Während ihre Mutter das letzte Einkaufsgeld versäuft, beobachtet Charlie vom Balkon ihrer Betonmietskaserne die benachbarten Bungalows und deren Bewohner: Sie lernt, dass es mehrere soziale Klassen gibt und sie selbst zur untersten gehört. Dann, kurz nach ihrem zwölften Geburtstag, zieht ein neues Ehepaar ins Viertel. Die beiden sind Schauspieler, unberechenbar, chaotisch, luxuriös, schlauer als alle anderen - und für Charlie das, was der Rest der Welt als ihre "erste große Liebe" bezeichnen würde: Spielkameraden und Lover, größter Einfluss und größte Gefährdung. Klar und radikal erzählt Helene Hegemann vom Überleben in einer zunehmend apokalyptischen Welt und der vitalen Kraft des freien Willens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2018Ich hasse dich, verlass mich nicht
Rasant, beeindruckend und sehr gegenwärtig: Helene Hegemanns Roman "Bungalow" ist das Psychogramm einer zerstörerischen Mutter-Tochter-Beziehung.
Petra hieß die schwarze Schwänin, die sich vor ein paar Jahren auf dem Aasee bei Münster in ein Tretboot verliebte. Der kleine Vogel hielt dem Kunststoffboot, das einem großen weißen Schwan nachempfunden war, jahrelang die Treue, verteidigte es gegen vermeintliche Angreifer und harrte selbst im kalten Winter neben ihm aus. Die ganze Welt verfolgte damals die ungewöhnliche Liaison. Dass sie wie dieser Trauerschwan sei, sagt jetzt im neuen Roman von Helene Hegemann die junge Charlie. Ihre Mutter hatte ihr davon erzählt: dass so ein Schwan, wenn er seine Mutter verliere, sich das Nächstbeste suche, das ihn an das Verlorene erinnert.
Dass Charlies Vergleich mit der Schwänin Petra in Wahrheit gar nicht zutrifft, sondern ihr eigentliches Drama vielmehr auf den Kopf stellt, gehört zum psychologischen Raffinement dieses Romans. Denn das Mädchen hat seine Mutter ja eben nicht verloren, sondern lebt mit ihr gemeinsam im siebten Stock eines heruntergekommenen Hochhauses irgendwo in einer deutschen Großstadt. Verloren - oder nie gehabt, das bleibt offen - hat Charlie allenfalls in der Mutter einen Menschen, der sich um sie kümmert und auf sie aufpasst. Hier haben sich die Verhältnisse umgekehrt, und Charlies Mutter kann es in Sachen Kälte mit einem Plastikteil problemlos aufnehmen. Dass sie zugleich da ist, aber nur als Stellvertreterin ihrer selbst, ist von unerhörter Brutalität.
Charlie hält zu ihr, so wahnhaft, erratisch und manipulativ sich ihre Mutter auch verhält. Dass sie krank ist - schizophren - und Alkohol für sie nur ein Mittel von mehreren, um mit den Dämonen und inneren Stimmen fertigzuwerden, weiß die Tochter. Ein Entkommen aber gibt es nicht, denn mit ihren zwölf Jahren kann Charlie nicht einfach die Koffer packen und gehen. Sie lebt wie eine Geisel der Krankheit ihrer Mutter. Daher nimmt sie auch Reißaus, wenn sich eine helfende Hand anbietet, etwa die Nachbarin Maria sie unerwartet zu sich einlädt. Noch ist Charlie nicht so weit, die Kopie dem Original vorzuziehen, noch wird sie ihrer Mutter wie ein Schatten folgen, selbst wenn dies lebensgefährlich ist. Auch als ihr Vater eines Tages aufkreuzt und sie mitnehmen will, wirft Charlie ihn aus der Wohnung. Dabei hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als mit ihm mitzugehen.
Helene Hegemann hat mit "Bungalow" einen erschütternden Roman über kindliche Wehrlosigkeit und das Ringen um Autonomie geschrieben. Das sind vertraute Motive aus ihren Büchern. Hier wird das Thema der Verwahrlosung mit dystopischen Momenten und Zügen ins Groteske unterschnitten. Seinen Sog erhält die Erzählung durch den Ton. Die Geschichte wird zwar aus der Rückschau der inzwischen erwachsenen Charlie als Überlebender erzählt - der Überlebenden eines inneren wie auch äußeren Krieges, der am Romanende auch noch ausbricht. Doch die erwachsene Erzählerin ist ihrem kindlichen Ich noch immer so verbunden, dass sie das damals Erlebte vor allem aus der Sicht des jungen Menschen berichtet. Deshalb trifft das Verhalten der Monstermutter auf Ahnungslosigkeit, Verbitterung und Ohnmacht. Ich hasse dich, verlass mich nicht - der Titel des Borderline-Klassikers - beschreibt Mutter wie Tochter, doch der Kampf wird mit ungleichen Mitteln geführt. Darin liegt die dramatische Fallhöhe der Erzählung.
Die Wohnung, in der die beiden mehr vegetieren als leben, verkommt zum Saustall, und wenn das Geld von der Stütze auf sich warten lässt, gibt es Toast mit Speiseöl. Charlie nimmt es hin. Ängste hat sie viel eher vor der Unberechenbarkeit. Denn an einem Tag mag ihr die Mutter in den Arm beißen, an einem anderen mit einem Weinglas nach ihr werfen. Aber sie kann Charlie mit Witz und Intelligenz und einer ramponierten Eleganz durchaus auch für sich einnehmen. "Das Schlimme war", sagt sie einmal, "dass ich sie nicht hassen konnte." In dieser manipulativen Kraft lauert die Gefahr. Denn sie nährt immer aufs Neue die Hoffnung, bis der nächste Schub den nächsten Scherbenhaufen anrichtet.
Helene Hegemann zeichnet ihre junge Protagonistin als zäh, widerspenstig und verletzlich. Charlie muss ihre ganze Kraft aufbringen, um nach außen den Schein aufrechtzuerhalten. Dass sie damit zur ungewollten Komplizin der Mutter wird, ist für die erwachsene Erzählerin die vielleicht niederschmetterndste Erkenntnis. Da gibt sie etwa in der Schule vor, Badminton zu spielen, während die anderen ins Kino gehen, dabei fehlt ihr nur das Geld, weil die Mutter ihre Spardose plündert. Den einzigen Freund, mit dem Charlie Zeit verbringt, Iskender, ignoriert sie von einem Tag auf den anderen, als er ihre Mutter bei einem ihrer Schübe erlebt. Zu groß ist ihre Angst, Iskender könnte sie bloßstellen oder, schlimmer noch, seine Eltern informieren und damit das Jugendamt auf den Plan rufen. So unternimmt Charlie alles, um Alltag zu simulieren. Dass sie überfordert ist, verrät sich allenfalls darin, dass sie in schmutziger Wäsche zur Schule geht. Dass sie deren Geruchs wegen in der Klasse gehänselt wird, ist dabei ihr geringstes Problem. Zum Fluchtpunkt wird für sie das schillernde Paar, das in die Nachbarschaft gezogen ist - und von Charlie bald mit obsessiver Phantasie gestalkt wird.
Helene Hegemann, 1992 in Berlin geboren, wurde mit ihrem vielfach übersetzten und später verfilmten Debütroman "Axolotl Roadkill" bekannt, gefeiert und dann heftig kritisiert, weil Teile davon aus Texten eines Bloggers übernommen worden waren, ohne dass sie dies kenntlich gemacht hatte. Hier nun gibt es wie als Reaktion darauf ein Quellenverzeichnis - und einmal sagt Charlie über Iskender, er müsse, wenn er etwas irgendwo gelesen habe, das ihm gefiel, es bei jeder Gelegenheit anwenden.
Der Roman, dessen Titel "Bungalow" sich auf die Siedlung der Besserverdienenden bezieht, auf die Charlie von ihrem Balkon herabschauen kann, ist ein rasantes, gekonnt gemachtes und sehr gegenwärtiges Psychogramm einer zerstörerischen Beziehung, geschildert aus der Perspektive eines Opfers, dem jegliche Larmoyanz fernliegt. Helene Hegemann schreibt direkt, drastisch und verfolgt dabei eine Ästhetik der Überbietung. Dass sie ihr Setting dystopisch rahmt, dessen hätte es gar nicht bedurft. Wann die Ereignisse sich abspielen, wird nicht eindeutig klar: Charlie ist zwar zur Jahrtausendwende geboren, doch Flugtaxis, von denen die Rede ist, wie auch der im Hintergrund lauernde Krieg verweisen auf eine andere, uns unbekannte Zeit.
Die heutige Welt wird in ihrem Profil gleichwohl kenntlich gemacht. Wenn Charlie über den topologischen Raum so etwas wie Gesellschaftskunde in eigener Sache betreibt, sie über die Gegensätze von Zentrum und Peripherie nachdenkt oder über die von Hochhäusern, Bungalows und Prachtaltbauten, dann klingt das mitunter plakativ wie in einem gutgemeinten Jugendbuch (und die Kinder aus prekären Familien tragen Namen wie Kevin und Melissa, während das Bohemien-Paar, mit dem Charlie sich später einlassen wird, Georg und Maria heißt). Dennoch erscheint das stimmig, denn Charlie ist eine Jugendliche, auch wenn sie im Buch die Rolle einer Erwachsenen übernehmen muss. Kind sein kann sie erst, als sie längst erwachsen ist.
Ihr Überlebenswille ist dabei dem der Trauerschwänin ebenbürtig. Die landete nach dem Ende der einseitigen Zuneigung irgendwann in einer Vogelrettungsstation in Osnabrück und freundete sich dort mit einem echten Schwan an. Zum Aasee kehrte Petra nie mehr zurück.
SANDRA KEGEL
Helene Hegemann:
"Bungalow". Roman.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018. 288 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rasant, beeindruckend und sehr gegenwärtig: Helene Hegemanns Roman "Bungalow" ist das Psychogramm einer zerstörerischen Mutter-Tochter-Beziehung.
Petra hieß die schwarze Schwänin, die sich vor ein paar Jahren auf dem Aasee bei Münster in ein Tretboot verliebte. Der kleine Vogel hielt dem Kunststoffboot, das einem großen weißen Schwan nachempfunden war, jahrelang die Treue, verteidigte es gegen vermeintliche Angreifer und harrte selbst im kalten Winter neben ihm aus. Die ganze Welt verfolgte damals die ungewöhnliche Liaison. Dass sie wie dieser Trauerschwan sei, sagt jetzt im neuen Roman von Helene Hegemann die junge Charlie. Ihre Mutter hatte ihr davon erzählt: dass so ein Schwan, wenn er seine Mutter verliere, sich das Nächstbeste suche, das ihn an das Verlorene erinnert.
Dass Charlies Vergleich mit der Schwänin Petra in Wahrheit gar nicht zutrifft, sondern ihr eigentliches Drama vielmehr auf den Kopf stellt, gehört zum psychologischen Raffinement dieses Romans. Denn das Mädchen hat seine Mutter ja eben nicht verloren, sondern lebt mit ihr gemeinsam im siebten Stock eines heruntergekommenen Hochhauses irgendwo in einer deutschen Großstadt. Verloren - oder nie gehabt, das bleibt offen - hat Charlie allenfalls in der Mutter einen Menschen, der sich um sie kümmert und auf sie aufpasst. Hier haben sich die Verhältnisse umgekehrt, und Charlies Mutter kann es in Sachen Kälte mit einem Plastikteil problemlos aufnehmen. Dass sie zugleich da ist, aber nur als Stellvertreterin ihrer selbst, ist von unerhörter Brutalität.
Charlie hält zu ihr, so wahnhaft, erratisch und manipulativ sich ihre Mutter auch verhält. Dass sie krank ist - schizophren - und Alkohol für sie nur ein Mittel von mehreren, um mit den Dämonen und inneren Stimmen fertigzuwerden, weiß die Tochter. Ein Entkommen aber gibt es nicht, denn mit ihren zwölf Jahren kann Charlie nicht einfach die Koffer packen und gehen. Sie lebt wie eine Geisel der Krankheit ihrer Mutter. Daher nimmt sie auch Reißaus, wenn sich eine helfende Hand anbietet, etwa die Nachbarin Maria sie unerwartet zu sich einlädt. Noch ist Charlie nicht so weit, die Kopie dem Original vorzuziehen, noch wird sie ihrer Mutter wie ein Schatten folgen, selbst wenn dies lebensgefährlich ist. Auch als ihr Vater eines Tages aufkreuzt und sie mitnehmen will, wirft Charlie ihn aus der Wohnung. Dabei hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als mit ihm mitzugehen.
Helene Hegemann hat mit "Bungalow" einen erschütternden Roman über kindliche Wehrlosigkeit und das Ringen um Autonomie geschrieben. Das sind vertraute Motive aus ihren Büchern. Hier wird das Thema der Verwahrlosung mit dystopischen Momenten und Zügen ins Groteske unterschnitten. Seinen Sog erhält die Erzählung durch den Ton. Die Geschichte wird zwar aus der Rückschau der inzwischen erwachsenen Charlie als Überlebender erzählt - der Überlebenden eines inneren wie auch äußeren Krieges, der am Romanende auch noch ausbricht. Doch die erwachsene Erzählerin ist ihrem kindlichen Ich noch immer so verbunden, dass sie das damals Erlebte vor allem aus der Sicht des jungen Menschen berichtet. Deshalb trifft das Verhalten der Monstermutter auf Ahnungslosigkeit, Verbitterung und Ohnmacht. Ich hasse dich, verlass mich nicht - der Titel des Borderline-Klassikers - beschreibt Mutter wie Tochter, doch der Kampf wird mit ungleichen Mitteln geführt. Darin liegt die dramatische Fallhöhe der Erzählung.
Die Wohnung, in der die beiden mehr vegetieren als leben, verkommt zum Saustall, und wenn das Geld von der Stütze auf sich warten lässt, gibt es Toast mit Speiseöl. Charlie nimmt es hin. Ängste hat sie viel eher vor der Unberechenbarkeit. Denn an einem Tag mag ihr die Mutter in den Arm beißen, an einem anderen mit einem Weinglas nach ihr werfen. Aber sie kann Charlie mit Witz und Intelligenz und einer ramponierten Eleganz durchaus auch für sich einnehmen. "Das Schlimme war", sagt sie einmal, "dass ich sie nicht hassen konnte." In dieser manipulativen Kraft lauert die Gefahr. Denn sie nährt immer aufs Neue die Hoffnung, bis der nächste Schub den nächsten Scherbenhaufen anrichtet.
Helene Hegemann zeichnet ihre junge Protagonistin als zäh, widerspenstig und verletzlich. Charlie muss ihre ganze Kraft aufbringen, um nach außen den Schein aufrechtzuerhalten. Dass sie damit zur ungewollten Komplizin der Mutter wird, ist für die erwachsene Erzählerin die vielleicht niederschmetterndste Erkenntnis. Da gibt sie etwa in der Schule vor, Badminton zu spielen, während die anderen ins Kino gehen, dabei fehlt ihr nur das Geld, weil die Mutter ihre Spardose plündert. Den einzigen Freund, mit dem Charlie Zeit verbringt, Iskender, ignoriert sie von einem Tag auf den anderen, als er ihre Mutter bei einem ihrer Schübe erlebt. Zu groß ist ihre Angst, Iskender könnte sie bloßstellen oder, schlimmer noch, seine Eltern informieren und damit das Jugendamt auf den Plan rufen. So unternimmt Charlie alles, um Alltag zu simulieren. Dass sie überfordert ist, verrät sich allenfalls darin, dass sie in schmutziger Wäsche zur Schule geht. Dass sie deren Geruchs wegen in der Klasse gehänselt wird, ist dabei ihr geringstes Problem. Zum Fluchtpunkt wird für sie das schillernde Paar, das in die Nachbarschaft gezogen ist - und von Charlie bald mit obsessiver Phantasie gestalkt wird.
Helene Hegemann, 1992 in Berlin geboren, wurde mit ihrem vielfach übersetzten und später verfilmten Debütroman "Axolotl Roadkill" bekannt, gefeiert und dann heftig kritisiert, weil Teile davon aus Texten eines Bloggers übernommen worden waren, ohne dass sie dies kenntlich gemacht hatte. Hier nun gibt es wie als Reaktion darauf ein Quellenverzeichnis - und einmal sagt Charlie über Iskender, er müsse, wenn er etwas irgendwo gelesen habe, das ihm gefiel, es bei jeder Gelegenheit anwenden.
Der Roman, dessen Titel "Bungalow" sich auf die Siedlung der Besserverdienenden bezieht, auf die Charlie von ihrem Balkon herabschauen kann, ist ein rasantes, gekonnt gemachtes und sehr gegenwärtiges Psychogramm einer zerstörerischen Beziehung, geschildert aus der Perspektive eines Opfers, dem jegliche Larmoyanz fernliegt. Helene Hegemann schreibt direkt, drastisch und verfolgt dabei eine Ästhetik der Überbietung. Dass sie ihr Setting dystopisch rahmt, dessen hätte es gar nicht bedurft. Wann die Ereignisse sich abspielen, wird nicht eindeutig klar: Charlie ist zwar zur Jahrtausendwende geboren, doch Flugtaxis, von denen die Rede ist, wie auch der im Hintergrund lauernde Krieg verweisen auf eine andere, uns unbekannte Zeit.
Die heutige Welt wird in ihrem Profil gleichwohl kenntlich gemacht. Wenn Charlie über den topologischen Raum so etwas wie Gesellschaftskunde in eigener Sache betreibt, sie über die Gegensätze von Zentrum und Peripherie nachdenkt oder über die von Hochhäusern, Bungalows und Prachtaltbauten, dann klingt das mitunter plakativ wie in einem gutgemeinten Jugendbuch (und die Kinder aus prekären Familien tragen Namen wie Kevin und Melissa, während das Bohemien-Paar, mit dem Charlie sich später einlassen wird, Georg und Maria heißt). Dennoch erscheint das stimmig, denn Charlie ist eine Jugendliche, auch wenn sie im Buch die Rolle einer Erwachsenen übernehmen muss. Kind sein kann sie erst, als sie längst erwachsen ist.
Ihr Überlebenswille ist dabei dem der Trauerschwänin ebenbürtig. Die landete nach dem Ende der einseitigen Zuneigung irgendwann in einer Vogelrettungsstation in Osnabrück und freundete sich dort mit einem echten Schwan an. Zum Aasee kehrte Petra nie mehr zurück.
SANDRA KEGEL
Helene Hegemann:
"Bungalow". Roman.
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2018. 288 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.08.2018Lauter anständige Leute
Helene Hegemanns dritter Roman „Bungalow“ über eine katastrophenschwangere Zukunft und
die Spaltung der Gesellschaft wächst sich zu einem Katalog der Ängste aus
VON MARIE SCHMIDT
Von dem russischen Dichter Daniil Charms, der ein tragisches Leben führen musste und 1942 im Gefängnis verhungerte, gibt es einen berühmten Text, an den Helene Hegemanns neues Buch erinnert. Er geht so: „Einmal überaß sich Orlow an Erbsenbrei und starb. Und Krylow, der davon hörte, starb auch. Und Spiridonows Frau fiel vom Büffet und starb auch. Und Spiridonows Kinder ertranken im Teich. Und Spiridonows Großmutter ergab sich dem Suff und landete auf der Straße. Und Michajlow hörte auf, sich zu kämmen, und bekam die Krätze. Und Kruglow malte eine Dame mit einer Knute in der Hand und wurde verrückt. Und Perechrjostow erhielt telegrafisch vierhundert Rubel und machte sich derart wichtig, daß man ihn aus dem Dienst warf. Lauter anständige Leute, und bekommen kein Bein auf den Boden.“
So eine Parade des Unglücks ist auch „Bungalow“, der dritte Roman Hegemanns. Auch er lebt von dem Slapstick-Effekt, der durch die Reihe der Verheerungen entsteht. Nur ist er eben viel länger und die Verstümmelungen und Bewusstseinstrübungen werden saftiger, detailgetreuer ausgemalt. Deshalb kommt man passagenweise ins Grübeln, ob es sich bei diesem Roman eher um eine Form des sozialen Realismus handelt oder um Literatur in der grotesken Tradition, mit einem Hauch Sarah Kane und Arnon Grünberg vielleicht. Dazu ein bisschen Beckettsche Apokalyptik in Sätzen wie: „Zur selben Zeit fing das Elend mit den toten Tieren an, mein Schulweg war plötzlich voller Kadaver“, oder: „Die Selbstmorde begannen erst ein paar Monate später.“
Im Mittelpunkt steht, wie schon in Hegemanns früheren Büchern, ein dreizehnjähriges Kind, das unter Bedingungen sozialer Verwahrlosung zu früh erwachsen wird. Die Mutter dieser Charlie ist grausam überfordert, das Mädchen wird aggressiv vor Verzweiflung und die beiden stehen sich in einem erbittertem Existenzkampf gegenüber. Das ist ein wiederkehrendes Motiv der Hegemann-Romane, so dass sie rückblickend fast so etwas wie eine Trilogie der vernachlässigten Fürsorgepflicht ergeben.
In „Axolotl Roadkill“, mit dem die Autorin aus Gründen, auf die wir unweigerlich zurückkommen müssen, furchtbar bekannt wurde, stammte die Hauptfigur Mifti aus der „linksresignativen“ Kulturszene. Der zweite Roman „Jage zwei Tiger“ handelte von wohlstandsverwahrlosten Rich Kids. Das sind jeweils Milieus, deren Demontage kritikerseits mit kennerhaftem Amüsement beäugt wurde.
In „Bungalow“ dagegen lebt ein Kind in einfach nur unglamouröser Aussichtslosigkeit mit seiner psychisch kranken Mutter, die sich mit ihren bipolaren Schüben ins soziale Abseits einer „Betonmietskaserne“ verkrochen hat. Im Suff verwüstet sie die Wohnung und wird zur zombieartigen Kreatur: „Hochgezogene Schultern, lautes Zähneknirschen, sie ging in die Küche und holte ein mit Gummibändern zusammengehaltenes Biohühnchen aus dem Kühlschrank, das sie zwei Wochen zuvor gekauft und in der für sie typischen Folgewidrigkeit vergammeln lassen hatte. Sie schlug zwei Eier auf der Anrichte kaputt und fing an, das Hähnchen darin hin und her zu wälzen. Als es überall gleichmäßig mit der Eimasse bedeckt war, biss sie rein und begann über die Anrichte gebeugt zu kauen, wie ein halb verhungertes, schwachsinniges altes Pferd.“ Die Bizarrerie dieser Szene schützt einen etwas vor dem Gedanken daran, wie sehr Kinder wirklich unter ihren Eltern leiden können.
An anderen Stellen lässt Hegemann die Übertreibung aber weg. Zum Beispiel wenn der Familie schon Mitte des Monats das Geld ausgeht, und die Cleverness des hungernden Mädchens wahrhaftig erschütternd wird. Nach ein paar Tagen, in denen sie nur Würfelzucker und Schnittlauch gegessen hat, reagiert Charlie so benebelt wie ihre betrunkene Mutter, findet aber trotzdem heraus, wie man sich an den Hintertüren von Supermärkten und unabgeräumten Cafétischen etwas von der Überflussgesellschaft abzwacken kann.
An dieser Stelle müssen wir Helene Hegemann alles Gute wünschen, damit jetzt nicht wieder eine Diskussion darüber losgeht, woher sie so etwas weiß. Mit ihrem Erstling wurde sie ja in den absurdesten Literaturstreit des Jahrzehnts verwickelt, in dem es im Grunde darum ging, ob die Autorin selbst erlebt hatte, was sie schrieb.
Wir erinnern uns: Schon bevor „Axolotl Roadkill“ 2010 erschien, gab es Personality-Storys in der Presse. Es wurde berichtet, dass die damals siebzehnjährige Hegemann mit dreizehn hatte erleben müssen, wie ihre Mutter an einem Aneurysma starb. Sie habe dann (das könnte jetzt wieder relevant werden) ein Weilchen alleine in ihrer Wohnung in Dortmund gelebt und sei ziemlich verwahrlost. Bis sie zum Vater nach Berlin zog, dem Dramaturgen Carl Hegemann, in dessen Volksbühnen-Blase sie den vorwitzig intellektualisierenden Ton lernte, in dem sie heute noch schreibt. Die Schule habe sie nur sporadisch besucht.
Auch wegen dieser Hintergrundgeschichte wurde sie mit ihrem wie atemlos geschriebenen Roman über das extravagante Nachtleben eines Teenagers von einem Teil der Kritik stürmisch gefeiert. Man wollte auf Teufel komm raus eine unverbildete Stimme der Auflehnung gegen die Erwachsenenwelt in ihr sehen. Bis herauskam, dass sie Passagen ihrer Schilderung hier und da und vor allem vom Blogger Airen abgeschrieben hatte, woraufhin ihr von anderen Kritikern, aber genauso stürmisch, jede Glaubwürdigkeit aberkannt wurde. Wegen eines eher übersichtlichen Urheberrechtsproblems flog der ganze Authentizitätskitsch, den das bundesdeutsche Feuilleton wegen ihrer Jugend und auch Weiblichkeit auf die Autorin projiziert hatte, in tausend Stücke. All die anständigen Menschen bekamen in dieser Sache kein Bein mehr auf den Boden: Man urteilte auf das schärfste über Leben und Werk einer Siebzehnjährigen.
„Wenn man fünf ist, ist ein Jahr ein Fünftel des eigenen Lebens und fühlt sich deshalb sehr lang an. Irgendwann ist ein Jahr aber nur noch ein Dreißigstel oder sogar nur noch ein Achtzigstel des eigenen Lebens“, rechnet Charlie in „Bungalow“ vor. Und weil seit „Axolotl Roadkill“ fast ein Drittel des heutigen Lebens der Helene Hegemann vergangen ist und man aus Schaden klug wird, hat sie ihr neues Buch mit sehr ordentlichen Quellenangaben versehen. Und mit allen Merkmalen der Fiktionalität und Abstraktion abgesichert.
Zum Beispiel spielt die Geschichte in einer Zukunft, über die man wenig mehr weiß, als dass es da Personennahverkehr in Drohnen gibt. Die Erzählzeit liegt in einer Epoche nach „unserem Krieg“, über den aber auch nur Spärliches angedeutet wird. „Die Stadt, aus der wir kommen, ist austauschbar“, heißt es. „Genauso wie das Land, in das wir später geflohen sind.“ Als Schauplatz der Handlung dient eine theaterhaft schematische Repräsentation des sogenannten Risses, der die Gesellschaft in Arme und Reiche teilt: Charlie lebt in „Zeilenbauten“, für die man „kein Geld, sondern einen Wohnberechtigungsschein“ braucht. Von deren Balkonen gucken die misstrauischen Bewohner direkt auf die Bungalows wohlhabender Leute.
In einer Art psychoanalytischer Urszene beobachtet das Mädchen in einem dieser Bungalows ein Paar aus der Kulturschickeria, das sich liebt. Da verliebt sie sich schlagartig selbst. In ihren Worten: „Ich wollte nicht adoptiert werden von denen. Echt nicht. Ich wollte die ficken“. Dass sich dieser Wunsch erfüllt, erfährt der Leser auf der ersten Seite des Romans. Und wüsste, falls er von so etwas nicht leicht zu schockieren ist, eigentlich gerne, wie genau diese Dreierbeziehung verläuft. Zumal der Roman mit den interessanten Lebensgeschichten des Paares beginnt. Gemessen am manischen Kraftquatschen früherer Hegemann-Romane, erzählt sie da ganz entspannt, geradezu aufgeräumt. Einwandfrei aphoristische Sätze stehen darin, wie: „Er war kriminell und im übelsten Maße vereinsamt, er wurde wirklich zu Unrecht geliebt.“
Nur enttäuscht Helene Hegemann die Erwartung und schreibt eine andere Geschichte, als diejenige, die sie angefangen hat. Eigentlich stecken drei Romane in diesem einen, die auch stilistisch disparat nebeneinander stehen: eine Liebesgeschichte, eine futuristische Dystopie und das Drama des vernachlässigten Kindes. Erzählerisch kommen diese drei nicht überein, aber sie dienen einem gemeinsamen Zweck. Nämlich sich alle nur möglichen Angstfantasien ausbuchstabieren zu können: Angst vor frühem Kindstod, Angst vor dem Sturm, Angst vor Bombenexplosionen, Angst vor „Krieg, Krebs, Verachtung“, Angst, „mit dem ganzen Körper gegen die Wand zu knallen“. Angst vor dem Sozialdarwinismus von Kindern, Angst, den unklaren Erwartungen durchgedrehter Erwachsener nicht gerecht werden zu können.
Aber bevor wir diskutieren, woher die etablierte, aus der Kulturbourgeoisie stammende Autorin solche Ängste kennt, und ob sich da womöglich eine besonders radikale Zivilisationsmüdigkeit ausdrückt, müssen wir im Lichte der Erfahrungen, die Helene Hegemann mit massenmedialer Literaturrezeption gemacht hat, eines festhalten: Angst hat in literarischer Hinsicht den Vorteil, das Gefühl zu sein, bei dem es am wenigsten Sinn ergibt, zu fragen wie „realistisch“ es ist. Angst verhält sich in gewisser Weise wie Literatur selbst. Sie wird immer mehr zu ihrer eigenen Wirklichkeit, je obsessiver man sie ausmalt. Und diese Taktik beherrscht die Schriftstellerin Hegemann, bei allem Chaos ihres Stils und ihrer Dramaturgie, bedrückend gut.
Helene Hegemann: Bungalow. Roman. Hanser Berlin Verlag, München 2018. 288 Seiten, 23 Euro.
Im Suff verwüstet die Mutter die
Wohnung und wird zur
zombieartigen Kreatur
Gemessen am manischen
Kraftquatschen früherer Romane
erzählt sie hier eher aufgeräumt
In Helene Hegemanns neuem Roman „Bungalow“ lebt ein Kind in unglamouröser Aussichtslosigkeit mit seiner kranken Mutter.
Foto: imago/Mike Schmidt
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Helene Hegemanns dritter Roman „Bungalow“ über eine katastrophenschwangere Zukunft und
die Spaltung der Gesellschaft wächst sich zu einem Katalog der Ängste aus
VON MARIE SCHMIDT
Von dem russischen Dichter Daniil Charms, der ein tragisches Leben führen musste und 1942 im Gefängnis verhungerte, gibt es einen berühmten Text, an den Helene Hegemanns neues Buch erinnert. Er geht so: „Einmal überaß sich Orlow an Erbsenbrei und starb. Und Krylow, der davon hörte, starb auch. Und Spiridonows Frau fiel vom Büffet und starb auch. Und Spiridonows Kinder ertranken im Teich. Und Spiridonows Großmutter ergab sich dem Suff und landete auf der Straße. Und Michajlow hörte auf, sich zu kämmen, und bekam die Krätze. Und Kruglow malte eine Dame mit einer Knute in der Hand und wurde verrückt. Und Perechrjostow erhielt telegrafisch vierhundert Rubel und machte sich derart wichtig, daß man ihn aus dem Dienst warf. Lauter anständige Leute, und bekommen kein Bein auf den Boden.“
So eine Parade des Unglücks ist auch „Bungalow“, der dritte Roman Hegemanns. Auch er lebt von dem Slapstick-Effekt, der durch die Reihe der Verheerungen entsteht. Nur ist er eben viel länger und die Verstümmelungen und Bewusstseinstrübungen werden saftiger, detailgetreuer ausgemalt. Deshalb kommt man passagenweise ins Grübeln, ob es sich bei diesem Roman eher um eine Form des sozialen Realismus handelt oder um Literatur in der grotesken Tradition, mit einem Hauch Sarah Kane und Arnon Grünberg vielleicht. Dazu ein bisschen Beckettsche Apokalyptik in Sätzen wie: „Zur selben Zeit fing das Elend mit den toten Tieren an, mein Schulweg war plötzlich voller Kadaver“, oder: „Die Selbstmorde begannen erst ein paar Monate später.“
Im Mittelpunkt steht, wie schon in Hegemanns früheren Büchern, ein dreizehnjähriges Kind, das unter Bedingungen sozialer Verwahrlosung zu früh erwachsen wird. Die Mutter dieser Charlie ist grausam überfordert, das Mädchen wird aggressiv vor Verzweiflung und die beiden stehen sich in einem erbittertem Existenzkampf gegenüber. Das ist ein wiederkehrendes Motiv der Hegemann-Romane, so dass sie rückblickend fast so etwas wie eine Trilogie der vernachlässigten Fürsorgepflicht ergeben.
In „Axolotl Roadkill“, mit dem die Autorin aus Gründen, auf die wir unweigerlich zurückkommen müssen, furchtbar bekannt wurde, stammte die Hauptfigur Mifti aus der „linksresignativen“ Kulturszene. Der zweite Roman „Jage zwei Tiger“ handelte von wohlstandsverwahrlosten Rich Kids. Das sind jeweils Milieus, deren Demontage kritikerseits mit kennerhaftem Amüsement beäugt wurde.
In „Bungalow“ dagegen lebt ein Kind in einfach nur unglamouröser Aussichtslosigkeit mit seiner psychisch kranken Mutter, die sich mit ihren bipolaren Schüben ins soziale Abseits einer „Betonmietskaserne“ verkrochen hat. Im Suff verwüstet sie die Wohnung und wird zur zombieartigen Kreatur: „Hochgezogene Schultern, lautes Zähneknirschen, sie ging in die Küche und holte ein mit Gummibändern zusammengehaltenes Biohühnchen aus dem Kühlschrank, das sie zwei Wochen zuvor gekauft und in der für sie typischen Folgewidrigkeit vergammeln lassen hatte. Sie schlug zwei Eier auf der Anrichte kaputt und fing an, das Hähnchen darin hin und her zu wälzen. Als es überall gleichmäßig mit der Eimasse bedeckt war, biss sie rein und begann über die Anrichte gebeugt zu kauen, wie ein halb verhungertes, schwachsinniges altes Pferd.“ Die Bizarrerie dieser Szene schützt einen etwas vor dem Gedanken daran, wie sehr Kinder wirklich unter ihren Eltern leiden können.
An anderen Stellen lässt Hegemann die Übertreibung aber weg. Zum Beispiel wenn der Familie schon Mitte des Monats das Geld ausgeht, und die Cleverness des hungernden Mädchens wahrhaftig erschütternd wird. Nach ein paar Tagen, in denen sie nur Würfelzucker und Schnittlauch gegessen hat, reagiert Charlie so benebelt wie ihre betrunkene Mutter, findet aber trotzdem heraus, wie man sich an den Hintertüren von Supermärkten und unabgeräumten Cafétischen etwas von der Überflussgesellschaft abzwacken kann.
An dieser Stelle müssen wir Helene Hegemann alles Gute wünschen, damit jetzt nicht wieder eine Diskussion darüber losgeht, woher sie so etwas weiß. Mit ihrem Erstling wurde sie ja in den absurdesten Literaturstreit des Jahrzehnts verwickelt, in dem es im Grunde darum ging, ob die Autorin selbst erlebt hatte, was sie schrieb.
Wir erinnern uns: Schon bevor „Axolotl Roadkill“ 2010 erschien, gab es Personality-Storys in der Presse. Es wurde berichtet, dass die damals siebzehnjährige Hegemann mit dreizehn hatte erleben müssen, wie ihre Mutter an einem Aneurysma starb. Sie habe dann (das könnte jetzt wieder relevant werden) ein Weilchen alleine in ihrer Wohnung in Dortmund gelebt und sei ziemlich verwahrlost. Bis sie zum Vater nach Berlin zog, dem Dramaturgen Carl Hegemann, in dessen Volksbühnen-Blase sie den vorwitzig intellektualisierenden Ton lernte, in dem sie heute noch schreibt. Die Schule habe sie nur sporadisch besucht.
Auch wegen dieser Hintergrundgeschichte wurde sie mit ihrem wie atemlos geschriebenen Roman über das extravagante Nachtleben eines Teenagers von einem Teil der Kritik stürmisch gefeiert. Man wollte auf Teufel komm raus eine unverbildete Stimme der Auflehnung gegen die Erwachsenenwelt in ihr sehen. Bis herauskam, dass sie Passagen ihrer Schilderung hier und da und vor allem vom Blogger Airen abgeschrieben hatte, woraufhin ihr von anderen Kritikern, aber genauso stürmisch, jede Glaubwürdigkeit aberkannt wurde. Wegen eines eher übersichtlichen Urheberrechtsproblems flog der ganze Authentizitätskitsch, den das bundesdeutsche Feuilleton wegen ihrer Jugend und auch Weiblichkeit auf die Autorin projiziert hatte, in tausend Stücke. All die anständigen Menschen bekamen in dieser Sache kein Bein mehr auf den Boden: Man urteilte auf das schärfste über Leben und Werk einer Siebzehnjährigen.
„Wenn man fünf ist, ist ein Jahr ein Fünftel des eigenen Lebens und fühlt sich deshalb sehr lang an. Irgendwann ist ein Jahr aber nur noch ein Dreißigstel oder sogar nur noch ein Achtzigstel des eigenen Lebens“, rechnet Charlie in „Bungalow“ vor. Und weil seit „Axolotl Roadkill“ fast ein Drittel des heutigen Lebens der Helene Hegemann vergangen ist und man aus Schaden klug wird, hat sie ihr neues Buch mit sehr ordentlichen Quellenangaben versehen. Und mit allen Merkmalen der Fiktionalität und Abstraktion abgesichert.
Zum Beispiel spielt die Geschichte in einer Zukunft, über die man wenig mehr weiß, als dass es da Personennahverkehr in Drohnen gibt. Die Erzählzeit liegt in einer Epoche nach „unserem Krieg“, über den aber auch nur Spärliches angedeutet wird. „Die Stadt, aus der wir kommen, ist austauschbar“, heißt es. „Genauso wie das Land, in das wir später geflohen sind.“ Als Schauplatz der Handlung dient eine theaterhaft schematische Repräsentation des sogenannten Risses, der die Gesellschaft in Arme und Reiche teilt: Charlie lebt in „Zeilenbauten“, für die man „kein Geld, sondern einen Wohnberechtigungsschein“ braucht. Von deren Balkonen gucken die misstrauischen Bewohner direkt auf die Bungalows wohlhabender Leute.
In einer Art psychoanalytischer Urszene beobachtet das Mädchen in einem dieser Bungalows ein Paar aus der Kulturschickeria, das sich liebt. Da verliebt sie sich schlagartig selbst. In ihren Worten: „Ich wollte nicht adoptiert werden von denen. Echt nicht. Ich wollte die ficken“. Dass sich dieser Wunsch erfüllt, erfährt der Leser auf der ersten Seite des Romans. Und wüsste, falls er von so etwas nicht leicht zu schockieren ist, eigentlich gerne, wie genau diese Dreierbeziehung verläuft. Zumal der Roman mit den interessanten Lebensgeschichten des Paares beginnt. Gemessen am manischen Kraftquatschen früherer Hegemann-Romane, erzählt sie da ganz entspannt, geradezu aufgeräumt. Einwandfrei aphoristische Sätze stehen darin, wie: „Er war kriminell und im übelsten Maße vereinsamt, er wurde wirklich zu Unrecht geliebt.“
Nur enttäuscht Helene Hegemann die Erwartung und schreibt eine andere Geschichte, als diejenige, die sie angefangen hat. Eigentlich stecken drei Romane in diesem einen, die auch stilistisch disparat nebeneinander stehen: eine Liebesgeschichte, eine futuristische Dystopie und das Drama des vernachlässigten Kindes. Erzählerisch kommen diese drei nicht überein, aber sie dienen einem gemeinsamen Zweck. Nämlich sich alle nur möglichen Angstfantasien ausbuchstabieren zu können: Angst vor frühem Kindstod, Angst vor dem Sturm, Angst vor Bombenexplosionen, Angst vor „Krieg, Krebs, Verachtung“, Angst, „mit dem ganzen Körper gegen die Wand zu knallen“. Angst vor dem Sozialdarwinismus von Kindern, Angst, den unklaren Erwartungen durchgedrehter Erwachsener nicht gerecht werden zu können.
Aber bevor wir diskutieren, woher die etablierte, aus der Kulturbourgeoisie stammende Autorin solche Ängste kennt, und ob sich da womöglich eine besonders radikale Zivilisationsmüdigkeit ausdrückt, müssen wir im Lichte der Erfahrungen, die Helene Hegemann mit massenmedialer Literaturrezeption gemacht hat, eines festhalten: Angst hat in literarischer Hinsicht den Vorteil, das Gefühl zu sein, bei dem es am wenigsten Sinn ergibt, zu fragen wie „realistisch“ es ist. Angst verhält sich in gewisser Weise wie Literatur selbst. Sie wird immer mehr zu ihrer eigenen Wirklichkeit, je obsessiver man sie ausmalt. Und diese Taktik beherrscht die Schriftstellerin Hegemann, bei allem Chaos ihres Stils und ihrer Dramaturgie, bedrückend gut.
Helene Hegemann: Bungalow. Roman. Hanser Berlin Verlag, München 2018. 288 Seiten, 23 Euro.
Im Suff verwüstet die Mutter die
Wohnung und wird zur
zombieartigen Kreatur
Gemessen am manischen
Kraftquatschen früherer Romane
erzählt sie hier eher aufgeräumt
In Helene Hegemanns neuem Roman „Bungalow“ lebt ein Kind in unglamouröser Aussichtslosigkeit mit seiner kranken Mutter.
Foto: imago/Mike Schmidt
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Marie Schmidt atmet auf: Helene Hegemann hat ihren inzwischen dritten Roman vorbildlich mit Quellenangaben versehen - und auch das "manische Kraftquatschen" der Autorin erscheint ihr gelassener. Und dennoch kann sie die Geschichte um die in Gegenwart ihrer trinkenden und labilen Mutter zunehmend verwahlosende Charlie nicht komplett überzeugen. Denn eigentlich macht Schmidt hier drei Romane aus, die weder erzählerisch, noch stilistisch verknüpft sind: Einen Liebesroman - Charlie beginnt eine Affäre mit dem Paar im titelgebende Bungalow - eine "futuristische Dystopie" und eben jenes "Drama des vernachlässigten Kindes". Dass Hegemann hier nur selten auf Übertreibungen und bizarre Einfälle setzt, stattdessen einige gelungene Aphorismen liefert, hat der Kritikerin unterdessen gut gefallen. Und die Obsession, mit der die Autorin Angst erlebbar machen kann, hat Schmidt sowieso beeindruckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Der Roman ist ein rasantes, gekonnt gemachtes und sehr gegenwärtiges Psychogramm einer zerstörerischen Beziehung, geschildert aus der Perspektive eines Opfers, dem jegliche Larmoyanz fernliegt." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.08.18
"Jeder Satz stimmt ... was dazu führt, dass man das Buch von einem Moment auf den anderen bis zum Ende nicht mehr aus den Händen legt ... Also springt man in Helene Hegemanns 'Bungalow' vom Ende gleich wieder zum Anfang ... und ist, tief berührt, schon dabei, diesen Roman ein zweites Mal zu lesen." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.08.18
"Düster, krass, obsessiv." Susanne Brandl, 3sat, 31.08.18
"Jugend war schon immer ein Verdammnis, und Hegemann erzählt davon mit einer so prekären Besessenheit, dass die Reaktion auf diesen Roman wie auf ihre bisherigen fast physisch ist. Es ist schwer, sich dieser Wucht zu entziehen." Georg Diez, Der Spiegel, 25.08.18
"Das Buch ist flirrend, schwebt wie radioaktive Partikel im Kopf des Lesers. Fallout-Literatur, irrlichternd, zynisch, ungeordnet und defätistisch und doch so voller Vitalität, dass man den ungebändigten Überlebenswillen Charlies spürt. ... 'Bungalow' ist ein Roman, der die Struktur eines orientalischen Teppichs hat." Ute Cohen, Der Freitag, 30.08.18
"Ein sehr gutes Sozialdrama, eine unausgegorene Coming-of-Age-Liebesgeschichte und eine irritierende Dystopie." Jan Jekal, taz am Wochenende, 15.09.18
"Hegemann liefert Innenansichen dafür, wie es sich anfühlt, am Rande einer zerbrechenden Gesellschaft zu leben und das ist ein Gefühl, das heute viele bewegt." Birgit Schwarz, ORF, 13.09.18
"Hegemann schildert hart, teils ins Komische kippend, wie ihre Protagonistin verschiedene Strategien findet, um mit dem Aufwachsen im Ausnahmezustand umzugehen [...] Und überallhin folgt man ihr bereitwillig und will das Buch nicht mehr zur Seite legen, weil das nicht nur eindringlich erzählt ist, sondern diese Charlie mit einer Klugheit und Souveränität ausstattet ist, die die abgründige Tristesse deutlich besser erträglich macht." Paula Pfoser, ORF.at, 01.09.18
"Schauspielerei, Kunst und Sucht überwinden die sozialen Barrieren - tief unten funkelt hier eine sehnsuchtsvolle, wenngleich morbide Romantik. [...] Mag mancher, der eine brave Sozialreportage im Seite-drei-Stil der Zeitungen erwartet, erschlagen sein - geschenkt. Man sollte diesen intensiven Roman nicht auf den Plot hin lesen, sondern als Rausch, Alptraum, Bewusstseinszustand. Ein Erlebnis ist er ganz sicher!" Pascal Fischer, SWR2, 26.08.18
"Mit ihrem brillanten dritten Roman zeigt sie, wie ein emanzipierter, queerer und feministischer Stil überkommene Stereotype aufbrechen kann. ... Helene Hegemann ist eine der besten deutschsprachigen Autorinnen. Nur ist das leider immer noch nicht hinreichend bekannt. ... Mit ihrem dritten Werk, 'Bungalow', das nun vorliegt, müsste aber nun jedem klar sein, um was für ein literarisches Kaliber es sich bei ihr handelt." Mirjam Kid, DLF Kultur "Lesart", 22.08.2018
"Wo auch immer der Leser hineingerät, er fühlt sich dem Erzählten ziemlich fix ziemlich nah. Knackig und originell beschreibt die Autorin Szenen, Gedanken, Figuren. ... Dystopie, sozialer Abgrund und ein bisschen Sex - erstaunlich, wie der Roman diese Welten verbindet. Unangestrengt, dezent verstolpert, aber stimmungsvoll und dicht." Juliane Bergmann, NDR Kultur "Matinee", 22.08.2018
"Jeder Satz stimmt ... was dazu führt, dass man das Buch von einem Moment auf den anderen bis zum Ende nicht mehr aus den Händen legt ... Also springt man in Helene Hegemanns 'Bungalow' vom Ende gleich wieder zum Anfang ... und ist, tief berührt, schon dabei, diesen Roman ein zweites Mal zu lesen." Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.08.18
"Düster, krass, obsessiv." Susanne Brandl, 3sat, 31.08.18
"Jugend war schon immer ein Verdammnis, und Hegemann erzählt davon mit einer so prekären Besessenheit, dass die Reaktion auf diesen Roman wie auf ihre bisherigen fast physisch ist. Es ist schwer, sich dieser Wucht zu entziehen." Georg Diez, Der Spiegel, 25.08.18
"Das Buch ist flirrend, schwebt wie radioaktive Partikel im Kopf des Lesers. Fallout-Literatur, irrlichternd, zynisch, ungeordnet und defätistisch und doch so voller Vitalität, dass man den ungebändigten Überlebenswillen Charlies spürt. ... 'Bungalow' ist ein Roman, der die Struktur eines orientalischen Teppichs hat." Ute Cohen, Der Freitag, 30.08.18
"Ein sehr gutes Sozialdrama, eine unausgegorene Coming-of-Age-Liebesgeschichte und eine irritierende Dystopie." Jan Jekal, taz am Wochenende, 15.09.18
"Hegemann liefert Innenansichen dafür, wie es sich anfühlt, am Rande einer zerbrechenden Gesellschaft zu leben und das ist ein Gefühl, das heute viele bewegt." Birgit Schwarz, ORF, 13.09.18
"Hegemann schildert hart, teils ins Komische kippend, wie ihre Protagonistin verschiedene Strategien findet, um mit dem Aufwachsen im Ausnahmezustand umzugehen [...] Und überallhin folgt man ihr bereitwillig und will das Buch nicht mehr zur Seite legen, weil das nicht nur eindringlich erzählt ist, sondern diese Charlie mit einer Klugheit und Souveränität ausstattet ist, die die abgründige Tristesse deutlich besser erträglich macht." Paula Pfoser, ORF.at, 01.09.18
"Schauspielerei, Kunst und Sucht überwinden die sozialen Barrieren - tief unten funkelt hier eine sehnsuchtsvolle, wenngleich morbide Romantik. [...] Mag mancher, der eine brave Sozialreportage im Seite-drei-Stil der Zeitungen erwartet, erschlagen sein - geschenkt. Man sollte diesen intensiven Roman nicht auf den Plot hin lesen, sondern als Rausch, Alptraum, Bewusstseinszustand. Ein Erlebnis ist er ganz sicher!" Pascal Fischer, SWR2, 26.08.18
"Mit ihrem brillanten dritten Roman zeigt sie, wie ein emanzipierter, queerer und feministischer Stil überkommene Stereotype aufbrechen kann. ... Helene Hegemann ist eine der besten deutschsprachigen Autorinnen. Nur ist das leider immer noch nicht hinreichend bekannt. ... Mit ihrem dritten Werk, 'Bungalow', das nun vorliegt, müsste aber nun jedem klar sein, um was für ein literarisches Kaliber es sich bei ihr handelt." Mirjam Kid, DLF Kultur "Lesart", 22.08.2018
"Wo auch immer der Leser hineingerät, er fühlt sich dem Erzählten ziemlich fix ziemlich nah. Knackig und originell beschreibt die Autorin Szenen, Gedanken, Figuren. ... Dystopie, sozialer Abgrund und ein bisschen Sex - erstaunlich, wie der Roman diese Welten verbindet. Unangestrengt, dezent verstolpert, aber stimmungsvoll und dicht." Juliane Bergmann, NDR Kultur "Matinee", 22.08.2018