Ost-Berlin 1995. Der dreizehnjährigen Nadja wächst alles über den Kopf. Ihre Mutter ist in den Westen gezogen. Ihr arbeitsloser Vater vertrinkt die Miete und das Geld für die geplante Reise ans Meer. Dann steht auch noch das Jugendamt vor der Tür. Aber auf Nadjas Freunde ist Verlass. Gemeinsam gelingt es ihnen nicht nur, Farbe in die triste Wohnung und Nadjas Alltag zu bringen - sie holen sogar das Meer nach Berlin.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2009Sonne in Berlin
Die Zeit nach der Wende in einer Familie in Ostberlin
Nadjas Vater ist ein berühmter Mann, als Ostberlin noch die Hauptstadt der DDR ist. Ein Fotograf, dessen Bilder in der ganzen Welt und auch in der Bundesrepublik im Spiegel zu sehen sind. Er bekommt dafür Preise und unterrichtet an der Kunsthochschule. Wenn es auch zunehmend schwieriger wird für ihn, kann er doch mit dem Regime leben. Aber jetzt, 1995, hat sich die Welt verändert. Es existiert kein Markt mehr für Fotos, die das Leben der alten DDR dokumentieren. Die 14-jährige Nadja erlebt, wie aus ihrem Vater ein Trinker wird, der sich aufgibt: „,Sonne in Berlin‘ war die letzte öffentliche Ausstellung ihres Vaters gewesen. Das war 1993. Da fotografierte er nur noch Dinge, die niemandem gehörten. Das war seine Art des stummen Protests gegen all die plötzlichen Veränderungen, die er nicht gutheißen konnte – Menschen, die ihr Zuhause verloren und von einem Tag auf den anderen zu den Armen gehörten oder keine Arbeit mehr fanden. In der DDR hätte er für solche Fotos Berufsverbot bekommen. Was er jetzt bekam, war schlimmer. Niemand beachtete ihn mehr.”
Die Autorin Petra Kasch, die Kindheit und Jugend in der DDR verbrachte und jetzt in Berlin lebt, erzählt in „Bye-Bye, Berlin” eine etwas andere Geschichte über die Wiedervereinigung, als die vielen Kinder- und Jugendbücher, die zum 20. Jahrestag erschienen sind, und die sich mehr auf die Zeit in der alten DDR und die Ereignisse um die Wende konzentrieren.
Am Anfang schildert sie, welche Katastrophe über sie als Vierzehnjährige hereinbricht, weil die Eltern es nicht gemeinsam schaffen, sich auf die neuen Lebensverhältnisse einzustellen und das Mädchen sich zwischen Ost- und Westdeutschland hin- und hergerissen fühlt. Die Mutter findet in Hamburg einen neuen Arbeitsplatz, wartet darauf, dass wenigstens die Tochter nachkommt, doch Nadja kann ihren Vater, der in seinem Elend versinkt, nicht verlassen. Das soziale Desaster scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein, der neue Hausbesitzer aus Westberlin kündigt ihnen die heruntergekommene Wohnung, der Strom ist abgestellt, und die Beamtin des Jugendamtes erscheint zur Visite. Und das alles in den Sommerferien, in denen Nadja geplant hat, zusammen mit Timm, ihrem Freund, und dem Vater nach Bulgarien zu reisen.
Erwartet jetzt den Leser eine hart-realistische Geschichte des Scheiterns an der Wiedervereinigung? Die Autorin schafft in Nadja eine Heldin, die einfach zu wütend ist, um aufzugeben, und die Freunde hat, die ihr helfen. Nicht nur, als der Alltag immer schwieriger wird, sondern sie unterstützen Nadja bei ihrem Versuch, einen Ausweg aus der Krise zu finden, um ihren Vater nicht verlassen zu müssen.
Schwierige Balance
Die Jugendlichen erleben eine wilde, aufregende Zeit, ohne großen Einfluss der Erwachsenen. Es ist ein echtes spannendes Abenteuer, die Ereignisse überstürzen sich fast, denn bei Nadja wechseln Wut, Verzweiflung und Aggression so schnell, dass die Freunde sich fast überschlagen müssen, um ihr zu helfen.
Der Höhepunkt der Rettungsaktion ist die Fotoausstellung, die die Jugendlichen für Nadjas Vater organisieren. Es ist der Versuch der Autorin, eine schwierige Balance für ein Happy End zu finden, nicht in Ost-Nostalgie zu versinken, aber auch nicht in Euphorie über die Lebensverhältnisse nach der Wende auszubrechen. Man spürt, gerade an ihren minutiös gezeichneten Nebenfiguren, ihre Trauer über den Verlust an Hoffnung und Chancen auf ein Leben, das nicht nur wirtschaftlichen Interessen unterworfen ist.
Den jugendlichen Leser aber gibt Nadjas Geschichte neben aller Spannung und abenteuerlicher Handlung einen Einblick in die Lebensverhältnisse in Ostdeutschland, die auch nach 20 Jahren Wiedervereinigung noch das Leben vieler Menschen prägen.
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
PETRA KASCH: Bye-bye, Berlin. Ravensburger Buchverlag 2009. 253 Seiten, 12,40 Euro. Ab 12
Enttäuschte Hoffnungen: Ein Jugendlicher beim Pfingsttreffen der FDJ 1989 in Ostberlin. Foto: Stiebing
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Die Zeit nach der Wende in einer Familie in Ostberlin
Nadjas Vater ist ein berühmter Mann, als Ostberlin noch die Hauptstadt der DDR ist. Ein Fotograf, dessen Bilder in der ganzen Welt und auch in der Bundesrepublik im Spiegel zu sehen sind. Er bekommt dafür Preise und unterrichtet an der Kunsthochschule. Wenn es auch zunehmend schwieriger wird für ihn, kann er doch mit dem Regime leben. Aber jetzt, 1995, hat sich die Welt verändert. Es existiert kein Markt mehr für Fotos, die das Leben der alten DDR dokumentieren. Die 14-jährige Nadja erlebt, wie aus ihrem Vater ein Trinker wird, der sich aufgibt: „,Sonne in Berlin‘ war die letzte öffentliche Ausstellung ihres Vaters gewesen. Das war 1993. Da fotografierte er nur noch Dinge, die niemandem gehörten. Das war seine Art des stummen Protests gegen all die plötzlichen Veränderungen, die er nicht gutheißen konnte – Menschen, die ihr Zuhause verloren und von einem Tag auf den anderen zu den Armen gehörten oder keine Arbeit mehr fanden. In der DDR hätte er für solche Fotos Berufsverbot bekommen. Was er jetzt bekam, war schlimmer. Niemand beachtete ihn mehr.”
Die Autorin Petra Kasch, die Kindheit und Jugend in der DDR verbrachte und jetzt in Berlin lebt, erzählt in „Bye-Bye, Berlin” eine etwas andere Geschichte über die Wiedervereinigung, als die vielen Kinder- und Jugendbücher, die zum 20. Jahrestag erschienen sind, und die sich mehr auf die Zeit in der alten DDR und die Ereignisse um die Wende konzentrieren.
Am Anfang schildert sie, welche Katastrophe über sie als Vierzehnjährige hereinbricht, weil die Eltern es nicht gemeinsam schaffen, sich auf die neuen Lebensverhältnisse einzustellen und das Mädchen sich zwischen Ost- und Westdeutschland hin- und hergerissen fühlt. Die Mutter findet in Hamburg einen neuen Arbeitsplatz, wartet darauf, dass wenigstens die Tochter nachkommt, doch Nadja kann ihren Vater, der in seinem Elend versinkt, nicht verlassen. Das soziale Desaster scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein, der neue Hausbesitzer aus Westberlin kündigt ihnen die heruntergekommene Wohnung, der Strom ist abgestellt, und die Beamtin des Jugendamtes erscheint zur Visite. Und das alles in den Sommerferien, in denen Nadja geplant hat, zusammen mit Timm, ihrem Freund, und dem Vater nach Bulgarien zu reisen.
Erwartet jetzt den Leser eine hart-realistische Geschichte des Scheiterns an der Wiedervereinigung? Die Autorin schafft in Nadja eine Heldin, die einfach zu wütend ist, um aufzugeben, und die Freunde hat, die ihr helfen. Nicht nur, als der Alltag immer schwieriger wird, sondern sie unterstützen Nadja bei ihrem Versuch, einen Ausweg aus der Krise zu finden, um ihren Vater nicht verlassen zu müssen.
Schwierige Balance
Die Jugendlichen erleben eine wilde, aufregende Zeit, ohne großen Einfluss der Erwachsenen. Es ist ein echtes spannendes Abenteuer, die Ereignisse überstürzen sich fast, denn bei Nadja wechseln Wut, Verzweiflung und Aggression so schnell, dass die Freunde sich fast überschlagen müssen, um ihr zu helfen.
Der Höhepunkt der Rettungsaktion ist die Fotoausstellung, die die Jugendlichen für Nadjas Vater organisieren. Es ist der Versuch der Autorin, eine schwierige Balance für ein Happy End zu finden, nicht in Ost-Nostalgie zu versinken, aber auch nicht in Euphorie über die Lebensverhältnisse nach der Wende auszubrechen. Man spürt, gerade an ihren minutiös gezeichneten Nebenfiguren, ihre Trauer über den Verlust an Hoffnung und Chancen auf ein Leben, das nicht nur wirtschaftlichen Interessen unterworfen ist.
Den jugendlichen Leser aber gibt Nadjas Geschichte neben aller Spannung und abenteuerlicher Handlung einen Einblick in die Lebensverhältnisse in Ostdeutschland, die auch nach 20 Jahren Wiedervereinigung noch das Leben vieler Menschen prägen.
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
PETRA KASCH: Bye-bye, Berlin. Ravensburger Buchverlag 2009. 253 Seiten, 12,40 Euro. Ab 12
Enttäuschte Hoffnungen: Ein Jugendlicher beim Pfingsttreffen der FDJ 1989 in Ostberlin. Foto: Stiebing
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2009Schnäppchenjäger, Stasi-Spitzel
Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer ist das einst geteilte Deutschland auch das Thema einiger Jugendbücher. Dass es nicht leicht ist, sich dieser Vergangeheit zu stellen, wird in jedem der Bücher deutlich. Und auch, dass es sehr viele Wege dorthin gibt.
Zum Mauerfall-Jubiläum ist auch eine ganze Reihe von Kinder- und Jugendbüchern erschienen. Wie erklären sie das Gestern, und wozu dient ihnen diese Deutung im Hier und Jetzt? Denn mit der Historie kann man, wie sich schon Nietzsche erboste, einerseits vortrefflich das Geschehene als das faktisch Gegebene legitimieren, andererseits mit ihr nach Aufklärung über sich selbst forschen. Welchen Blick zurück werfen die Neuerscheinungen auf die Wende und den sozialistischen Alltag?
Claire Lenkovas großartiger Comic "Grenzgebiete" berichtet von den unschönen Seiten des DDR-Alltags. Die Geschichte von der eigentlich ganz normalen Familie, die dann Ende der achtziger Jahren in den Westen ging, fungiert als abschreckendes Beispiel für jegliche aufkeimende Ostalgie. Sie blendet in das öffentliche Gedächtnis die fehlenden Stimmen von ausgereisten Dissidenten ein: Wie erlebten sie die DDR und die Wende? Wer sich wie die religiös engagierten Eltern der kindlichen Helden nicht staatsfromm verhielt, wurde, so führt es das Buch vor, ausgegrenzt; Karriere, private Bindungen und Familienglück wurden unbarmherzig zerstört. Die heute gern erinnerte Unterstützung durch das sozialistische Kollektiv hatte eben auch ihre hässlichen Seiten: Unter Freunden und Nachbarn befanden sich Stasi-Informanten; als die Familie in die Bundesrepublik ausreiste, bereicherten sich andere habgierig an deren Besitz.
Lenkova spart aber auch nicht mit Kritik, wenn es um das neue Leben im Westen geht. Selbst die Wende bringt keine Besserung: Schnäppchenjäger, Stasi-Spitzel und Handlager der Diktatur holen sie wieder ein.
Im Stil eines Fotoalbums friert Lenkova schlaglichtartig Licht- und Schattenseiten im Leben der Familie ein. Die bildlichen Erinnerungsbruchstücke werden zum besseren Verständnis mit Informationen zu Politik und Gesellschaft ergänzt. Durch gekippte Bildachsen, extreme Auf- und Untersichten oder Detailaufnahmen verfremdet sie den Alltag, vermittelt Angst, Einsamkeit und Ohnmacht. Lenkova findet eine expressive Bildsprache für die Schwierigkeit, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ort der Rückschau ist symbolträchtig das ehemalige Grenzgebiet zwischen Ost und West. In der Form zweier Leporelloalben sind vor dem Leser Fundstücke prähistorischer Versteinerungen aufgefaltet und assoziativ mit der Geschichte des wiedervereinigten Landes verwoben. Eine einst lebendige Debatte über die Vergangenheit und die Zukunft des Landes ist völlig erstarrt: Man muss sich ins Niemandsland begeben, um sedimentierte Erinnerung freizusetzen.
Das Thema der Heimatlosigkeit greift auch Petra Kasch in ihrem Roman "Bye-bye, Berlin" auf, dessen Handlung im Jahr 1995 spielt. Die dreizehnjährige Nadja bleibt bei ihrem Vater, als dieser die Chance ausschlägt, zusammen mit seiner Frau ein neues berufliches Umfeld in Hamburg zu finden. Zu DDR-Zeiten noch ein hochgeschätzter Fotograf, stößt er mit einer wendekritischen Ausstellung auf keinen Widerhall; künstlerisch ausgebrannt, greift er zur Flasche. Kasch beschreibt einfühlsam, aber auch sehr beklemmend, wie Nadja und ihr Vater damit überfordert sind, die Folgen der Wende zu verarbeiten. Die emotionale Erstarrung des Vaters löst sich erst, als Nadja für ihn eine öffentliche Ausstellung zusammenstellt, er wieder Interesse und Anerkennung seiner Erinnerungen und Empfindungen erfährt. Am Ende werden Vater und Tochter nach Hamburg ziehen, wo er mit einer neuen Kamera fotografieren wird. Ein Wermutstropfen für den Leser ist der symbolisch grobgestrickte Romanschluss, der die Schuld an der Misere den kapitalistischen Verhältnissen zuschiebt.
Auch die in Berlin lebende amerikanische Autorin Holly-Jane Rahlens erzählt in "Mauerblümchen" eine ungewöhnliche Geschichte über Heimatlosigkeit und die Wende. Sie wählt ein klassisches, wenn auch triviales Handlungsmuster: Ein jugendliches Liebespaar aus West und Ost liegt sich nach Irrungen und Wirrungen endlich in den Armen, und das will uns sagen: Die Wiedervereinigung wird noch ins Lot kommen (wir befinden uns in den unmittelbaren Wendewirren des Jahres 1989). Rahlens' Liebesgeschichte überzeugt mit ihrem leichtfüßigen, manchmal witzigen Ton; sie schafft mit ihrer Ich-Erzählerin, der jüdischen Amerikanerin Molly, eine Figur, die als Fremde noch ganz unverstellt die Kuriositäten und Härten des sozialistischen Alltags beobachten kann, und sie vermittelt dem Leser davon sinnlich-intensive Eindrücke.
Nachdem Molly schon beschlossen hat, nach New York zurückzukehren, weil sie im Westteil Berlins überhaupt keinen Anschluss findet - es ergeht ihr als "Mauerblümchen" im Westen wie Lenkovas Figuren -, kommt alles anders. Auf der Fahrt zum Geburtshaus ihrer verstorbenen Mutter in Ost-Berlin lernt sie Mick, einen jungen Ostdeutschen, kennen, der ihre stereotype Wahrnehmung von Menschen aus der DDR doch sehr in Frage stellt. Sie verliebt sich in ihn - und es sieht fast so aus, als wäre es von Dauer.
HEIDI STROBEL.
Claire Lenkova: "Grenzgebiete". Eine Kindheit zwischen Ost und West. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2009. 47 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 10 J.
Petra Kasch: "Bye-bye, Berlin". Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2009. 252 S., geb., 12,95 [Euro]. Ab 12 J.
Holly-Jane Rahlens: "Mauerblümchen". Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 160 S., br., 12,95 [Euro]. Ab 13 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer ist das einst geteilte Deutschland auch das Thema einiger Jugendbücher. Dass es nicht leicht ist, sich dieser Vergangeheit zu stellen, wird in jedem der Bücher deutlich. Und auch, dass es sehr viele Wege dorthin gibt.
Zum Mauerfall-Jubiläum ist auch eine ganze Reihe von Kinder- und Jugendbüchern erschienen. Wie erklären sie das Gestern, und wozu dient ihnen diese Deutung im Hier und Jetzt? Denn mit der Historie kann man, wie sich schon Nietzsche erboste, einerseits vortrefflich das Geschehene als das faktisch Gegebene legitimieren, andererseits mit ihr nach Aufklärung über sich selbst forschen. Welchen Blick zurück werfen die Neuerscheinungen auf die Wende und den sozialistischen Alltag?
Claire Lenkovas großartiger Comic "Grenzgebiete" berichtet von den unschönen Seiten des DDR-Alltags. Die Geschichte von der eigentlich ganz normalen Familie, die dann Ende der achtziger Jahren in den Westen ging, fungiert als abschreckendes Beispiel für jegliche aufkeimende Ostalgie. Sie blendet in das öffentliche Gedächtnis die fehlenden Stimmen von ausgereisten Dissidenten ein: Wie erlebten sie die DDR und die Wende? Wer sich wie die religiös engagierten Eltern der kindlichen Helden nicht staatsfromm verhielt, wurde, so führt es das Buch vor, ausgegrenzt; Karriere, private Bindungen und Familienglück wurden unbarmherzig zerstört. Die heute gern erinnerte Unterstützung durch das sozialistische Kollektiv hatte eben auch ihre hässlichen Seiten: Unter Freunden und Nachbarn befanden sich Stasi-Informanten; als die Familie in die Bundesrepublik ausreiste, bereicherten sich andere habgierig an deren Besitz.
Lenkova spart aber auch nicht mit Kritik, wenn es um das neue Leben im Westen geht. Selbst die Wende bringt keine Besserung: Schnäppchenjäger, Stasi-Spitzel und Handlager der Diktatur holen sie wieder ein.
Im Stil eines Fotoalbums friert Lenkova schlaglichtartig Licht- und Schattenseiten im Leben der Familie ein. Die bildlichen Erinnerungsbruchstücke werden zum besseren Verständnis mit Informationen zu Politik und Gesellschaft ergänzt. Durch gekippte Bildachsen, extreme Auf- und Untersichten oder Detailaufnahmen verfremdet sie den Alltag, vermittelt Angst, Einsamkeit und Ohnmacht. Lenkova findet eine expressive Bildsprache für die Schwierigkeit, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ort der Rückschau ist symbolträchtig das ehemalige Grenzgebiet zwischen Ost und West. In der Form zweier Leporelloalben sind vor dem Leser Fundstücke prähistorischer Versteinerungen aufgefaltet und assoziativ mit der Geschichte des wiedervereinigten Landes verwoben. Eine einst lebendige Debatte über die Vergangenheit und die Zukunft des Landes ist völlig erstarrt: Man muss sich ins Niemandsland begeben, um sedimentierte Erinnerung freizusetzen.
Das Thema der Heimatlosigkeit greift auch Petra Kasch in ihrem Roman "Bye-bye, Berlin" auf, dessen Handlung im Jahr 1995 spielt. Die dreizehnjährige Nadja bleibt bei ihrem Vater, als dieser die Chance ausschlägt, zusammen mit seiner Frau ein neues berufliches Umfeld in Hamburg zu finden. Zu DDR-Zeiten noch ein hochgeschätzter Fotograf, stößt er mit einer wendekritischen Ausstellung auf keinen Widerhall; künstlerisch ausgebrannt, greift er zur Flasche. Kasch beschreibt einfühlsam, aber auch sehr beklemmend, wie Nadja und ihr Vater damit überfordert sind, die Folgen der Wende zu verarbeiten. Die emotionale Erstarrung des Vaters löst sich erst, als Nadja für ihn eine öffentliche Ausstellung zusammenstellt, er wieder Interesse und Anerkennung seiner Erinnerungen und Empfindungen erfährt. Am Ende werden Vater und Tochter nach Hamburg ziehen, wo er mit einer neuen Kamera fotografieren wird. Ein Wermutstropfen für den Leser ist der symbolisch grobgestrickte Romanschluss, der die Schuld an der Misere den kapitalistischen Verhältnissen zuschiebt.
Auch die in Berlin lebende amerikanische Autorin Holly-Jane Rahlens erzählt in "Mauerblümchen" eine ungewöhnliche Geschichte über Heimatlosigkeit und die Wende. Sie wählt ein klassisches, wenn auch triviales Handlungsmuster: Ein jugendliches Liebespaar aus West und Ost liegt sich nach Irrungen und Wirrungen endlich in den Armen, und das will uns sagen: Die Wiedervereinigung wird noch ins Lot kommen (wir befinden uns in den unmittelbaren Wendewirren des Jahres 1989). Rahlens' Liebesgeschichte überzeugt mit ihrem leichtfüßigen, manchmal witzigen Ton; sie schafft mit ihrer Ich-Erzählerin, der jüdischen Amerikanerin Molly, eine Figur, die als Fremde noch ganz unverstellt die Kuriositäten und Härten des sozialistischen Alltags beobachten kann, und sie vermittelt dem Leser davon sinnlich-intensive Eindrücke.
Nachdem Molly schon beschlossen hat, nach New York zurückzukehren, weil sie im Westteil Berlins überhaupt keinen Anschluss findet - es ergeht ihr als "Mauerblümchen" im Westen wie Lenkovas Figuren -, kommt alles anders. Auf der Fahrt zum Geburtshaus ihrer verstorbenen Mutter in Ost-Berlin lernt sie Mick, einen jungen Ostdeutschen, kennen, der ihre stereotype Wahrnehmung von Menschen aus der DDR doch sehr in Frage stellt. Sie verliebt sich in ihn - und es sieht fast so aus, als wäre es von Dauer.
HEIDI STROBEL.
Claire Lenkova: "Grenzgebiete". Eine Kindheit zwischen Ost und West. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2009. 47 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 10 J.
Petra Kasch: "Bye-bye, Berlin". Ravensburger Buchverlag, Ravensburg 2009. 252 S., geb., 12,95 [Euro]. Ab 12 J.
Holly-Jane Rahlens: "Mauerblümchen". Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 160 S., br., 12,95 [Euro]. Ab 13 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main