Nach Jahrzehnten des Exils kehrt der Politologe und Sozialarbeiter Ahmet Arslan in sein Heimatdorf in die kurdische Provinz Dersim in Ostanatolien zurück, um noch ein Mal seine Mutter zu sehen. In seiner Jugend war er im politischen Widerstand gewesen, war gefoltert und eingesperrt worden.Im Überlandbus nach Osten berührt sich seine Geschichte mit den Geschichten anderer Passagiere. Einer jungen Frau, die in Istanbul abgetrieben hat, eines Rekruten auf seinem Weg zur "Terrorismusbekämpfung", einer Geschäftsfrau, einer Neureligiösen mit Drogenvergangenheit und eines deutschen Reiseschriftstellers, der sich das Leben nehmen will. Im Laderaum reist in einem Sarg zwischen Koffern auch eine tote Frau mit, die in ihrem Dorf beerdigt werden soll. Reflexionen, innere Monologe, Rückblicke und Gespräche begleiten diese Busreise im Frühling 2008, als sich das AKP-System noch den Anstrich von Demokratie und postkemalistischem Aufbruch gab.Zurück im Dorf zerbrechen Ahmet Arslans Gewissheiten nicht nur an der Gegenwart, sondern auch an der - verklärten - Vergangenheit. Der lange schwelende Konflikt mit seinem Bruder eskaliert, eine zerstreute Schar verfolgter PKK-Kämpfer und -Kämpferinnen taucht auf, und doch gelingt die beglückende Reise zurück in die Kindheit, ehe sie ein abruptes Ende findet ...Der Roman schließt mit einer Tiergeschichte, der Erzählung über die Liebe zweier Esel.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Angelika Overath hatte Freude an Richard Schuberths Episodenroman. Die "wahren" Geschichten über Menschen am Bosporus legt der Autor laut Overath so an, dass die Figuren zu "Kippfiguren" ohne feste Kontur werden. Es geht um den Konflikt mit den Kurden, um Folter und persönliche Schicksale, erklärt Overath, die der im Storytelling und in der Pointierung bewanderte Autor geschickt miteinander verschränkt. Für die Rezensentin spannende, leicht aufzunehmende, aber intensive Lektüre über die Türkei und ihre Menschen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2021In einen Omnibus passt viel pralles Leben
Richard Schuberths Episodenroman bringt einen kurdischen Freiheitskämpfer aus dem Exil zurück in sein türkisches Dorf
Ahmet Arslan, geboren in Dersim, Ostanatolien, lebt seit 28 Jahren im österreichischen Exil. Der kurdische Politologe und Sozialarbeiter möchte für drei Wochen von Wien in sein Heimatdorf zurückkehren. Dort leben seine Mutter, die er noch einmal sehen will, und sein Bruder Kerim, von dem er sich entfremdet hat. In den siebziger Jahren war Ahmet Arslan im kurdischen Widerstand engagiert; er wurde verhaftet und gefoltert. Wird ihn sein Dorf als Held aufnehmen?
An einem Apriltag des Jahres 2008 landet er auf dem Sabiha Gökçen Airport in Istanbul. Ein perfektes Entree: "Sabiha Gökçen - die erste Frau in der Türkei, die als Kampfpilotin ausgebildet wurde. Sabiha Gökçen - die erste Frau in der Türkei, die aus der Luft Kurden tötete." Die Adoptivtochter Atatürks, die ihre ersten Einsätze während der Dersim-Massaker 1937 und 1938 flog, stammte aus einer armenischen Familie, die bei den Massakern 1915 umkam. So wäre sie Täterin und Opfer zugleich. In "Bus nach Bingül", einem Roman aus vielen wahren Geschichten, profiliert Richard Schuberth Menschen als Kippfiguren. Sie sind nie nur das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen.
Ahmets dreizehnstündige Fahrt mit dem Überlandbus führt ihn in kurdisches Herzland, aber mit den Passagieren, die ihn auf der Reise begleiten, lernt er Protagonisten einer neuen, zwischen Tradition und Moderne schillernden Türkei kennen, die sich 2008 eben noch nicht zu einem autokratischen Staat gewandelt hatte. Da ist die junge Meltem, im Katzenpulli, die in Istanbul abgetrieben hat und nun von Hatice, einer Vertreterin der AKP-Frauenorganisation, erpresst wird. Meltem soll sich dieser Organisation anschließen, oder Hatice wird ihren Eltern verraten, was geschehen ist. Doch die anfangs eingeschüchterte Meltem kann sich wehren (nicht zuletzt, indem sie Hatice mit einem Messer droht), und die Frau unter dem schwarzen Kopftuch outet sich beim Bier, das die beiden in einer Raststättenpause trinken, als ehemaliger Punk mit Drogenerfahrung und lesbischen Interessen an Meltem.
Oder Dilek, eine schöne, am Westen orientierte "Kemalistin", verwöhnte höhere Tochter, die nur im Bus sitzt, weil sie das Flugzeug verpasst hat, aber noch rechtzeitig zu einer Party kommen muss, auf der ihr der Vater einen Jeep schenken will. Sie wird sich ein wenig in den lebens- und leiderfahrenen Ahmet verlieben und ihm gestehen, dass sie sich, um ihrem Leben einen Sinn zu geben, endlich politisch engagieren und für den Umweltschutz arbeiten möchte. Ein scheuer junger Rekrut proklamiert, dass er sich darauf freue, Kurden zu töten. Und in Ahmet steigen furchtbare Erinnerungen an seine Gefängniszeit auf. Richard Schuberth hat keine Angst vor drastischen Folterdetails.
Auch eine Untote reist mit. Aus dem Holzsarg heraus, der neben den Koffern im Busbauch verstaut wurde, beschwert sich eine alte Frau, dass sie am Ende für nichts mehr gut war und von der Schwiegertochter verleumdet wurde, die Fernsehfernbedienung in den Kühlschrank gelegt zu haben. In einen Omnibus passt viel pralles Leben. Und wie beiläufig sieht Ahmet, dass einer der Reisenden, ein Deutscher, einen Revolver in der Hosentasche trägt. Es ist der Reisejournalist und Schriftsteller Alfred Horn, der zweite heimliche Protagonist des Buches, der sich auf dieser Reise das Leben nehmen möchte.
Die Busreise nimmt ein Drittel des Textes ein; zwei Drittel spielen in Ahmets Dorf, das anders ist, als die verklärende Erinnerung es wollte. Hier sitzt die Mutter in leichter Demenz vor dem Flachbildschirm und sieht türkische Serien. Bruder Kerim kümmert sich um seine Holstein-Rinder - für Butter- und Käseproduktion bezieht er Agrarsubventionen aus Brüssel - und macht undurchsichtige Regionalpolitik; seine fromme Frau Asiye versucht bald aus ihrer sexuellen Misere heraus, Ahmet zu verführen. Der aufrechte Onkel Piro macht Ahmet klar, wie sein Dorf in den neunziger Jahren zwischen die Fronten von PKK und der türkischen Regierung geriet. Und Ahmet, der Widerstandsheld der siebziger Jahre, der seitdem ruhige Zeiten in Wien verbracht hat, schämt sich.
Immer wieder blickt er, der "Mann aus Dersim", kurdischer Kämpfer und melancholischer Zweifler zugleich, zurück auf Wien und dessen politisierende Kaffeehauskreise, in denen er auch als "Ethnoteddybär" fungierte. Und seine Spiegelfigur Alfred Horn, der engagierte Autor von preisgekrönten Sozialreportagen, erkennt, dass er doch "fremdes Leid kleidsam gemacht" und Müllhalden wie Basare gemalt hat.
Richard Schuberth ist mit allen Wassern des Storytellings gewaschen. Und man spürt die pointierte Feder des Satirikers. Raffiniert und effektvoll verschränkt er die verschiedenen Fäden. So taucht auch die schöne Dilek mit ihrem neuen Cherokee 270 PS in den Bergen von Dersim auf und verwickelt Ahmet zwar nicht in eine Affäre, aber einen folgenreichen Unfall. "Bus nach Bingöl" ist ein spannendes, leicht zu lesendes, intensives Buch, bei dem man einiges über die Türkei, über Ideale und Neurosen von Minderheiten, über die Sehnsucht nach Heimat und das Finden und Erfinden von Identitäten erfahren kann. Nicht zufällig ist Schuberth auch der Verfasser des Sachbuchs "Bevor die Völker wussten, dass sie welche sind: Ethnizität, Nation, Kultur". Das Buch schließt mit der "besten Geschichte der Welt", die von der zärtlichen Liebe einer abgründig hässlichen Eselin und eines prächtigen Esels erzählt und die vielleicht den Selbstmordkandidaten Alfred Horn eines Besseren belehrt. Und für Ahmet singt Onkel Piro zum letzten Abschied Verse eines alevitischen Freiheitshelden.
ANGELIKA OVERATH
Richard Schuberth:
"Bus nach Bingöl". Roman. Drava Verlag, Klagenfurt 2020. 280 S., geb., 21,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Richard Schuberths Episodenroman bringt einen kurdischen Freiheitskämpfer aus dem Exil zurück in sein türkisches Dorf
Ahmet Arslan, geboren in Dersim, Ostanatolien, lebt seit 28 Jahren im österreichischen Exil. Der kurdische Politologe und Sozialarbeiter möchte für drei Wochen von Wien in sein Heimatdorf zurückkehren. Dort leben seine Mutter, die er noch einmal sehen will, und sein Bruder Kerim, von dem er sich entfremdet hat. In den siebziger Jahren war Ahmet Arslan im kurdischen Widerstand engagiert; er wurde verhaftet und gefoltert. Wird ihn sein Dorf als Held aufnehmen?
An einem Apriltag des Jahres 2008 landet er auf dem Sabiha Gökçen Airport in Istanbul. Ein perfektes Entree: "Sabiha Gökçen - die erste Frau in der Türkei, die als Kampfpilotin ausgebildet wurde. Sabiha Gökçen - die erste Frau in der Türkei, die aus der Luft Kurden tötete." Die Adoptivtochter Atatürks, die ihre ersten Einsätze während der Dersim-Massaker 1937 und 1938 flog, stammte aus einer armenischen Familie, die bei den Massakern 1915 umkam. So wäre sie Täterin und Opfer zugleich. In "Bus nach Bingül", einem Roman aus vielen wahren Geschichten, profiliert Richard Schuberth Menschen als Kippfiguren. Sie sind nie nur das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen.
Ahmets dreizehnstündige Fahrt mit dem Überlandbus führt ihn in kurdisches Herzland, aber mit den Passagieren, die ihn auf der Reise begleiten, lernt er Protagonisten einer neuen, zwischen Tradition und Moderne schillernden Türkei kennen, die sich 2008 eben noch nicht zu einem autokratischen Staat gewandelt hatte. Da ist die junge Meltem, im Katzenpulli, die in Istanbul abgetrieben hat und nun von Hatice, einer Vertreterin der AKP-Frauenorganisation, erpresst wird. Meltem soll sich dieser Organisation anschließen, oder Hatice wird ihren Eltern verraten, was geschehen ist. Doch die anfangs eingeschüchterte Meltem kann sich wehren (nicht zuletzt, indem sie Hatice mit einem Messer droht), und die Frau unter dem schwarzen Kopftuch outet sich beim Bier, das die beiden in einer Raststättenpause trinken, als ehemaliger Punk mit Drogenerfahrung und lesbischen Interessen an Meltem.
Oder Dilek, eine schöne, am Westen orientierte "Kemalistin", verwöhnte höhere Tochter, die nur im Bus sitzt, weil sie das Flugzeug verpasst hat, aber noch rechtzeitig zu einer Party kommen muss, auf der ihr der Vater einen Jeep schenken will. Sie wird sich ein wenig in den lebens- und leiderfahrenen Ahmet verlieben und ihm gestehen, dass sie sich, um ihrem Leben einen Sinn zu geben, endlich politisch engagieren und für den Umweltschutz arbeiten möchte. Ein scheuer junger Rekrut proklamiert, dass er sich darauf freue, Kurden zu töten. Und in Ahmet steigen furchtbare Erinnerungen an seine Gefängniszeit auf. Richard Schuberth hat keine Angst vor drastischen Folterdetails.
Auch eine Untote reist mit. Aus dem Holzsarg heraus, der neben den Koffern im Busbauch verstaut wurde, beschwert sich eine alte Frau, dass sie am Ende für nichts mehr gut war und von der Schwiegertochter verleumdet wurde, die Fernsehfernbedienung in den Kühlschrank gelegt zu haben. In einen Omnibus passt viel pralles Leben. Und wie beiläufig sieht Ahmet, dass einer der Reisenden, ein Deutscher, einen Revolver in der Hosentasche trägt. Es ist der Reisejournalist und Schriftsteller Alfred Horn, der zweite heimliche Protagonist des Buches, der sich auf dieser Reise das Leben nehmen möchte.
Die Busreise nimmt ein Drittel des Textes ein; zwei Drittel spielen in Ahmets Dorf, das anders ist, als die verklärende Erinnerung es wollte. Hier sitzt die Mutter in leichter Demenz vor dem Flachbildschirm und sieht türkische Serien. Bruder Kerim kümmert sich um seine Holstein-Rinder - für Butter- und Käseproduktion bezieht er Agrarsubventionen aus Brüssel - und macht undurchsichtige Regionalpolitik; seine fromme Frau Asiye versucht bald aus ihrer sexuellen Misere heraus, Ahmet zu verführen. Der aufrechte Onkel Piro macht Ahmet klar, wie sein Dorf in den neunziger Jahren zwischen die Fronten von PKK und der türkischen Regierung geriet. Und Ahmet, der Widerstandsheld der siebziger Jahre, der seitdem ruhige Zeiten in Wien verbracht hat, schämt sich.
Immer wieder blickt er, der "Mann aus Dersim", kurdischer Kämpfer und melancholischer Zweifler zugleich, zurück auf Wien und dessen politisierende Kaffeehauskreise, in denen er auch als "Ethnoteddybär" fungierte. Und seine Spiegelfigur Alfred Horn, der engagierte Autor von preisgekrönten Sozialreportagen, erkennt, dass er doch "fremdes Leid kleidsam gemacht" und Müllhalden wie Basare gemalt hat.
Richard Schuberth ist mit allen Wassern des Storytellings gewaschen. Und man spürt die pointierte Feder des Satirikers. Raffiniert und effektvoll verschränkt er die verschiedenen Fäden. So taucht auch die schöne Dilek mit ihrem neuen Cherokee 270 PS in den Bergen von Dersim auf und verwickelt Ahmet zwar nicht in eine Affäre, aber einen folgenreichen Unfall. "Bus nach Bingöl" ist ein spannendes, leicht zu lesendes, intensives Buch, bei dem man einiges über die Türkei, über Ideale und Neurosen von Minderheiten, über die Sehnsucht nach Heimat und das Finden und Erfinden von Identitäten erfahren kann. Nicht zufällig ist Schuberth auch der Verfasser des Sachbuchs "Bevor die Völker wussten, dass sie welche sind: Ethnizität, Nation, Kultur". Das Buch schließt mit der "besten Geschichte der Welt", die von der zärtlichen Liebe einer abgründig hässlichen Eselin und eines prächtigen Esels erzählt und die vielleicht den Selbstmordkandidaten Alfred Horn eines Besseren belehrt. Und für Ahmet singt Onkel Piro zum letzten Abschied Verse eines alevitischen Freiheitshelden.
ANGELIKA OVERATH
Richard Schuberth:
"Bus nach Bingöl". Roman. Drava Verlag, Klagenfurt 2020. 280 S., geb., 21,- [Euro].
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