Die Darstellung von über tausend Jahren byzantinischer Geschichte bietet dem Leser einen kompetenten Überblick über die wichtigsten Entwicklungen der Ereignisgeschichte von den Anfängen des vierten Jahrhunderts bis 1453 und verweist auf deren Kontinuitäten und Brüche. Zusammen mit einer auführlichen Zeittafel sowie einem Glossar im Anhang ist der Band eine äußerst informative Einführung in die Geschichte "Ostroms".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2003Kaiser wankt, Staat wankt
Epochenwerk: Ralph-Johannes Lilies Monografie über Byzanz, das Reich der langen Dauer / Von Andreas Kilb
Wenn im siebten, achten oder neunten Jahrhundert unserer Zeitrechnung ein Bewohner des östlichen Mittelmeerraums nach dem Weg in die Stadt der Römer gefragt wurde, wies er unvermeidlich in Richtung Norden oder Nordwesten: nach Konstantinopel. Es war die Zeit, in der alle Kompaßnadeln der mediterranen Kultur zum Bosporus zeigten, in der "das zweite Rom", wie Ralph-Johannes Lilie es nennt, das erste war. Die Byzantiner selbst glaubten nie daran, daß sie Zweite waren, geschichtliche Nachzügler - sie waren die Neuen. Néa Rhomé, das neue Rom, so nannten sie ihre Stadt, und die Renovatio imperii, von der die Frankenkaiser späterer Zeiten träumten, hatte für sie längst stattgefunden: Es war das Christentum, das den antiken Stamm verjüngt hatte, so daß er seine Wurzeln in die entferntesten Weltgegenden austreiben konnte, zu Serben, Bulgaren und Warägern. Daß das Reich zeit seines Bestehens in einem Abwehrkampf an fast allen Fronten stand, hat dieses Daseinsgefühl nicht angekratzt. Es verfiel erst, als die Stadt selbst gefallen war, in jenem Jahr 1204, das den Beginn der Krankheit zum Tode markiert, der das Imperium ein Vierteljahrtausend später erlag.
Allein die lange Zeitspanne zwischen Todesstoß und Exitus läßt aber auch die Beharrungskraft eines Staates ahnen, der über Jahrhunderte, von der Spätantike bis zum Beginn des Hochmittelalters, der einzige wirkliche europäische Staat überhaupt war. Während der Kalif in Bagdad nur nominelle Kontrolle über alle seine Provinzen ausübte, während die fränkischen Könige, die sich nach dem Willen des Papstes Kaiser nennen durften, ihre Ländereien als Lehen vergaben, gelang es den Herrschern in Konstantinopel immer wieder, die Peripherie ihres Reiches dem Willen der Kapitale zu unterwerfen. Der Preis, den Byzanz für seinen Zentralismus bezahlen mußte, war freilich hoch: Wankte der Kaiser, dann wankte das ganze Reich. Dreimal, im Perserkrieg zwischen 610 und 626, in den Araberstürmen nur zehn Jahre später und bei der Landnahme der Seldschuken im elften Jahrhundert, verlor Byzanz im Handumdrehen einen großen Teil seines Territoriums. Andererseits entwickelte es noch jedesmal aus sich heraus die Kraft, den Gegner in die Schranken zu weisen. Der byzantinische Staatsgedanke war fast immer stärker als die staatliche Realität. Allerdings blieb er an die Hauptstadt gebunden, den sichtbaren Ausdruck seiner Macht. Wenn Preußen in Wahrheit eine Armee war, die sich einen Staat hielt, dann war Byzanz eine Stadt, die sich ein Reich leistete.
Ralph-Johannes Lilie hat eine Geschichte dieses Reiches geschrieben. Sein Buch ist nicht weniger als ein Epochenwerk; es ist der erste maßgebliche Versuch eines deutschen Historikers, nach Georg Ostrogorskys noch aus den vierziger Jahren stammender "Geschichte des byzantinischen Staates" eine Gesamtdarstellung zu Byzanz vorzulegen. Dieser Versuch, es sei vorweg gesagt, ist gelungen, auch wenn im einzelnen Abstriche zu machen sind. Aber daß überhaupt in unseren Bibliotheken neben den pseudowissenschaftlichen Ergüssen eines John Julius Norwich und den mal mehr, mal weniger brauchbaren Studien französischer und amerikanischer Provenienz nun eine lesbare deutsche Geschichte Ostroms steht, ist eine Leistung, die man nicht hoch genug einschätzen kann.
Lilie, Leiter der Arbeitsstelle für mittelbyzantinische Prosopographie an der Berliner Akademie der Wissenschaften, hat bereits vor drei Jahren ein schmales Handbuch zur Historie von Byzanz veröffentlicht. Dennoch ist der neue Band alles andere als die nachgereichte Langfassung des alten. Es hätte dem Buch im Gegenteil gutgetan, wenn es noch einige Dutzend Seiten länger geworden wäre, denn die früh- und die spätbyzantinische Geschichte, die Zeit vor 602 und nach 1204, werden von Lilie allzu kursorisch abgefertigt. Dabei sind es gerade diese beiden Epochen, aus denen die größte Zahl von Kunst- und Architekturzeugnissen erhalten ist, während die mittelbyzantinische Zeit auf diesem Feld vergleichsweise wenig hinterlassen hat. Das liegt nicht nur am Bilderstreit des achten und neunten Jahrhunderts oder den von Normannen, Seldschuken und Osmanen verübten Zerstörungen. Die schöpferische Zurückhaltung ist vielmehr ein Ausdruck des oströmischen Wesens selbst, und damit sind wir schon mitten in Lilies Thema.
Die Epoche, auf welcher der Schwerpunkt dieses Buchs liegt, reicht von der Regierungszeit des Herakleios (610 bis 641) bis zur verlorenen Schlacht von Mantzikert (1071). In dieser Zeit hatte Byzanz nacheinander und oft auch gleichzeitig den Ansturm der Araber, Awaren, Chazaren, Bulgaren und Russen auszuhalten. Unter diesem Druck verhielt es sich wie gepreßter Kohlenstoff: Es härtete aus. Seine Strukturen, in der Spätantike noch spürbar im Fluß, wurden fest, das Staatswesen gewann seine endgültige Gestalt. Die griechische Sprache und Literatur bildeten das kulturelle, das orthodoxe Christentum das ideologische, die Themenordnung das militärische und administrative Gerüst dieses Staates. Nur die Spitze des Gebäudes blieb schwankend: der Kaiser. Die ungeklärte Frage seiner Legitimität ist die schwärende Wunde in der Geschichte Ostroms. "Senat, Armee und Volk" des neuen Roms mußten dem Kandidaten akklamieren, bevor er sich basileus nennen durfte. In der Praxis bedeutete das, daß der Herrscher von den jeweils die Hauptstadt dominierenden Machtgruppen bestimmt wurde, wie einst in Westrom die Prätorianer den Kaiser gemacht hatten.
Von achtundachtzig byzantinischen Kaisern wurde die Hälfte vom Thron gestoßen, dreißig verloren dabei ihr Leben. Unter den Herakleiden im siebten, den Nachkommen Leons III. im achten und der makedonischen Dynastie im zehnten Jahrhundert gibt es Ansätze zu einer Erbmonarchie, aber sie haben keinen Bestand. In diesem christlichsten aller Staatsgebilde existiert kein moderner Begriff des Gottesgnadentums, wie ja auch der Kreuzzugsgedanke den Byzantinern vollkommen fremd war. Das Land der Ungläubigen gehörte Byzanz ohnehin von alters her, es würde mit Gottes Hilfe irgendwann ans Reich zurückfallen. Nach der Gründung der Kreuzfahrerstaaten schloß Alexios I. Komnenos mit Pisa einen Vertrag, in dem Ägypten und Syrien als byzantinisches Interessengebiet markiert wurden, Länder, die seit Jahrhunderten nicht mehr unter kaiserlicher Verwaltung standen. Noch die byzantinische Realpolitik war chiliastisch grundiert.
Ralph-Johannes Lilie fächert dieses historische Enigma klug und behutsam auf, mit einer gewissen ikonoklastischen Lust am Dekonstruieren von Heldenfiguren - so bleibt von der Gloriole, die in der traditionellen Historiographie um den Soldatenkaiser Basileios II. (976 bis 1025) gewoben wird, nach Lilies Gegenlektüre nicht viel übrig - und bedeutsamen Seitenblicken in Richtung Westen. Von dort sollte der tödliche Stoß gegen das Reich kommen, aber die weltanschauliche Schlacht war schon vorher, spätestens mit dem Schisma von 1054, für Byzanz verloren. Lilie, der "Strukturen und übergreifende Linien" in Exkursform nachzeichnet, tut seiner Darstellung keinen Gefallen, indem er das ideologische aus dem politischen Geschehen ausblendet. Die Rückkehr zum Bildersturm unter Theophilos (829 bis 842) und die Bemühungen um die Rückgewinnung der italienischen Provinzen unter den Makedonen haben mit der Kaiserkrönung Karls des Großen und ihren symbolischen Folgen mehr zu tun, als Lilie zugeben will; auch die Slawenmission des neunten Jahrhunderts gehört in diesen Zusammenhang. Die Byzantiner ahnten früh, daß nicht das mächtige Kalifat, sondern der ferne Frankenkönig ihren Alleinvertretungsanspruch wirkungsvoll ankratzte; die barschen Töne gegen die sächsischen Wichte, die Liutprand von Cremona, der Abgesandte Ottos I. am Hof von Konstantinopel, seinem kaiserlichen Verhandlungspartner Nikephoros Phokas (963 bis 969) in den Mund legt, sind sicher keine reine Erfindung. Erst die Schwäche des Reiches im elften Jahrhundert hat den byzantinischen Würgegriff um den italienischen Stiefel gelöst. Letztlich war das der Anfang vom Untergang, denn aus Venedig, Genua, Pisa und Amalfi kamen die Flotten, die Byzanz ökonomisch aussaugen und fremde Heere an seine Küsten tragen sollten.
Wo Ostrogorsky und der von Lilie immer noch geschätzte Frank Thiess die Geschichte der Rhomäer als Abwehrkampf der europäischen Zivilisation gegen die Steppenvölker des Ostens lesen, da betont Lilie das Eigensinnige, auch Autistische der oströmischen Kultur. Die "makedonische Renaissance", die Wiederentdeckung der antiken Gelehrsamkeit unter Leon VI. (886 bis 912) und seinen Nachfolgern, ist bei ihm nur ein weiteres Glied in einer langen Kette von Selbstbespiegelungen, Rückbesinnungen, Enzyklopädien. Wo die byzantinische Kunst sich für äußere Einflüsse öffnete, wie in den frühen italienischen Stadtrepubliken, war sie schon nicht mehr byzantinisch.
Um so mobiler, jedenfalls innerhalb ihrer Grenzen, präsentierte sich die Gesellschaft des neuen Rom, und dies war einer der Gründe ihres Verfalls. Denn der Stand der Soldatenbauern, der sich in den Abwehrkämpfen gegen Araber und Slawen herausgebildet hatte, konnte sich trotz aller kaiserlichen Schutzdekrete nicht halten, er fiel dem Gesetz des Marktes anheim. Die kleinen Rittergüter wurden im Lauf des zehnten Jahrhunderts vom Großgrundbesitz aufgesogen, dem eigentlichen Adel von Byzanz. Als Kleinasien verlorenging, hatten die grundbesitzenden Sippen, Komnenen, Angeloi, Palaiologen, längst die Herrschaft am Bosporus übernommen, und aus ihren Reihen erstand kein Soldatenkaiser mehr, um das Imperium wiederherzustellen.
Der Versuch, sich von heute aus in die byzantinische Welt zurückzuversetzen, trifft auf eine mentalitätsgeschichtliche Blockade. Wir können uns ein solches Reich der langen Dauer, das von uralten Ansprüchen, ewigen Traditionen und formelhaften Ausdrucksweisen lebt, nicht mehr wirklich vorstellen, und wenn wir eine Spur davon erhaschen, etwa in Gestalt der orthodoxen Kirche, löst ihr Anblick Abwehrreaktionen aus. Der Widerwille unserer Vorfahren gegen die schlangenzüngigen Rhomäer hat die osmanische Eroberung überdauert. Nur Dichter wie Benn, Yeats oder Brodsky haben für Momente hinter die Mauer geblickt, dorthin, wo die "Kunst der Ewigkeit" (Yeats) die Zeiten überdauert. Wie weit sie diesen Sehern folgen, wie tief sie sich auf das Erlebnis der Fremdheit einlassen will, das sich mit Ostrom verbindet, muß jede Epoche neu entscheiden. Ralph-Johannes Lilies Buch gibt uns einen Leitfaden in die Hand, mit dem wir uns auf dem Weg nach Byzanz nicht verirren können.
Ralph-Johannes Lilie: "Byzanz". Das zweite Rom. Siedler Verlag, Berlin 2003. 575 S., 130 S/W-Abb., geb., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Epochenwerk: Ralph-Johannes Lilies Monografie über Byzanz, das Reich der langen Dauer / Von Andreas Kilb
Wenn im siebten, achten oder neunten Jahrhundert unserer Zeitrechnung ein Bewohner des östlichen Mittelmeerraums nach dem Weg in die Stadt der Römer gefragt wurde, wies er unvermeidlich in Richtung Norden oder Nordwesten: nach Konstantinopel. Es war die Zeit, in der alle Kompaßnadeln der mediterranen Kultur zum Bosporus zeigten, in der "das zweite Rom", wie Ralph-Johannes Lilie es nennt, das erste war. Die Byzantiner selbst glaubten nie daran, daß sie Zweite waren, geschichtliche Nachzügler - sie waren die Neuen. Néa Rhomé, das neue Rom, so nannten sie ihre Stadt, und die Renovatio imperii, von der die Frankenkaiser späterer Zeiten träumten, hatte für sie längst stattgefunden: Es war das Christentum, das den antiken Stamm verjüngt hatte, so daß er seine Wurzeln in die entferntesten Weltgegenden austreiben konnte, zu Serben, Bulgaren und Warägern. Daß das Reich zeit seines Bestehens in einem Abwehrkampf an fast allen Fronten stand, hat dieses Daseinsgefühl nicht angekratzt. Es verfiel erst, als die Stadt selbst gefallen war, in jenem Jahr 1204, das den Beginn der Krankheit zum Tode markiert, der das Imperium ein Vierteljahrtausend später erlag.
Allein die lange Zeitspanne zwischen Todesstoß und Exitus läßt aber auch die Beharrungskraft eines Staates ahnen, der über Jahrhunderte, von der Spätantike bis zum Beginn des Hochmittelalters, der einzige wirkliche europäische Staat überhaupt war. Während der Kalif in Bagdad nur nominelle Kontrolle über alle seine Provinzen ausübte, während die fränkischen Könige, die sich nach dem Willen des Papstes Kaiser nennen durften, ihre Ländereien als Lehen vergaben, gelang es den Herrschern in Konstantinopel immer wieder, die Peripherie ihres Reiches dem Willen der Kapitale zu unterwerfen. Der Preis, den Byzanz für seinen Zentralismus bezahlen mußte, war freilich hoch: Wankte der Kaiser, dann wankte das ganze Reich. Dreimal, im Perserkrieg zwischen 610 und 626, in den Araberstürmen nur zehn Jahre später und bei der Landnahme der Seldschuken im elften Jahrhundert, verlor Byzanz im Handumdrehen einen großen Teil seines Territoriums. Andererseits entwickelte es noch jedesmal aus sich heraus die Kraft, den Gegner in die Schranken zu weisen. Der byzantinische Staatsgedanke war fast immer stärker als die staatliche Realität. Allerdings blieb er an die Hauptstadt gebunden, den sichtbaren Ausdruck seiner Macht. Wenn Preußen in Wahrheit eine Armee war, die sich einen Staat hielt, dann war Byzanz eine Stadt, die sich ein Reich leistete.
Ralph-Johannes Lilie hat eine Geschichte dieses Reiches geschrieben. Sein Buch ist nicht weniger als ein Epochenwerk; es ist der erste maßgebliche Versuch eines deutschen Historikers, nach Georg Ostrogorskys noch aus den vierziger Jahren stammender "Geschichte des byzantinischen Staates" eine Gesamtdarstellung zu Byzanz vorzulegen. Dieser Versuch, es sei vorweg gesagt, ist gelungen, auch wenn im einzelnen Abstriche zu machen sind. Aber daß überhaupt in unseren Bibliotheken neben den pseudowissenschaftlichen Ergüssen eines John Julius Norwich und den mal mehr, mal weniger brauchbaren Studien französischer und amerikanischer Provenienz nun eine lesbare deutsche Geschichte Ostroms steht, ist eine Leistung, die man nicht hoch genug einschätzen kann.
Lilie, Leiter der Arbeitsstelle für mittelbyzantinische Prosopographie an der Berliner Akademie der Wissenschaften, hat bereits vor drei Jahren ein schmales Handbuch zur Historie von Byzanz veröffentlicht. Dennoch ist der neue Band alles andere als die nachgereichte Langfassung des alten. Es hätte dem Buch im Gegenteil gutgetan, wenn es noch einige Dutzend Seiten länger geworden wäre, denn die früh- und die spätbyzantinische Geschichte, die Zeit vor 602 und nach 1204, werden von Lilie allzu kursorisch abgefertigt. Dabei sind es gerade diese beiden Epochen, aus denen die größte Zahl von Kunst- und Architekturzeugnissen erhalten ist, während die mittelbyzantinische Zeit auf diesem Feld vergleichsweise wenig hinterlassen hat. Das liegt nicht nur am Bilderstreit des achten und neunten Jahrhunderts oder den von Normannen, Seldschuken und Osmanen verübten Zerstörungen. Die schöpferische Zurückhaltung ist vielmehr ein Ausdruck des oströmischen Wesens selbst, und damit sind wir schon mitten in Lilies Thema.
Die Epoche, auf welcher der Schwerpunkt dieses Buchs liegt, reicht von der Regierungszeit des Herakleios (610 bis 641) bis zur verlorenen Schlacht von Mantzikert (1071). In dieser Zeit hatte Byzanz nacheinander und oft auch gleichzeitig den Ansturm der Araber, Awaren, Chazaren, Bulgaren und Russen auszuhalten. Unter diesem Druck verhielt es sich wie gepreßter Kohlenstoff: Es härtete aus. Seine Strukturen, in der Spätantike noch spürbar im Fluß, wurden fest, das Staatswesen gewann seine endgültige Gestalt. Die griechische Sprache und Literatur bildeten das kulturelle, das orthodoxe Christentum das ideologische, die Themenordnung das militärische und administrative Gerüst dieses Staates. Nur die Spitze des Gebäudes blieb schwankend: der Kaiser. Die ungeklärte Frage seiner Legitimität ist die schwärende Wunde in der Geschichte Ostroms. "Senat, Armee und Volk" des neuen Roms mußten dem Kandidaten akklamieren, bevor er sich basileus nennen durfte. In der Praxis bedeutete das, daß der Herrscher von den jeweils die Hauptstadt dominierenden Machtgruppen bestimmt wurde, wie einst in Westrom die Prätorianer den Kaiser gemacht hatten.
Von achtundachtzig byzantinischen Kaisern wurde die Hälfte vom Thron gestoßen, dreißig verloren dabei ihr Leben. Unter den Herakleiden im siebten, den Nachkommen Leons III. im achten und der makedonischen Dynastie im zehnten Jahrhundert gibt es Ansätze zu einer Erbmonarchie, aber sie haben keinen Bestand. In diesem christlichsten aller Staatsgebilde existiert kein moderner Begriff des Gottesgnadentums, wie ja auch der Kreuzzugsgedanke den Byzantinern vollkommen fremd war. Das Land der Ungläubigen gehörte Byzanz ohnehin von alters her, es würde mit Gottes Hilfe irgendwann ans Reich zurückfallen. Nach der Gründung der Kreuzfahrerstaaten schloß Alexios I. Komnenos mit Pisa einen Vertrag, in dem Ägypten und Syrien als byzantinisches Interessengebiet markiert wurden, Länder, die seit Jahrhunderten nicht mehr unter kaiserlicher Verwaltung standen. Noch die byzantinische Realpolitik war chiliastisch grundiert.
Ralph-Johannes Lilie fächert dieses historische Enigma klug und behutsam auf, mit einer gewissen ikonoklastischen Lust am Dekonstruieren von Heldenfiguren - so bleibt von der Gloriole, die in der traditionellen Historiographie um den Soldatenkaiser Basileios II. (976 bis 1025) gewoben wird, nach Lilies Gegenlektüre nicht viel übrig - und bedeutsamen Seitenblicken in Richtung Westen. Von dort sollte der tödliche Stoß gegen das Reich kommen, aber die weltanschauliche Schlacht war schon vorher, spätestens mit dem Schisma von 1054, für Byzanz verloren. Lilie, der "Strukturen und übergreifende Linien" in Exkursform nachzeichnet, tut seiner Darstellung keinen Gefallen, indem er das ideologische aus dem politischen Geschehen ausblendet. Die Rückkehr zum Bildersturm unter Theophilos (829 bis 842) und die Bemühungen um die Rückgewinnung der italienischen Provinzen unter den Makedonen haben mit der Kaiserkrönung Karls des Großen und ihren symbolischen Folgen mehr zu tun, als Lilie zugeben will; auch die Slawenmission des neunten Jahrhunderts gehört in diesen Zusammenhang. Die Byzantiner ahnten früh, daß nicht das mächtige Kalifat, sondern der ferne Frankenkönig ihren Alleinvertretungsanspruch wirkungsvoll ankratzte; die barschen Töne gegen die sächsischen Wichte, die Liutprand von Cremona, der Abgesandte Ottos I. am Hof von Konstantinopel, seinem kaiserlichen Verhandlungspartner Nikephoros Phokas (963 bis 969) in den Mund legt, sind sicher keine reine Erfindung. Erst die Schwäche des Reiches im elften Jahrhundert hat den byzantinischen Würgegriff um den italienischen Stiefel gelöst. Letztlich war das der Anfang vom Untergang, denn aus Venedig, Genua, Pisa und Amalfi kamen die Flotten, die Byzanz ökonomisch aussaugen und fremde Heere an seine Küsten tragen sollten.
Wo Ostrogorsky und der von Lilie immer noch geschätzte Frank Thiess die Geschichte der Rhomäer als Abwehrkampf der europäischen Zivilisation gegen die Steppenvölker des Ostens lesen, da betont Lilie das Eigensinnige, auch Autistische der oströmischen Kultur. Die "makedonische Renaissance", die Wiederentdeckung der antiken Gelehrsamkeit unter Leon VI. (886 bis 912) und seinen Nachfolgern, ist bei ihm nur ein weiteres Glied in einer langen Kette von Selbstbespiegelungen, Rückbesinnungen, Enzyklopädien. Wo die byzantinische Kunst sich für äußere Einflüsse öffnete, wie in den frühen italienischen Stadtrepubliken, war sie schon nicht mehr byzantinisch.
Um so mobiler, jedenfalls innerhalb ihrer Grenzen, präsentierte sich die Gesellschaft des neuen Rom, und dies war einer der Gründe ihres Verfalls. Denn der Stand der Soldatenbauern, der sich in den Abwehrkämpfen gegen Araber und Slawen herausgebildet hatte, konnte sich trotz aller kaiserlichen Schutzdekrete nicht halten, er fiel dem Gesetz des Marktes anheim. Die kleinen Rittergüter wurden im Lauf des zehnten Jahrhunderts vom Großgrundbesitz aufgesogen, dem eigentlichen Adel von Byzanz. Als Kleinasien verlorenging, hatten die grundbesitzenden Sippen, Komnenen, Angeloi, Palaiologen, längst die Herrschaft am Bosporus übernommen, und aus ihren Reihen erstand kein Soldatenkaiser mehr, um das Imperium wiederherzustellen.
Der Versuch, sich von heute aus in die byzantinische Welt zurückzuversetzen, trifft auf eine mentalitätsgeschichtliche Blockade. Wir können uns ein solches Reich der langen Dauer, das von uralten Ansprüchen, ewigen Traditionen und formelhaften Ausdrucksweisen lebt, nicht mehr wirklich vorstellen, und wenn wir eine Spur davon erhaschen, etwa in Gestalt der orthodoxen Kirche, löst ihr Anblick Abwehrreaktionen aus. Der Widerwille unserer Vorfahren gegen die schlangenzüngigen Rhomäer hat die osmanische Eroberung überdauert. Nur Dichter wie Benn, Yeats oder Brodsky haben für Momente hinter die Mauer geblickt, dorthin, wo die "Kunst der Ewigkeit" (Yeats) die Zeiten überdauert. Wie weit sie diesen Sehern folgen, wie tief sie sich auf das Erlebnis der Fremdheit einlassen will, das sich mit Ostrom verbindet, muß jede Epoche neu entscheiden. Ralph-Johannes Lilies Buch gibt uns einen Leitfaden in die Hand, mit dem wir uns auf dem Weg nach Byzanz nicht verirren können.
Ralph-Johannes Lilie: "Byzanz". Das zweite Rom. Siedler Verlag, Berlin 2003. 575 S., 130 S/W-Abb., geb., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main