Lange Zeit hatte Cioran, rumänisch-französischer Aphoristiker "auf den Gipfeln der Verzweiflung", ein stets geschlossenes Heft auf seinem Tisch liegen. Nach seinem Tod 1995 fanden sich vierunddreißig dieser Hefte. Die Umschläge unterschieden sich einzig durch Nummer und Datum. Fünfzehn Jahre hindurch hat stets eines dieser Hefte griffbereit auf Ciorans Schreibtisch gelegen, es schien immer das gleiche zu sein. Die Cahiers haben nichts von einem Tagebuch. Eher handelt es sich um Skizzen, Entwürfe. Im Dezember 1969 notiert Cioran: "Ich werde mich an diese Cahiers klammern, denn sie sind der einzige Kontakt, den ich mit dem 'Schreiben' habe. Seit Monaten habe ich nichts mehr geschrieben. Aber diese tägliche Übung hat etwas Gutes, sie erlaubt es mir, mich den Worten zu nähern und meine Obsessionen ebenso wie meine Launen in sie hineinzuschütten. Denn nichts ist abstumpfender und belangloser, als einer Idee nachzustellen." Simone Boue, Ciorans Lebensgefährtin, hat die Eintragungen abgesch rieben, teilweise gekürzt und 1997 veröffentlicht, und Verena von der Heyden-Rynsch hat eine Auswahl aus diesen Aufzeichnungen getroffen, "die teilweise wesentliche Ansätze seines Denkens darstellen und andererseits sehr persönliche anekdotische Fragmente sind, die den Menschen Cioran in seiner Komplexität und seinem nie versiegenden Humor widerspiegeln".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.1997Mensch der Dachrinnen
Die zweite Geburt: Émile Cioran in seinen Tagebüchern
PARIS, Ende Dezember
Der Tod vor bald drei Jahren hat der periodisch aufflammenden Polemik um diesen Autor kein Ende gesetzt. Geredet wird vor allem über nationalistische Jugendverwirrungen in den dreißiger Jahren. Dennoch ist Cioran längst ein Klassiker der modernen französischen Prosa. Er hält in die Schulbücher Einzug. Noch vor dem Philosophen der ungeweinten Tränen, des unausgeführten Selbstmords und der existentiellen Langeweile wird in Frankreich der große Stilist rezipiert. Der Meister der französischen Prosa soll den rumänischen Schwärmer verdrängen.
Ein Kapitel des im letzten Frühjahr erschienenen Buchs "Cioran, l'hérétique" von Patrice Bollon heißt "Die zweite Geburt". Mit dem 1947 gefaßten Entschluß, fortan ausschließlich auf französisch zu schreiben, habe der Autor sich endgültig von seinen Verblendungen abgewandt und sei gleichsam ein anderer geworden, lautet eine These des Buchs. Wenn nun also, wie Marcelin Pleynet in der jüngsten Nummer von Philippe Sollers' Zeitschrift "L'infini" dies tut, Cioran als ein "rumänischer Philosoph" bezeichnet wird, hat das einen präzisen, nämlich polemischen Sinn. Das Kompromittierende soll ihn abermals einholen. In diesem Sinne wird etwa der Schriftsteller Mihail Sebastian und sein in Rumänien erschienenes Tagebuch zitiert, wonach Cioran während seines Rumänien-Aufenthaltes im Januar 1941 beim Aufstand der Legionäre und bei den antisemitischen Aktionen aktiv mitgewirkt haben soll. Einstweilen ist das nichts als eine Behauptung.
Der französische Sinn für Stileinheit, Denkwandel und Werktotalität hat immerhin den Vorteil, daß er die Wirkung von pauschalen Urteilen eindämmt. Diese differenzierende Haltung kann sich fortan auf ein paar Argumente mehr stützen. Denn nun sind im Verlag Gallimard die tausendseitigen "Cahiers" von Cioran erschienen, in denen der Autor zwischen 1957 und 1972 seine täglichen Aufzeichnungen festhielt. "A détruire", zu vernichten, hatte er auf den Einband mehrerer dieser insgesamt vierunddreißig Notizhefte geschrieben. Sie enthalten kurze, meist undatierte Ideenskizzen, Lektüreerinnerungen, Anekdoten, Situationsschilderungen und Themenentwürfe, von denen manche fast wörtlich in die publizierten Werke eingegangen sind. Simone Boué, die vor drei Monaten verstorbene Vertraute Ciorans, mochte verständlicherweise nicht vollstrecken, was der Autor in all den Jahren selbst nicht tat, und hat mit dieser Publikation Einblick in den Alltag des Einsiedlers von Odéon gewährt.
Der aus dem publizierten Werk sprechende Cioran war eine wirkungssicher inszenierte Figur: Jeder, der ihn kannte, wird dies bezeugen. Inszeniert sind auch die nun erschienenen Aufzeichnungen - keine Spur also von einem "wahren" Cioran. Und doch sind wir ihm hier näher, können sein abgründiges Spiel mit sich selbst besser, gleichsam aus der Kulisse verfolgen. Was der Autor sonst seinen Lesern oder Interviewern über Verlassenheit, Schlaflosigkeit und kosmische Vergeblichkeit ins Angesicht sagt, kehrt hier im flüchtig hingeschriebenen Parlando aus der zermürbend gleichförmigen Einsamkeit des Mansardenbewohners wieder. Dieses Alleinsein läßt dem scharfen Aphoristiker mitunter so etwas wie Stoßgebete entfahren.
Als er nach über zwanzigjährigem Leben in billigen Hotelzimmern im Sommer 1960 seine Zweizimmerwohnung in der Rue de l'Odéon bezieht, notiert er: "Ein Zuhause haben, Gott vergebe mir eine solche Heruntergekommenheit!" Wie in den Hotelzimmern wohne er auch in dieser Wohnung wieder unterm Dach, schreibt er beiläufig an anderer Stelle: "Ich bin der Mensch der letzten Etage, der Mensch der Dachrinnen." Hoch oben zwischen Himmel und Straßengetümmel führt der Cioran dieser Sudelhefte in oft konkreten Situationen, beim Nachhausekommen spätabends von einer geselligen Runde oder vom Konzert, zu schlafloser Stunde morgens um vier oder mitten am Nachmittag müßig auf dem Bett liegend, seinen Kampf gegen die Existenz, mit dem er in seinen veröffentlichten Schriften so allgemein brillierte. Das verleiht seinem Werk ein neues Profil von persönlicher Tiefe. Und so liegt er auch am 31. Dezember 1964 auf dem Bett und blickt in einen stürmisch grauen, bedrohlichen Himmel: "Wer könnte ohne Ich-Gefühl, ohne Eitelkeit, ohne diese tiefe, an unser Nichts uns bindende Schäbigkeit leben und auskommen inmitten einer Welt, die uns ignoriert, inmitten von Wesen, für die niemand zählt?"
Die subjektive Verankerung, die in diesen Aufzeichnungen sich offenbart, ist die eines krankheitsanfälligen, meist deprimierten und manchmal - nach einem Bach-Konzert - auch euphorischen, die langen Tage bis zum Übelwerden mit Tabak und Lektüre füllenden und dann in lustlosen Nachtspaziergängen um den Jardin du Luxembourg wieder leerenden Alltags. Unglück war für Cioran stets die Kehrseite vollkommenen Glücks: Nie haben wir die abgrundtiefe Langeweile der Sonntagnachmittage in Sibiu in so enger Verbindung mit dem kindlichen Glücksverlangen wahrgenommen wie in den spontanen Kindheitserinnerungen dieser Aufzeichnungen. "Ich suchte mein Heil in der Utopie und fand ein bißchen Trost in der Apokalypse", heißt einer der - wenigen - druckreifen Aphorismen der Tagebücher; und er könnte ihnen als Motto dienen.
Wer sich in solchen Extremen bewegt, nimmt den Tageslärm nur von ferne wahr. Pascal, Nietzsche, Dostojewski, einige Mystiker, aber auch Simone Weil sind die wiederkehrenden Referenzen. Dennoch geht Cioran mitunter auch in die Vorlesung Jacques Lacans und findet dessen Auftritte clownhaft großartig. Er liest - widerwillig - Michel Foucault und Roland Barthes und schimpft über deren ungenießbaren Jargon. Wechselhafter ist die Einstellung zu Sartre: Er billigt ihm eine gewisse Brillanz zu, aber er nennt ihn im Handumdrehen auch wieder "einen masochistischen Schullehrer", einen "Opportunisten" und "Kriecher-Philosophen", der mit seiner obsessiven, pedantischen, deutsch wirkenden Ironie immer scheinen wolle, was er nicht sei. Den Unruhen des Mai 1968, die Cioran in seinem Quartier aus nächster Nähe erlebte, kann er nebst ein paar wohlwollenden Betrachtungen über das Chaos nur Kopfschütteln abgewinnen: Einen das Odéon besetzenden Studenten habe er sagen hören, die Arbeiter blieben der Debatte fern, weil sie Angst vor den Französischfehlern hätten - "welch ein Volk von Grammatikern".
Dieses Regelhafte, Präzise aber war es gerade, das sein Hang zum Exzessiven so dringend nötig hatte, wie diese Aufzeichnungen deutlicher denn je zeigen. Im Unterschied etwa zu der ihm fremd werdenden deutschen Kultur, die außer in ihren genialen Momenten dumm, borniert, rechthaberisch und zur Ironie ganz unfähig sei, habe die französische die Genialität des Maßes und Mittelmaßes hervorgebracht. Nur im Französischen könne er klar denken, notiert Cioran wiederholt und bekräftigt so seinerseits die These von der "zweiten Geburt". Die 1937 erschienene Frühschrift über die "Verklärung Rumäniens" erscheine ihm bei der Wiederlektüre wie in einer "früheren Existenz" geschrieben, notiert er im Februar 1969 und erwähnt auch ein Telefongespräch mit Ionesco über die "intellektuelle Schande", die er wegen seiner Jugendbegeisterung für die "Eiserne Garde" empfinde.
Die französische Sprache trieb ihm den Zwang aus, diffus stets ein Ding und sein Gegenteil zu wollen. Nicht das geringste Zitat von ihm in Rundfunk und Presse seit einem Jahr, klagt er eines Tages in seiner Dachstube: Kaum stößt er aber auf die Taschenbuchausgabe eines seiner Werke auf dem Büchertisch der Samaritaine, geht er deprimiert nach Hause. Als er vom Nobelpreis für seinen Freund Beckett erfährt, notiert er trocken: "Welche Erniedrigung für einen so ehrgeizigen Menschen! Die Traurigkeit, verstanden worden zu sein!" Auch dem physischen Reiz der Menschen ist er nicht abgeneigt, stellt sich die hübsche Reisenachbarin im Zug dann aber doch lieber als verwesendes Skelett, als "Fleisch ohne Notwendigkeit" vor.
In seinem publizierten Werk hat er diese Untröstlichkeit stilistisch aufblitzen lassen. In den Tagebüchern nimmt sie etwas Kursorisches, schwer vor sich hin Schreitendes und stereotyp Wiederkehrendes an. Nie haben wir Ciorans Verlangen nach physischer Verausgabung und Körpermüdigkeit realer empfunden. Immer aufs neue kehrt der ruhelose Fußgänger nach Hause und trägt seinen Lebensüberdruß häppchenweise die Treppe hoch unters Dach. Selbst dort holt aber das Leben sich sein Teil zurück, indem etwa ein Steuerinspektor anklopft. Ein Inspektor der Familienausgleichskasse habe bei ihm vorgesprochen, notiert Cioran eines Sommertags 1967: "Nun soll ich auch noch besteuert werden und zum Unterhalt dieses Unternehmens beitragen - man möchte den Verstand verlieren dabei." Wie er es schaffte, ihn zu behalten, dafür bieten die tausend Seiten dieser Aufzeichnungen ein wertvolles Stenogramm. JOSEPH HANIMANN
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Die zweite Geburt: Émile Cioran in seinen Tagebüchern
PARIS, Ende Dezember
Der Tod vor bald drei Jahren hat der periodisch aufflammenden Polemik um diesen Autor kein Ende gesetzt. Geredet wird vor allem über nationalistische Jugendverwirrungen in den dreißiger Jahren. Dennoch ist Cioran längst ein Klassiker der modernen französischen Prosa. Er hält in die Schulbücher Einzug. Noch vor dem Philosophen der ungeweinten Tränen, des unausgeführten Selbstmords und der existentiellen Langeweile wird in Frankreich der große Stilist rezipiert. Der Meister der französischen Prosa soll den rumänischen Schwärmer verdrängen.
Ein Kapitel des im letzten Frühjahr erschienenen Buchs "Cioran, l'hérétique" von Patrice Bollon heißt "Die zweite Geburt". Mit dem 1947 gefaßten Entschluß, fortan ausschließlich auf französisch zu schreiben, habe der Autor sich endgültig von seinen Verblendungen abgewandt und sei gleichsam ein anderer geworden, lautet eine These des Buchs. Wenn nun also, wie Marcelin Pleynet in der jüngsten Nummer von Philippe Sollers' Zeitschrift "L'infini" dies tut, Cioran als ein "rumänischer Philosoph" bezeichnet wird, hat das einen präzisen, nämlich polemischen Sinn. Das Kompromittierende soll ihn abermals einholen. In diesem Sinne wird etwa der Schriftsteller Mihail Sebastian und sein in Rumänien erschienenes Tagebuch zitiert, wonach Cioran während seines Rumänien-Aufenthaltes im Januar 1941 beim Aufstand der Legionäre und bei den antisemitischen Aktionen aktiv mitgewirkt haben soll. Einstweilen ist das nichts als eine Behauptung.
Der französische Sinn für Stileinheit, Denkwandel und Werktotalität hat immerhin den Vorteil, daß er die Wirkung von pauschalen Urteilen eindämmt. Diese differenzierende Haltung kann sich fortan auf ein paar Argumente mehr stützen. Denn nun sind im Verlag Gallimard die tausendseitigen "Cahiers" von Cioran erschienen, in denen der Autor zwischen 1957 und 1972 seine täglichen Aufzeichnungen festhielt. "A détruire", zu vernichten, hatte er auf den Einband mehrerer dieser insgesamt vierunddreißig Notizhefte geschrieben. Sie enthalten kurze, meist undatierte Ideenskizzen, Lektüreerinnerungen, Anekdoten, Situationsschilderungen und Themenentwürfe, von denen manche fast wörtlich in die publizierten Werke eingegangen sind. Simone Boué, die vor drei Monaten verstorbene Vertraute Ciorans, mochte verständlicherweise nicht vollstrecken, was der Autor in all den Jahren selbst nicht tat, und hat mit dieser Publikation Einblick in den Alltag des Einsiedlers von Odéon gewährt.
Der aus dem publizierten Werk sprechende Cioran war eine wirkungssicher inszenierte Figur: Jeder, der ihn kannte, wird dies bezeugen. Inszeniert sind auch die nun erschienenen Aufzeichnungen - keine Spur also von einem "wahren" Cioran. Und doch sind wir ihm hier näher, können sein abgründiges Spiel mit sich selbst besser, gleichsam aus der Kulisse verfolgen. Was der Autor sonst seinen Lesern oder Interviewern über Verlassenheit, Schlaflosigkeit und kosmische Vergeblichkeit ins Angesicht sagt, kehrt hier im flüchtig hingeschriebenen Parlando aus der zermürbend gleichförmigen Einsamkeit des Mansardenbewohners wieder. Dieses Alleinsein läßt dem scharfen Aphoristiker mitunter so etwas wie Stoßgebete entfahren.
Als er nach über zwanzigjährigem Leben in billigen Hotelzimmern im Sommer 1960 seine Zweizimmerwohnung in der Rue de l'Odéon bezieht, notiert er: "Ein Zuhause haben, Gott vergebe mir eine solche Heruntergekommenheit!" Wie in den Hotelzimmern wohne er auch in dieser Wohnung wieder unterm Dach, schreibt er beiläufig an anderer Stelle: "Ich bin der Mensch der letzten Etage, der Mensch der Dachrinnen." Hoch oben zwischen Himmel und Straßengetümmel führt der Cioran dieser Sudelhefte in oft konkreten Situationen, beim Nachhausekommen spätabends von einer geselligen Runde oder vom Konzert, zu schlafloser Stunde morgens um vier oder mitten am Nachmittag müßig auf dem Bett liegend, seinen Kampf gegen die Existenz, mit dem er in seinen veröffentlichten Schriften so allgemein brillierte. Das verleiht seinem Werk ein neues Profil von persönlicher Tiefe. Und so liegt er auch am 31. Dezember 1964 auf dem Bett und blickt in einen stürmisch grauen, bedrohlichen Himmel: "Wer könnte ohne Ich-Gefühl, ohne Eitelkeit, ohne diese tiefe, an unser Nichts uns bindende Schäbigkeit leben und auskommen inmitten einer Welt, die uns ignoriert, inmitten von Wesen, für die niemand zählt?"
Die subjektive Verankerung, die in diesen Aufzeichnungen sich offenbart, ist die eines krankheitsanfälligen, meist deprimierten und manchmal - nach einem Bach-Konzert - auch euphorischen, die langen Tage bis zum Übelwerden mit Tabak und Lektüre füllenden und dann in lustlosen Nachtspaziergängen um den Jardin du Luxembourg wieder leerenden Alltags. Unglück war für Cioran stets die Kehrseite vollkommenen Glücks: Nie haben wir die abgrundtiefe Langeweile der Sonntagnachmittage in Sibiu in so enger Verbindung mit dem kindlichen Glücksverlangen wahrgenommen wie in den spontanen Kindheitserinnerungen dieser Aufzeichnungen. "Ich suchte mein Heil in der Utopie und fand ein bißchen Trost in der Apokalypse", heißt einer der - wenigen - druckreifen Aphorismen der Tagebücher; und er könnte ihnen als Motto dienen.
Wer sich in solchen Extremen bewegt, nimmt den Tageslärm nur von ferne wahr. Pascal, Nietzsche, Dostojewski, einige Mystiker, aber auch Simone Weil sind die wiederkehrenden Referenzen. Dennoch geht Cioran mitunter auch in die Vorlesung Jacques Lacans und findet dessen Auftritte clownhaft großartig. Er liest - widerwillig - Michel Foucault und Roland Barthes und schimpft über deren ungenießbaren Jargon. Wechselhafter ist die Einstellung zu Sartre: Er billigt ihm eine gewisse Brillanz zu, aber er nennt ihn im Handumdrehen auch wieder "einen masochistischen Schullehrer", einen "Opportunisten" und "Kriecher-Philosophen", der mit seiner obsessiven, pedantischen, deutsch wirkenden Ironie immer scheinen wolle, was er nicht sei. Den Unruhen des Mai 1968, die Cioran in seinem Quartier aus nächster Nähe erlebte, kann er nebst ein paar wohlwollenden Betrachtungen über das Chaos nur Kopfschütteln abgewinnen: Einen das Odéon besetzenden Studenten habe er sagen hören, die Arbeiter blieben der Debatte fern, weil sie Angst vor den Französischfehlern hätten - "welch ein Volk von Grammatikern".
Dieses Regelhafte, Präzise aber war es gerade, das sein Hang zum Exzessiven so dringend nötig hatte, wie diese Aufzeichnungen deutlicher denn je zeigen. Im Unterschied etwa zu der ihm fremd werdenden deutschen Kultur, die außer in ihren genialen Momenten dumm, borniert, rechthaberisch und zur Ironie ganz unfähig sei, habe die französische die Genialität des Maßes und Mittelmaßes hervorgebracht. Nur im Französischen könne er klar denken, notiert Cioran wiederholt und bekräftigt so seinerseits die These von der "zweiten Geburt". Die 1937 erschienene Frühschrift über die "Verklärung Rumäniens" erscheine ihm bei der Wiederlektüre wie in einer "früheren Existenz" geschrieben, notiert er im Februar 1969 und erwähnt auch ein Telefongespräch mit Ionesco über die "intellektuelle Schande", die er wegen seiner Jugendbegeisterung für die "Eiserne Garde" empfinde.
Die französische Sprache trieb ihm den Zwang aus, diffus stets ein Ding und sein Gegenteil zu wollen. Nicht das geringste Zitat von ihm in Rundfunk und Presse seit einem Jahr, klagt er eines Tages in seiner Dachstube: Kaum stößt er aber auf die Taschenbuchausgabe eines seiner Werke auf dem Büchertisch der Samaritaine, geht er deprimiert nach Hause. Als er vom Nobelpreis für seinen Freund Beckett erfährt, notiert er trocken: "Welche Erniedrigung für einen so ehrgeizigen Menschen! Die Traurigkeit, verstanden worden zu sein!" Auch dem physischen Reiz der Menschen ist er nicht abgeneigt, stellt sich die hübsche Reisenachbarin im Zug dann aber doch lieber als verwesendes Skelett, als "Fleisch ohne Notwendigkeit" vor.
In seinem publizierten Werk hat er diese Untröstlichkeit stilistisch aufblitzen lassen. In den Tagebüchern nimmt sie etwas Kursorisches, schwer vor sich hin Schreitendes und stereotyp Wiederkehrendes an. Nie haben wir Ciorans Verlangen nach physischer Verausgabung und Körpermüdigkeit realer empfunden. Immer aufs neue kehrt der ruhelose Fußgänger nach Hause und trägt seinen Lebensüberdruß häppchenweise die Treppe hoch unters Dach. Selbst dort holt aber das Leben sich sein Teil zurück, indem etwa ein Steuerinspektor anklopft. Ein Inspektor der Familienausgleichskasse habe bei ihm vorgesprochen, notiert Cioran eines Sommertags 1967: "Nun soll ich auch noch besteuert werden und zum Unterhalt dieses Unternehmens beitragen - man möchte den Verstand verlieren dabei." Wie er es schaffte, ihn zu behalten, dafür bieten die tausend Seiten dieser Aufzeichnungen ein wertvolles Stenogramm. JOSEPH HANIMANN
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Nach Meinung des Rezensenten Hans-Peter Kunisch hätten die tagebuchartigen Aufzeichnungen des rumänischen Philosophen eine durchaus faszinierende Lektüre sein können. "Ciorans erratische Sätze, oft im Rohzustand, noch nicht gefeilt, aus einem Leben heraus erzählt, das hier zum 17 Jahre umfassenden Roman aus Bemerkungen wird", schreibt Kunisch. Doch die Edition von V. von der Heyden-Rynsch leide an ihrem verkrampften Umgang mit Ciorans Geschichte, der in seinen jungen Jahren ein glühender Anhänger des rumänischen Faschismus' war. Alle inkriminierenden Passagen seien - im Unterschied zur französische Originalausgabe (mit 999 Seiten) - in der deutschen Ausgabe (mit nur noch 270 Seiten) einfach unter den Tisch gefallen. Zudem fehle jeglicher weiterführende Textkommentar, moniert Kunisch: "Man wird den Skeptiker Cioran nie verstehen, wenn man den Jugendwahn nicht mit ihm als Teil seines Lebenswerks begreift."
© Perlentaucher Medien GmbH
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