Anders Petersen (geb. 1944) war 18 Jahre alt, als er aus Schweden nach Hamburg zu Besuch kam, eher zufällig im "Lehmitz", einer Stehbierhalle am Ende der Reeperbahn, landete und hier Freundschaften schloss, die seinen weiteren Lebensweg prägen sollten. 1968 kam er zurück und begann zu photographieren - mit Unterbrechungen zwei Jahre lang. Seine Aufnahmen, 1978 erstmals bei uns erschienen, sind inzwischen zu Klassikern ihres Genres geworden - eine authentische Studie aus einem Milieu, das gemeinhin als asozial bezeichnet wird und so heute nicht mehr existiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2020Gib mal her, die Kamera
Natürlich kann Alkohol Trost spenden, Halt geben und dem Leben einen Sinn. Vielleicht nicht jedem und vielleicht nicht überall auf der Welt, aber wer Ende der sechziger Jahre das Café Lehmitz besuchte, eine Kaschemme am Ende der Reeperbahn, hatte dort ein Zuhause, an dem man, ohne sich schämen zu müssen, morgens unter einem Tisch aufwachen durfte, und fand dort von Mitternacht an im fröhlichen Völkchen einer ausgelassenen Gesellschaft so etwas wie eine Familie. Menschen waren hier zusammengekommen, die man beschönigend "gestrandet" nennt, obwohl sie in Wirklichkeit darum kämpfen, nicht unterzugehen. Es waren Penner, Stricher und Prostituierte, Zuhälter, Handlanger und Kleinkriminelle, von denen keiner den Eindruck vermittelte, es in seinem Beruf besonders weit gebracht zu haben, und die dort dann umso exzessiver tranken und ekstatischer tanzten. Die Frauen hoben keck das Unterhemdchen, manche Männer griffen beherzt zu. Und mittendrin ein schwedisches Bürschchen aus gutem Haus, achtzehn Jahre alt, nach Deutschland gekommen, um die Sprache zu lernen, im Kopf aber schon den Traum von der Karriere als Fotograf.
Ein Zufall hatte den jungen Mann ins Café Lehmitz geführt, und als er dort einigermaßen naiv seine Kamera unbeobachtet auf einem Tisch hat liegen lassen, so geht die Legende, wurde sie ihm keineswegs gestohlen, vielmehr nutzten die Gäste die Gelegenheit, sich wechselseitig zu fotografieren, bis der Schwarzweißfilm voll war. Das brachte Anders Petersen auf eine Idee - und machte ihn später weltberühmt. Denn fortan nahm er die Bilder selbst auf. Abend für Abend. Jahr für Jahr. Das Buch "Café Lehmitz", 1978 erstmals erschienen und bis heute lieferbar, ist ein Klassiker der Fotobuchliteratur und so etwas wie das Vorzeigestück, wenn Beispiele gesucht werden für den Balanceakt zwischen Kunst und Sozialreportage. Und was wurde für Petersens hemmungslosen Einsatz nicht alles an Begriffen gestaltet, bis hin zum "konfrontativen Humanismus". Denn nie wurde Petersen, den bis heute bei seiner Arbeit eine ungebändigte Neugierde auf das Leben im Extrem antreibt, zynisch. Er ist das, was die Sozialanthropologie den teilnehmenden Beobachter nennt. Zählt sich stets irgendwie dazu. Was ihn in ein Dilemma führte.
Für gute Fotografien, erklärte er einmal, müsse man mit einem Fuß im Thema stehen, mit dem anderen draußen. Sein Problem sei es, dass er am Ende stets mit beiden Füßen drinstehe. Das Hinterland in den Abgründen der Gesellschaft wurde zu seiner Zweitheimat - die Anderswelt. Was das mit ihm anstellt, weiß nur er.
F.L.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Natürlich kann Alkohol Trost spenden, Halt geben und dem Leben einen Sinn. Vielleicht nicht jedem und vielleicht nicht überall auf der Welt, aber wer Ende der sechziger Jahre das Café Lehmitz besuchte, eine Kaschemme am Ende der Reeperbahn, hatte dort ein Zuhause, an dem man, ohne sich schämen zu müssen, morgens unter einem Tisch aufwachen durfte, und fand dort von Mitternacht an im fröhlichen Völkchen einer ausgelassenen Gesellschaft so etwas wie eine Familie. Menschen waren hier zusammengekommen, die man beschönigend "gestrandet" nennt, obwohl sie in Wirklichkeit darum kämpfen, nicht unterzugehen. Es waren Penner, Stricher und Prostituierte, Zuhälter, Handlanger und Kleinkriminelle, von denen keiner den Eindruck vermittelte, es in seinem Beruf besonders weit gebracht zu haben, und die dort dann umso exzessiver tranken und ekstatischer tanzten. Die Frauen hoben keck das Unterhemdchen, manche Männer griffen beherzt zu. Und mittendrin ein schwedisches Bürschchen aus gutem Haus, achtzehn Jahre alt, nach Deutschland gekommen, um die Sprache zu lernen, im Kopf aber schon den Traum von der Karriere als Fotograf.
Ein Zufall hatte den jungen Mann ins Café Lehmitz geführt, und als er dort einigermaßen naiv seine Kamera unbeobachtet auf einem Tisch hat liegen lassen, so geht die Legende, wurde sie ihm keineswegs gestohlen, vielmehr nutzten die Gäste die Gelegenheit, sich wechselseitig zu fotografieren, bis der Schwarzweißfilm voll war. Das brachte Anders Petersen auf eine Idee - und machte ihn später weltberühmt. Denn fortan nahm er die Bilder selbst auf. Abend für Abend. Jahr für Jahr. Das Buch "Café Lehmitz", 1978 erstmals erschienen und bis heute lieferbar, ist ein Klassiker der Fotobuchliteratur und so etwas wie das Vorzeigestück, wenn Beispiele gesucht werden für den Balanceakt zwischen Kunst und Sozialreportage. Und was wurde für Petersens hemmungslosen Einsatz nicht alles an Begriffen gestaltet, bis hin zum "konfrontativen Humanismus". Denn nie wurde Petersen, den bis heute bei seiner Arbeit eine ungebändigte Neugierde auf das Leben im Extrem antreibt, zynisch. Er ist das, was die Sozialanthropologie den teilnehmenden Beobachter nennt. Zählt sich stets irgendwie dazu. Was ihn in ein Dilemma führte.
Für gute Fotografien, erklärte er einmal, müsse man mit einem Fuß im Thema stehen, mit dem anderen draußen. Sein Problem sei es, dass er am Ende stets mit beiden Füßen drinstehe. Das Hinterland in den Abgründen der Gesellschaft wurde zu seiner Zweitheimat - die Anderswelt. Was das mit ihm anstellt, weiß nur er.
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