Für den Kleinen Brockhaus von 1949 war es um die Sache des Bürgertums klar bestellt: In den westeuropäischen Ländern ist es eine der großen, für das öffentliche Leben maßgebenden Massenschichten. Doch blieb die Existenz eines Bürgertums in Deutschland nach 1945, jenseits solcher lexikalischer Gewißheiten, nicht bloße Einbildung? Ein bestenfalls visionäres Projekt, in der bald alle Bürger sein wollten, ohne daß ein Bürgertum je vorhanden war und sein konnte? Bei Abgesängen auf das Bürgertum ist indessen Vorsicht geboten. Noch jedes Mal haben sie sich als verfrüht erwiesen, und die Geschichte der Bundesrepublik bietet hierfür das beste Beispiel, folgte doch dem sich dezidiert antibürgerlich stilisierenden Nationalsozialismus eine Renaissance der bürgerlichen Ordnung. Sie erwies sich als erfolgreich noch in ihrer Ablehnung, wie etwa im Epochenjahr 1968, in dem sich die Kritik am Bestehenden nur als Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft gerieren konnte.Der vorliegende Sammelband fragt erstmals nach den fortdauernden Elementen von Bürgerlichkeit in der deutschen Nachkriegsgeschichte. In autobiographisch motivierten Interpretationen sowie in historischen und soziologischen Untersuchungen zeigen die Autoren, was vom einstigen politischen Ordnungsmodell der bürgerlichen Gesellschaft weiter Bestand hatte und selbst noch in ihren Wandlungsprozessen die Geschichte der Bundesrepublik zu beeinflussen vermochte. Damit greift der Band zugleich in aktuelle Diskussionen um die Bürger- oder Zivilgesellschaft ein. Denn der Ruf nach einer neuerlichen Etablierung bürgerlicher Werte im Zeichen der Krise erschöpft sich in bloßer Rhetorik, solange nicht die Bedingungen ihrer vormaligen Existenz untersucht werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.11.2006Hartnäckiges Bürgertum
Der Abgesang auf eine Lebensform scheint verfrüht
Ist die viel beschworene „neue Bürgerlichkeit”, wie Jens Bisky in der SZ einmal schrieb, „nur ein Lifestyle unter vielen” und eine „hilflose Beschwörung einer Lebensform, die unwiederbringlich entschwunden” ist? Nostalgische Motive lagen den beiden Herausgebern und ihren Koautoren – Historiker, Soziologen, ein Politologe – gewiss fern. Doch welche Schwierigkeiten es bereitet, „Bürgertum” und „Bürgerlichkeit” nach 1945 begrifflich präzise zu fassen, verdeutlicht jeder der fünfzehn Beiträge mehr oder weniger explizit.
In seiner Einführung rekapituliert Manfred Hettling die bisherige Debatte über den Bürgertumsbegriff, die zwischen Citoyen und Bourgeois, zwischen politischem und soziokulturellem Verständnis oszilliert, und warnt vor verfrühten „Abgesängen auf den Bürger”. Zwar sei die Bundesrepublik in ihrer Entwicklung keinesfalls durch eine „mehr oder weniger konsistente Gesellschaftsschicht ‚Bürgertum‘ geprägt” worden, wohl aber durch ein sich ständig wandelndes „Kulturmuster ‚Bürgerlichkeit‘”. Als konstituierende Bestandteile dieses Musters nennt Hettling die „Wertschätzung des Individuums”, die „Befähigung zu individueller Lebensführung in Sozialisationsinstanzen wie der Familie”, die „Orientierung auf Arbeits- und Leistungsethik”, die „Vermittlung scheinbar zweckfreier Bedürfnisse wie Ästhetik und Lebensstil” sowie den „Anspruch auf politische Teilhabe”. Den Autoren gehe es deshalb erstens darum, Elemente von Bürgerlichkeit als „wirkungsmächtige Faktoren der Geschichte der Bundesrepublik ins Bewusstsein zu rufen”; zweitens wollten sie nachweisen, dass sich die Wandlungsprozesse der deutschen Nachkriegsgesellschaft ohne diese „fortdauernden Fragmente vergangener Bürgerlichkeit” nicht hinreichend erklären ließen.
Hettling und Ulrich haben die einzelnen Aufsätze zu vier thematischen Blöcken zusammengefasst. Zunächst erfolgt eine Annäherung an den Gegenstand anhand autobiografischer Rückblicke und einer biografisch generationenübergreifend angelegten Skizze. Den Auftakt bildet ein Interview der beiden Herausgeber mit dem inzwischen verstorbenen Historiker Reinhart Koselleck über „Formen der Bürgerlichkeit”, anschließend reflektieren der Soziologe Bedrich Loewenstein und der Journalist Günter Wirth über ihre Erfahrungen mit der bürgerlichen Gesellschaft – der eine aus der Perspektive des tschechischen Emigranten, der andere aus der des „Bildungsbürgers” in der DDR. Zum Schluss analysiert Heinz Bude gewohnt geistreich-provokant am Beispiel des Bildungsforschers Hellmut Becker, des (im September verstorbenen) Publizisten Joachim Fest und, vielleicht überraschend, des ehemaligen antibürgerlichen Rebellen und Außenministers Joschka Fischer drei Bürgertumsgenerationen, wobei letzterer den Typ des „gewollten Bürgers” verkörpere. Bude charakterisiert seinen Bürgerbegriff mit drei für ihn typischen Merkmalen: „Familienstolz”, „ständischer Instinkt” und „Gemeinschaftsverpflichtung”.
Im zweiten Teil werden Leitideen vorgestellt, die Bürgerlichkeit konstituieren. Die Autoren entschieden sich für den Zugriff über einflussreiche Wissenschaftler oder Zeitschriften: Josef Mooser sucht in der neoliberalen Gesellschaftskonzeption Wilhelm Röpkes nach Elementen von Bürgerlichkeit, Ulrich Bielefeld setzt sich in gleicher Absicht mit dem Werk Hans Freyers auseinander, und Kai Arne Linnemann zeichnet die Debatte über „Bürger” und „Bürgerlichkeit” in den Zeitschriften Die Sammlung und Die Wandlung nach. Dabei läuft insbesondere Bielefeld mitunter Gefahr, das Thema des Bandes aus den Augen zu verlieren.
Im dritten Block stehen verschiedene Sozialformationen im Blickpunkt, welche das Spektrum bürgerlichen Lebens ausleuchten sollen: Vom Bremer Stadt- und Spätbürgertum (Ulrich) über den Konsumbürger (Michael Wildt), „verbürgerlichte” Facharbeiter (Burkart Lutz) und Bundeswehroffiziere (Klaus Naumann) bis zum Adel (Eckart Conze). Den Schlusspunkt setzen Wolfgang Kraushaar, der sich mit der von den Achtundsechzigern intendierten „Revolutionierung des bürgerlichen Subjekts” auseinander setzt, und Thomas Großböltings Überlegungen zur „Entbürgerlichung” der DDR.
Der Band stellt einen substantiellen Beitrag zu einer aktuellen politischen und wissenschaftlichen Debatte dar, weit entfernt von dem von Bisky beklagten modischen Geschwätz. Die Autoren weisen überzeugend nach, dass diese beiden Begriffe für die Analyse der Bundesrepublik und sogar der DDR durchaus hilfreich sind.
WERNER BÜHRER
MANFRED HETTLING / BERND ULRICH (Hg.): Bürgertum nach 1945. Hamburger Edition, Hamburg 2005. 438 Seiten, 35 Euro.
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Der Abgesang auf eine Lebensform scheint verfrüht
Ist die viel beschworene „neue Bürgerlichkeit”, wie Jens Bisky in der SZ einmal schrieb, „nur ein Lifestyle unter vielen” und eine „hilflose Beschwörung einer Lebensform, die unwiederbringlich entschwunden” ist? Nostalgische Motive lagen den beiden Herausgebern und ihren Koautoren – Historiker, Soziologen, ein Politologe – gewiss fern. Doch welche Schwierigkeiten es bereitet, „Bürgertum” und „Bürgerlichkeit” nach 1945 begrifflich präzise zu fassen, verdeutlicht jeder der fünfzehn Beiträge mehr oder weniger explizit.
In seiner Einführung rekapituliert Manfred Hettling die bisherige Debatte über den Bürgertumsbegriff, die zwischen Citoyen und Bourgeois, zwischen politischem und soziokulturellem Verständnis oszilliert, und warnt vor verfrühten „Abgesängen auf den Bürger”. Zwar sei die Bundesrepublik in ihrer Entwicklung keinesfalls durch eine „mehr oder weniger konsistente Gesellschaftsschicht ‚Bürgertum‘ geprägt” worden, wohl aber durch ein sich ständig wandelndes „Kulturmuster ‚Bürgerlichkeit‘”. Als konstituierende Bestandteile dieses Musters nennt Hettling die „Wertschätzung des Individuums”, die „Befähigung zu individueller Lebensführung in Sozialisationsinstanzen wie der Familie”, die „Orientierung auf Arbeits- und Leistungsethik”, die „Vermittlung scheinbar zweckfreier Bedürfnisse wie Ästhetik und Lebensstil” sowie den „Anspruch auf politische Teilhabe”. Den Autoren gehe es deshalb erstens darum, Elemente von Bürgerlichkeit als „wirkungsmächtige Faktoren der Geschichte der Bundesrepublik ins Bewusstsein zu rufen”; zweitens wollten sie nachweisen, dass sich die Wandlungsprozesse der deutschen Nachkriegsgesellschaft ohne diese „fortdauernden Fragmente vergangener Bürgerlichkeit” nicht hinreichend erklären ließen.
Hettling und Ulrich haben die einzelnen Aufsätze zu vier thematischen Blöcken zusammengefasst. Zunächst erfolgt eine Annäherung an den Gegenstand anhand autobiografischer Rückblicke und einer biografisch generationenübergreifend angelegten Skizze. Den Auftakt bildet ein Interview der beiden Herausgeber mit dem inzwischen verstorbenen Historiker Reinhart Koselleck über „Formen der Bürgerlichkeit”, anschließend reflektieren der Soziologe Bedrich Loewenstein und der Journalist Günter Wirth über ihre Erfahrungen mit der bürgerlichen Gesellschaft – der eine aus der Perspektive des tschechischen Emigranten, der andere aus der des „Bildungsbürgers” in der DDR. Zum Schluss analysiert Heinz Bude gewohnt geistreich-provokant am Beispiel des Bildungsforschers Hellmut Becker, des (im September verstorbenen) Publizisten Joachim Fest und, vielleicht überraschend, des ehemaligen antibürgerlichen Rebellen und Außenministers Joschka Fischer drei Bürgertumsgenerationen, wobei letzterer den Typ des „gewollten Bürgers” verkörpere. Bude charakterisiert seinen Bürgerbegriff mit drei für ihn typischen Merkmalen: „Familienstolz”, „ständischer Instinkt” und „Gemeinschaftsverpflichtung”.
Im zweiten Teil werden Leitideen vorgestellt, die Bürgerlichkeit konstituieren. Die Autoren entschieden sich für den Zugriff über einflussreiche Wissenschaftler oder Zeitschriften: Josef Mooser sucht in der neoliberalen Gesellschaftskonzeption Wilhelm Röpkes nach Elementen von Bürgerlichkeit, Ulrich Bielefeld setzt sich in gleicher Absicht mit dem Werk Hans Freyers auseinander, und Kai Arne Linnemann zeichnet die Debatte über „Bürger” und „Bürgerlichkeit” in den Zeitschriften Die Sammlung und Die Wandlung nach. Dabei läuft insbesondere Bielefeld mitunter Gefahr, das Thema des Bandes aus den Augen zu verlieren.
Im dritten Block stehen verschiedene Sozialformationen im Blickpunkt, welche das Spektrum bürgerlichen Lebens ausleuchten sollen: Vom Bremer Stadt- und Spätbürgertum (Ulrich) über den Konsumbürger (Michael Wildt), „verbürgerlichte” Facharbeiter (Burkart Lutz) und Bundeswehroffiziere (Klaus Naumann) bis zum Adel (Eckart Conze). Den Schlusspunkt setzen Wolfgang Kraushaar, der sich mit der von den Achtundsechzigern intendierten „Revolutionierung des bürgerlichen Subjekts” auseinander setzt, und Thomas Großböltings Überlegungen zur „Entbürgerlichung” der DDR.
Der Band stellt einen substantiellen Beitrag zu einer aktuellen politischen und wissenschaftlichen Debatte dar, weit entfernt von dem von Bisky beklagten modischen Geschwätz. Die Autoren weisen überzeugend nach, dass diese beiden Begriffe für die Analyse der Bundesrepublik und sogar der DDR durchaus hilfreich sind.
WERNER BÜHRER
MANFRED HETTLING / BERND ULRICH (Hg.): Bürgertum nach 1945. Hamburger Edition, Hamburg 2005. 438 Seiten, 35 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2007Bürgerlichkeit nach 1945
Eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" ist nach dem Krieg aus Deutschland geworden, glaubt man einem berühmten Diktum Helmut Schelskys: Das jüdische Bürgertum wurde vertrieben und ermordet, das deutschnationale Bürgertum war demoralisiert. Die verbliebene Mitte schämte sich ihrer Bürgerlichkeit. Erst seit ein paar Jahren ist es wieder erlaubt, affirmativ von "Bürgertum" zu reden: Bücher über Werte, Tugenden (Ottfried Höffe), Manieren (Prinz Asserate) oder Disziplin (Bernhard Bueb) haben Konjunktur. Der Sammelband Bürgerlichkeit bietet eine fundierte Einführung in die Debatte.
Bernd Ulrich (Hg.): Bürgertum nach 1945. Hamburger Edition 2005.
36 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" ist nach dem Krieg aus Deutschland geworden, glaubt man einem berühmten Diktum Helmut Schelskys: Das jüdische Bürgertum wurde vertrieben und ermordet, das deutschnationale Bürgertum war demoralisiert. Die verbliebene Mitte schämte sich ihrer Bürgerlichkeit. Erst seit ein paar Jahren ist es wieder erlaubt, affirmativ von "Bürgertum" zu reden: Bücher über Werte, Tugenden (Ottfried Höffe), Manieren (Prinz Asserate) oder Disziplin (Bernhard Bueb) haben Konjunktur. Der Sammelband Bürgerlichkeit bietet eine fundierte Einführung in die Debatte.
Bernd Ulrich (Hg.): Bürgertum nach 1945. Hamburger Edition 2005.
36 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dass Bürgerlichkeit keine Modeerscheinung ist, sondern eine trotz ihrer begrifflichen Unschärfe politisch und soziokulturell konstitutive Größe, hat die Lektüre dieses von Manfred Hettling und Bernd Ulrich herausgegebenen Sammelbandes den Rezensenten gelehrt. Werner Bührer stellt die drei Teile des Bandes (Annäherung, Leitideen, Sozialformationen) und ihre Beiträge knapp vor. Er stößt auf eine "gewohnt geistreich-provokante" Analyse dreier Bürgertumsgenerationen von Heinz Bude, ein Abdriften vom Thema in Ulrich Bielefelds Auseinandersetzung mit Hans Freyer und würdigt den Band schließlich als gelungene Rehabilitation der Begriffe "Bürgertum" und "Bürgerlichkeit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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