Nach ihrem vielbeachteten rasanten Patchwork-Roman "Spielzone" legt Tanja Dückers einen ebenso tempo- wie abwechlungsreich erzählten Geschichtenband vor: Psychologisch verschlungen, eigensinnig beobachtet und oft von hintersinniger Komik, stecken diese Erzählungen um ganz normale Nervtöter, leichtsinnige Kinder oder verwirrte Großmütter voll zärtlicher Bosheiten und akribischer Perfidien. Nathalie hat mit fünfzehn angefangen, eine Liste über ihre Liebhaber zu führen. Nun sind es - sie hat vor zwei Tagen nachgezählt - neunundneunzig. Plötzlich bereut sie, diese Liste angelegt zu haben, eine ungute Ehrfurcht erfüllt sie und ein Problem: Wer wird die goldene Nummer hundert? Schwankend zwischen Zwanghaftigkeit undSelbstvergessenheit, wählt sie einen seltsamen Kompromiß. Lukas kommt mit einem Nachschlüssel in die Wohnung seiner früheren Freundin, die jetzt mit Uwe, dem absoluten "Anti-Lukas", zusammenlebt. Wenn die beiden nicht zu Hause sind, schleicht sich Lukas ein und hinterläßt Spuren, um ein Moment von Irritation in die Pärchenharmonie einzufädeln. Lauri steht eines Tages mit Seesack und Brokatstirnband auf dem Hof eines besetzten Hauses und fragt nach einem Zimmer. Von da an tönt morgens ein lautes "Ooohm" durchs Haus, werden Horoskope in der Gemeinschaftsküche vorgelesen und Verletzungen mit Tigerfett behandelt. Doch es gibt noch "Ungläubige" ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.07.2001Spaßpflicht
Semiotik des farbenfrohen Hemds: Erzählungen von Tanja Dückers
Eine deutsche Austauschschülerin, die in eine zweideutige Situation mit ihrem amerikanischen Gastvater gerät, eine blonde Studentin, die die Verführung ihres hundertsten Liebhabers zelebriert, ein junger Angestellter, der jeden Samstagabend in der leeren Wohnung seiner Verflossenen umherschleicht. Der Erzählungsband „Café Brazil” von Tanja Dückers entwickelt eine Poetik des Nicht-Alltäglichen: Dückers erzählt von Menschen, die ein Geheimnis haben, weil sie außergewöhnliche Dinge tun. Das kann der alte Mann sein, der obgleich aufrichtig glücklich verheiratet, homoerotische Beziehungen zu seinem besten Freund unterhält, oder die Studentin, die, mit ihrer neuesten Eroberung im Restaurant sitzend, während des Hauptgangs den Waschraum aufsucht, um dort Sex mit dem jungen Russen vom Nebentisch zu haben.
Dückers’ Helden sind unvernünftig, unangepasst, unökonomisch, unmoralisch und unberechenbar, sie wollen, so könnte man sagen, einfach nur sie selbst sein. „Das persönliche Wohlbefinden im Augenblick”, hat die 32- jährige Autorin im Spiegel über ihre Generation geschrieben, „steht über dem beruflichem Ehrgeiz oder dem Engagement für kollektive Ziele.” Anders als noch 1968 schäme sich heute niemand mehr, „in Ruhe seinen Privatismus zu zelebrieren; die Leute verbrämen ihre ureigenen Träume, Konflikte und Pläne nicht mehr mit geborgten Parolen.” Solche Aussagen lesen sich wie ein hinter diesen Erzählungen stehendes Programm: Fort mit allen geborgten Parolen und los geht das fröhliche Ausleben des Ureigenen.
Dass das noch lange nicht jedermanns Sache ist, weiß Dückers auch. Deshalb hat sie ihren emphatischen Individuen als Gegenspieler den langweiligen, meist profitorientierten und immer fremdbestimmten Pflichterfüller an die Seite gestellt. Kirsten und Uwe zum Beispiel: „Kirsten und Uwe gehen jeden Samstagabend weg. Jeden. Spaßpflichtprogramm. Stehen auf langweiligen Parties herum. Denken, das müsse man tun. Denken, sie seien beliebt.”
So gibt es in dieser fiktiven Welt zwei Sorten von Leuten: die Eigensinnigen und die Pflichterfüller, die Romantischen und die Philister. Alle Erzählungen des Bandes funktionieren aus der Logik dieses Gegensatzes heraus: Wenn zwei Eigensinnige aufeinander treffen, verleben sie einen poetischen Nachmittag mit Blut, Fotografie und Pistolenschuss, wenn zwei Angepasste sich sehen, dann tun sie nicht, was sie gern tun würden, übereinander herfallen nämlich, sondern sie unterhalten sich gesittet über die neue Lovis-Corinth-Ausstellung, und wenn eine Romantikerin einem Philister gegenübersitzt, dann verschwindet sie eben kurz mit dem jungen Wilden vom Nebentisch.
Es hat was von ausgleichender Gerechtigkeit. Die Romantischen mögen es in der Wirklichkeit schwerer haben, in der Minderzahl sein und die schlechter bezahlten Jobs ausfüllen – hier sind sie die Guten und sie siegen auf ganzer Linie: Literatur als Wiederherstellung eines gestörten Gleichgewichts.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum Tanja Dückers die in Klischees und anderen Zwängen befangenen Pflichtmenschen nicht näher analysiert. Sie scheint die uneigentliche Individualität diskreditieren, aber nicht verstehen zu wollen. Wie sie sie beschreibt, gehört allerdings zum Gelungensten in ihren Texten. Dückers kann auf subtile Weise boshaft sein. Woran erkennen wir den Fremdbestimmten? Am Zeichenhaften seiner kleinen Handlungen: Peter, der immer betont farbenfrohe Hemden trägt, wenn er in südamerikanische Bars geht, oder der zwanghafte Kunststudent, der, als er seine anziehende Kommilitonin besucht, eilfertig die braunen Halbschuhe auszieht und sie unter das dafür vorgesehene Bänkchen stellt.
Weniger überzeugend fallen die Beschreibungen der anderen Seite aus: Ihr Geheimnis ist eigentlich stets ein erotisches. Sex als Metapher und Signum für Grenzüberschreitung und selbstbestimmtes Leben – da müsste man sich mehr einfallen lassen als homosexuelle Affären oder jugendliche Promiskuität.
Tanja Dückers’ Buch ist eine Art flammendes Plädoyer für den Eigensinn, fürs Anderssein – für das sogenannte Individuum. Es bleibt nur die Frage, ob es damit nicht längst offene Türen einrennt, genau jenem Mitläufertum in die Arme joggt, das es scheinbar bekämpfen will: Mit „just-do-it”-Slogans im Kopf kommt man allenfalls noch zum nächsten Turnschuhladen.
EVA MARZ
TANJA DÜCKERS: Café Brazil. Erzählungen. Aufbau-Verlag, Berlin 2001. 203 Seiten, 29, 90 Mark
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Semiotik des farbenfrohen Hemds: Erzählungen von Tanja Dückers
Eine deutsche Austauschschülerin, die in eine zweideutige Situation mit ihrem amerikanischen Gastvater gerät, eine blonde Studentin, die die Verführung ihres hundertsten Liebhabers zelebriert, ein junger Angestellter, der jeden Samstagabend in der leeren Wohnung seiner Verflossenen umherschleicht. Der Erzählungsband „Café Brazil” von Tanja Dückers entwickelt eine Poetik des Nicht-Alltäglichen: Dückers erzählt von Menschen, die ein Geheimnis haben, weil sie außergewöhnliche Dinge tun. Das kann der alte Mann sein, der obgleich aufrichtig glücklich verheiratet, homoerotische Beziehungen zu seinem besten Freund unterhält, oder die Studentin, die, mit ihrer neuesten Eroberung im Restaurant sitzend, während des Hauptgangs den Waschraum aufsucht, um dort Sex mit dem jungen Russen vom Nebentisch zu haben.
Dückers’ Helden sind unvernünftig, unangepasst, unökonomisch, unmoralisch und unberechenbar, sie wollen, so könnte man sagen, einfach nur sie selbst sein. „Das persönliche Wohlbefinden im Augenblick”, hat die 32- jährige Autorin im Spiegel über ihre Generation geschrieben, „steht über dem beruflichem Ehrgeiz oder dem Engagement für kollektive Ziele.” Anders als noch 1968 schäme sich heute niemand mehr, „in Ruhe seinen Privatismus zu zelebrieren; die Leute verbrämen ihre ureigenen Träume, Konflikte und Pläne nicht mehr mit geborgten Parolen.” Solche Aussagen lesen sich wie ein hinter diesen Erzählungen stehendes Programm: Fort mit allen geborgten Parolen und los geht das fröhliche Ausleben des Ureigenen.
Dass das noch lange nicht jedermanns Sache ist, weiß Dückers auch. Deshalb hat sie ihren emphatischen Individuen als Gegenspieler den langweiligen, meist profitorientierten und immer fremdbestimmten Pflichterfüller an die Seite gestellt. Kirsten und Uwe zum Beispiel: „Kirsten und Uwe gehen jeden Samstagabend weg. Jeden. Spaßpflichtprogramm. Stehen auf langweiligen Parties herum. Denken, das müsse man tun. Denken, sie seien beliebt.”
So gibt es in dieser fiktiven Welt zwei Sorten von Leuten: die Eigensinnigen und die Pflichterfüller, die Romantischen und die Philister. Alle Erzählungen des Bandes funktionieren aus der Logik dieses Gegensatzes heraus: Wenn zwei Eigensinnige aufeinander treffen, verleben sie einen poetischen Nachmittag mit Blut, Fotografie und Pistolenschuss, wenn zwei Angepasste sich sehen, dann tun sie nicht, was sie gern tun würden, übereinander herfallen nämlich, sondern sie unterhalten sich gesittet über die neue Lovis-Corinth-Ausstellung, und wenn eine Romantikerin einem Philister gegenübersitzt, dann verschwindet sie eben kurz mit dem jungen Wilden vom Nebentisch.
Es hat was von ausgleichender Gerechtigkeit. Die Romantischen mögen es in der Wirklichkeit schwerer haben, in der Minderzahl sein und die schlechter bezahlten Jobs ausfüllen – hier sind sie die Guten und sie siegen auf ganzer Linie: Literatur als Wiederherstellung eines gestörten Gleichgewichts.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum Tanja Dückers die in Klischees und anderen Zwängen befangenen Pflichtmenschen nicht näher analysiert. Sie scheint die uneigentliche Individualität diskreditieren, aber nicht verstehen zu wollen. Wie sie sie beschreibt, gehört allerdings zum Gelungensten in ihren Texten. Dückers kann auf subtile Weise boshaft sein. Woran erkennen wir den Fremdbestimmten? Am Zeichenhaften seiner kleinen Handlungen: Peter, der immer betont farbenfrohe Hemden trägt, wenn er in südamerikanische Bars geht, oder der zwanghafte Kunststudent, der, als er seine anziehende Kommilitonin besucht, eilfertig die braunen Halbschuhe auszieht und sie unter das dafür vorgesehene Bänkchen stellt.
Weniger überzeugend fallen die Beschreibungen der anderen Seite aus: Ihr Geheimnis ist eigentlich stets ein erotisches. Sex als Metapher und Signum für Grenzüberschreitung und selbstbestimmtes Leben – da müsste man sich mehr einfallen lassen als homosexuelle Affären oder jugendliche Promiskuität.
Tanja Dückers’ Buch ist eine Art flammendes Plädoyer für den Eigensinn, fürs Anderssein – für das sogenannte Individuum. Es bleibt nur die Frage, ob es damit nicht längst offene Türen einrennt, genau jenem Mitläufertum in die Arme joggt, das es scheinbar bekämpfen will: Mit „just-do-it”-Slogans im Kopf kommt man allenfalls noch zum nächsten Turnschuhladen.
EVA MARZ
TANJA DÜCKERS: Café Brazil. Erzählungen. Aufbau-Verlag, Berlin 2001. 203 Seiten, 29, 90 Mark
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