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Autorenporträt
Simone Weil, 1909 in Paris geboren und 1943 im englischen Exil gestorben, gehört zu den Gestalten des 20. Jahrhunderts, die alle Raster sprengen. Sie war politisch und sozial stark engagiert und entwickelte sich zu einer bekannten Mystikerin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Im Wartestand der Gnade
Simone Weils "Cahiers", vollständig / Von Joseph Hanimann

Der Urtext zu den Spätschriften Simone Weils liegt nun vollständig vor. Doch was heißt "Urtext", wo Mystik, Mathematik und mythologische Meditation mit solcher Intensität einander durchdringen? Das Ergebnis ist entweder eine von Sonderzeichen und Fußnoten durchfurchte Textgestalt wie die beim zweiten von vier sperrigen Bänden angelangte Ausgabe der "Cahiers" bei Gallimard im Rahmen der kritischen Werkedition. Oder aber es entsteht eine behutsam gestraffte Lesefassung wie die italienische und nun auch die deutsche Ausgabe, die auf mathematische Gleichungen und geometrische Skizzen weitgehend verzichtet. Die thematische Dichte, wie sie uns in den Notizbüchern der letzten drei Lebensjahre Simone Weils begegnet, stellt ohnehin die Frage, wie mystische Erfahrung aufs Papier zu bringen ist. Etwas Unverhältnismäßiges liegt da vor, das den Sinn philologischer Akribie relativiert und aus diesem vierten Band mitunter geradezu kurios zurückflimmert. Vier dumme Weiber laufen da etwa der schon in New York angelangten Tagebuchautorin 1942 aus einer Volksdichtung von Schoharie Hills unter die Feder: Eine bringt den Ofen zum Brot, um es zu backen, eine bringt das Cidre-Faß in die Küche zur Kanne, eine die Sonne zum Heu in die Scheune, eine andere springt, um in die Hose zu kommen, von außen hinein: "Versuchen, Gott in diese Welt zu bringen, anstatt die Welt zu verlassen", notiert die Autorin dazu. Die "Cahiers" sind Etappenmarkierungen einer Autorin, die sich im logisch kristallklaren Feuer verzehrt - auf dem Weg hinaus aus dieser Welt.

Dieser letzte Band der "Cahiers" enthält so wenig tagesanekdotische Details wie die drei vorangehenden. Er unterscheidet sich aber in seiner Überlieferungsgeschichte. Hatte Simone Weil im April 1942 vor der Abreise aus Marseille nach New York ihre bisherigen Notizhefte noch ihrem Freund Gustave Thibon übergeben können, der nach dem Krieg daraus das Buch "Schwerkraft und Gnade" zusammenstellte und sie dann zur weiteren Publikation ab 1951 freigab, gingen die letzten Hefte aus der New Yorker und Londoner Zeit, die den Inhalt dieses Bandes ausmachen, nach dem Tod Simone Weils an ihre Familie zurück. Unter dem Titel "La connaissance surnaturelle" wurden sie in willkürlicher Anordnung 1950 bei Gallimard als Buch publiziert, ohne daß erkennbar wurde, daß es sich um die letzten "Cahiers" handelt. Diese Ausgabe ist bis heute in Frankreich die einzige zugängliche Fassung dieser Aufzeichnungen - auf dem Umweg des deutschen, mustergültig teils direkt aus den Manuskripten übersetzten Texts ist so einstweilen auch französischen Lesern ein neuer Zugang geboten.

In der außerordentlichen, oft nur stichwortartig hingeworfenen Fülle sind manche aus den früheren Heften bekannte Zentralthemen praktisch verschwunden wie Schwerkraft oder Gewalt. Auch hinduistische und andere orientalische Bezüge sind seltener geworden. Andere Themen kommen dagegen hier zu ihrer vollen Entfaltung: das Warten als Voraussetzung des geistigen Lebens, die Zeit als absolute Strafe, das dominierende Grundthema der Demut. Das Thema des Wartens mochte in jenen Sommer- und Herbstmonaten 1942 für Simone Weil auch eine unmittelbar existentielle Realität gehabt haben: Sie hatte im Mai mit ihren Eltern das Schiff nach New York in der festen Absicht bestiegen, so schnell wie möglich den Rückweg nach London anzutreten und dort sich der Résistance anzuschließen. Das Harren auf die notwendigen Papiere war von zermürbender Langwierigkeit.

Wenn die zum Einsatz an die Front Drängende das Warten als "handelnde Passivität des Denkens" im Sinne eines radikalen Demut-Ideals umdeutet, kommt in dieser analytischen Spannung aber exemplarisch das ganze Dilemma des in der Welt eingeschlossenen Mystikers zum Ausdruck. Eine Welt, der Zeit Geld und Wartezeit verlorene Zeit ist, mag die Forderung nach einer in reiner Demut aufgehenden Wartebereitschaft als frommes Streben nach Tugendhaftigkeit entschärfen: Kommt der Begriff Demut aber mit solcher Schärfe bis in die letzte Konsequenz durchgedacht daher, gerät das zur unmittelbaren Herausforderung - und das macht die Lektüre dieser Aufzeichnungen so aufregend. Demut ist der Oberbegriff für Dinge wie Geduld, Hinnahmebereitschaft, Gehorsam und hat seine Quintessenz in jener Haltung des um sein Leben flehenden Verlierers, die Simone Weil so stilisiert: "auf Knien, mit geneigtem Kopf, in der bequemsten Haltung für den Sieger, damit er den Hals mit einem Schwertstreich durchtrennt". In diesen Minuten lautlosen Wartens entleere sich das Herz aller Bindungen und öffne sich einem neuen Leben aus reinem Erbarmen.

Tiefer kann die Erniedrigungsemphase, diese abendländische Radikalisierung orientalisch asketischer Entsagung, um derentwillen Simone Weil sich wohl auch von ihrer jüdischen Herkunft ab- und der christlichen Menschwerdung Gottes zugewandt hatte, kaum getrieben werden. Immer zieht da eine Kraft hinab zum noch Niedrigeren, bis hin zu jener fragenden Notiz, ob es nicht eine andere Fassung der Erzählung von Noah gebe, wo die Arche untergeht und danach wieder auftaucht: "Die Sintflut ist fast eine neue Schöpfung." Und das Wasser ist das wichtigste Element in den Aufzeichnungen dieser Autorin, die sich bis zuletzt dem Getauftwerden widersetzte. Mit seinem scharfen Blick hat Cioran, der von der Generation Sartre-Bataille nur Simone Weil gelten ließ, früh deren Selbsterniedrigung in der spiegelbildlichen Umkehrung gelesen: Ihr "grenzenloser Stolz" beeindrucke ihn noch mehr als ihre Intelligenz, gestand er in seinen Aufzeichnungen und sprach von der "erhabenen Schamlosigkeit" ihres Märtyrerwillens.

An Hinweisen für diese Ambivalenz fehlt es in den "Cahiers" nicht. Sie manifestiert sich, wenn der körperliche Teil der Seele - ein Rudel Tiere, die im kakophonischen "Ich! ich! ich!" immerfort ihre Bedürfnisse in die Welt schreien - so gepeinigt wird, bis er in letzter Erschöpfung nur noch "aufhören!" fleht und "ich muß...", wenn der andere Seelenteil ihm aber kalt und zynisch mit dem Wort Talleyrands antwortet: "Ich sehe darin keine Notwendigkeit." Das ist nicht mehr Stolz, das ist der Triumph einer kühn alle theologische Seele-Körper-Schematik übersteigenden Dialektik, wo der Körper zum bloßen Hebel wird, mit dem die Seele auf die Seele einwirkt. Durch ihn lasse sie ihre eigene herumirrende Energie bis zur Erschöpfung sich austoben wie eine Ziege am Stock, die nach stundenlangem Zerren ermattet zur Ruhe kommt. Simone Weils Dialektik fegt oft schwindelerregend über die herkömmliche Begriffstopologie und die Abgründe des Paradoxen hinweg. Mystik und Dialektik, heißt es an einer Stelle, seien beides Wege, um den Gegensatz als logisches Irrtumskriterium zu beseitigen - die eine allerdings nach der natürlichen, die andere nach der übernatürlichen Vernunft.

Nichts ist der Philosophin indessen suspekter als der leichtfertige Gebrauch des Begriffs "Mysterium", den sie etwa dem Augustinus vorwirft. Berechtigt sei dieses Wort erst, wenn der strengste Gebrauch des Verstandes in die Sackgasse eines nicht lösbaren Gegensatzes geführt habe: "Wie ein Hebel überträgt dann der Begriff des Mysteriums das Denken auf die andere Seite der Sackgasse." Platon und Johannes vom Kreuz sind der Autorin die liebsten Zeugen eines so für den Verstand kontrollierbar gebliebenen Mysteriumsbegriffs. Dank ihm führt der Weg dann auch immer wieder zurück zu atemraubenden Intuitionen wie dem Strukturvergleich zwischen Israel und dem christlichen Rom: Israel habe seinen nationalen Götzen zu Gott erklärt, das Christentum umgekehrt Gott in Christus zum Götzen gemacht, wodurch das imperiale Rom, das eigentlich die jüdische Religion annehmen wollte, dessen nichtnationale, christliche Form übernehmen und so die Entwicklungsfolge von Israel über das Reich zur Kirche festigen konnte.

Der oft geäußerte Vorbehalt, Simone Weil biete statt kritischer Diskussion stets nur apodiktische Affirmation aus einer unverrückbaren Gewißheit heraus, trifft diese Notizhefte ganz besonders. Maurice Blanchot hat aber schon 1969 gezeigt, daß das Behaupten für Simone Weil oft das Verfahren des Prüfens ist und daß die Antwort bei ihr dem Fragen vorausgeht - im August-Heft der Zeitschrift "Akzente" (Carl Hanser Verlag) ist dieser Text Blanchots zusammen mit Weil-Kommentaren unter anderem von Emmanuel Levinas abgedruckt. Mit dieser Umpolung von Fragen und Antworten unterläuft die Autorin, die oft mit Pascal in Verbindung gebracht wird, auch kühn die Pascalsche Wette über die Existenz Gottes und vermag so im spekulativen Handstreich das entsprechende Risiko zu beseitigen. Indem das Gute über das Sein gesetzt wird, gilt: Selbst wenn Gott nur eine Täuschung sein sollte, bliebe er die einzige Verkörperung des Guten - "das ist viel besser als Pascals Wette", notiert die Autorin lakonisch.

Risikoflucht war es freilich zuallerletzt, was Simone Weils innere Spannung zwischen mystischer Weltentsagung und dem obsessiven Drang zum Fronteinsatz im besetzten Frankreich bestimmte. Gefahr und Risiko fiel in ihrer damaligen Geistesverfassung gar nicht mehr ins Gewicht. Bis 1939 wollte sie als Pazifistin keinen Krieg, nun wollte der Krieg, das heißt de Gaulle und die Résistance, ihren Einsatz nicht mehr. Ihr verbrecherischer Irrtum vor 1939 über die pazifistischen Kreise gehe auf Faulheit und Trägheit zurück, notierte die Autorin im Sommer 1943 kurz vor ihrem Tod im "Londoner Notizbuch", als der freiwillig Verhungernden schon klar war, daß sie nicht mehr zum Kämpfen nach Frankreich kommen sollte: Faulheit sei es gewesen, was sie damals gehindert habe, ihrem rechtmäßigen Wunsch nach politischer Enthaltung nachzukommen.

Die politische Enthaltsamkeit verfehlt zu haben, nicht das Engagement: Das ist ein ungewöhnlicher Selbstvorwurf für jene Intellektuellengeneration. Daß ausgerechnet der tonangebende Sartre-Kreis Simone Weil post mortem adoptierte, ist ein Anachronismus der Geschichte. Sie machte postum Karriere als Ikone des engagierten Nachkriegsintellektuellentums, als Kultfigur des moralischen Rigorismus, als Schirmherrin religiösen Schwärmens. Mit der kritischen Werkedition in Frankreich und der nun vollendeten "Cahiers"-Ausgabe in Deutschland, die über zehn Jahre hin dieselbe konzeptuelle Stringenz, editorische Sorgfalt, übersetzerische Exaktheit und Eleganz durchzuhalten verstand und ihren ursprünglichen Gesamtplan nur geringfügig zu korrigieren hatte, mag eine neue Phase beginnen. Fortan auch wider den Strich lesbar, enthüllen diese Texte etwas vom Unerhörtesten, was dieses Jahrhundert gegen sich selbst zu sagen vermochte.

Simone Weil: "Cahiers". Aufzeichnungen IV. Herausgegeben und aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München 1998. 367 S., geb., 58,- DM.

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