbunden. Viele engagierten sich in kirchlichen Selbstverwaltungsorganen vom Kirchengemeinderat bis hinauf zur Generalsynode und waren in zahlreichen kirchennahen Vereinen aktiv. Kuhlemann zeichnet Bilder einer "Bürgerkirche", die zur Revision vieler Leitannahmen der älteren Protestantismusforschung zwingt. Bürgerliche Christlichkeit war kein unpolitischer Seelenglaube. Sie verband sich mit hohem politischen Engagement, vor allem auf kommunaler Ebene.

Auf der Grundlage eines kollektivbiographischen Datensatzes für 1700 badische Pfarrer werden soziale Herkunft, Heiratsverhalten, materielle Lage, Ausbildungsgang, Studienwege und Karrieremuster beschrieben. Über Pfarrervereinsblätter, Synodalprotokolle und Kirchengesetze erschließt Kuhlemann die professionspolitischen Strategien der organisierten Pfarrerschaft, die die Statusängste angesichts der notorischen Überfüllungskrisen ihres Berufes durch den Ruf nach staatlicher Intervention bearbeiteten. Die überkommene hohe Selbstrekrutierungsquote der Pfarrer nahm seit 1860 ab. Immer mehr Pfarrer kamen aus bildungsbürgerlichen Familien. Ihre überdurchschnittlich begabten Söhne studierten nicht Theologie, sondern andere Geisteswissenschaften, kaum aber naturwissenschaftliche Fächer. Auch in den Kommunikationsmustern, dem politischen Habitus, den ästhetischen Wertorientierungen und den Sozialutopien einer versöhnteren Moderne waren Badens protestantische Pfarrer entschieden bürgerlich.

Präzise beschreibt Kuhlemann die mentalen Stimmungslagen und Zeitdeutungsmuster seiner Pastoren. Er fragt nach sozialen Verhaltensweisen und Vergesellschaftungsprozessen, vergleicht Selbstbilder mit Fremddeutungen und analysiert den religionspolitischen Dauerdiskurs, in dem die Pfarrer über die Prägekraft des christlichen Glaubens in der als krisenhaft erlittenen Moderne stritten. Leider treten die innerkirchlich polarisierenden theologischen Kontroversen über Glaube und Geschichte oder kirchliches Bekenntnis und subjektive Religiosität in den Hintergrund. Dies erklärt sich aus dem entschiedenen Interesse des Autors, die tiefen Gegensätze abzublenden, die in Frömmigkeitsstil, moralischen Normen und parteipolitischen Präferenzen zwischen liberalen Kulturprotestanten und kirchlich Konservativen bestanden.

Kuhlemann beweist Mut, indem er gleich mehrere Thesen seines Mentors Hans-Ulrich Wehler revidiert. Wehler hatte behauptet, daß die Verbürgerlichung der deutschen Gesellschaft die kirchlichen Sozialmilieus nicht erreicht habe. Kuhlemann zeigt das Gegenteil und weist in subtiler Revision der alten Bielefelder Religionsignoranz nach, daß viele Bürger häufiger in die Kirche als ins Theater und lieber in den Missionsverein als in den Kegelklub gingen. Seine emphatische Kritik an Bielefelder Lokaldogmen überzeugt aber nicht, wenn er die Gegensätze zwischen liberalen und konservativen Protestanten abschwächt. Gegen Gangolf Hübingers Konzept der "innerprotestantischen Kulturkämpfe" betont er elementare Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen protestantischen Milieus. Gewiß, wenn sie gegen die angeblich modernitätsblöden, mittelalterlich bornierten Katholiken hetzten, waren sich viele Protestanten einig. Ansonsten bestanden zwischen Liberalen und "Positiven", Denkgläubigen und Bekenntnistreuen aber mehr Differenzen als Gemeinsamkeiten. Kuhlemann vernachlässigt hier allzusehr die Ebene theologischer Theorieproduktion.

In der Heidelberger Fakultät lehrte vor 1914 der radikal konservative Dogmatiker Ludwig Lemme neben dem liberalen Historisten Ernst Troeltsch. Sie gaben sich bei Fakultätssitzungen zwar die Hand, lebten aber in tiefgreifend verschiedenen religiös-kulturellen Welten. Literarisch nahmen sie sich nicht zur Kenntnis, und in dieselbe Kirche gingen sie auch nicht. Über Kuhlemanns Beschwörung einer inneren Einheit des "badischen Protestantismus" hätten sich wohl beide gewundert. Dennoch eröffnet diese vorzügliche Habilitationsschrift faszinierende neue Ausblicke auf die zerklüfteten religiösen Landschaften der Moderne. Mit großer Klarheit macht Kuhlemann deutlich, daß sich der deutsche Protestantismus dank seiner hohen inneren Vielfalt nur in regionalen und lokalen Perspektiven erfassen läßt. In Baden war jedenfalls alles ganz anders als in Preußen.

FRIEDRICH WILHELM GRAF.

Frank-Michael Kuhlemann: "Bürgerlichkeit und Religion". Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der evangelischen Pfarrer in Baden 1860-1914. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001. 555 S., br., 70,56 .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Diese Habilitationsschrift eröffnet einen neuen Blick auf die "Vielfalt der deutschen Protestanismen", lobt Rezensent Friedrich Wilhelm Graf, der sehr angetan ist von dem "Mut" des Autors, seiner Präzision und seiner "methodischen Sensibilität". Frank-Michael Kuhlemanns materialreiche "kollektivbiografische" Untersuchung über 1700 badische Pastoren zwinge zu einer "Revision vieler Leitannahmen der älteren Protestantismusforschung", insbesondere das Bild einer badischen 'Bürgerkirche' zeichnet Kuhlemann neu, begeistert sich Graf. Aber alles kann ihn dann doch nicht überzeugen. Die Gegensätze zwischen konservativen und liberalen Protestanten werden ihm zu sehr eingeebnet, innerkirchliche theologische Auseinandersetzungen zu weit ausgeblendet. Das ändert aber nichts am Gesamturteil des Rezensenten, das da lautet: "vorzüglich"!

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