Süddeutsche ZeitungWenn nicht später, wann dann?
André Acimans Roman „Ruf mich bei deinem Namen”
Kann ein Autor von Vollkommenheit erzählen, ohne zu lügen? Wie viele Romane gibt es, die vom Paradies handeln und kein Kitsch sind? Der Schauplatz von André Acimans Roman „Ruf mich bei deinem Namen” ist ein Paradies. Der junge amerikanische Dozent Oliver ist für sechs Wochen Gast in einem luxuriösen Haus an der italienischen Riviera, um sein Buchmanuskript abzuschließen. Jedes Jahr lädt Elios Vater, ein Professor, einen jungen Akademiker in seine Sommerresidenz ein, doch anders als seine Vorgänger langweilt Oliver Elio nicht. Der Neunzehnjährige verliebt sich in den Amerikaner, der alle nur mit einem hingeworfenen „Später” abfertigt. Ein stetes Schwanken setzt ein zwischen Zärtlichkeit und Aggression, die Enttäuschungen zuvorkommen will. Eine Haltung, die Oliver einmal in der an Elio gerichteten Frage „Wenn nicht später, wann dann?” süffisant zur Sprache bringt.
Während beide den ersten Schritt nicht wagen, entfaltet der Roman ihre Charaktere mit erstaunlicher Subtilität. Der analytische Blick, mit dem hier erzählt wird, erklärt nicht und lässt Raum für Interpretationen, die den Erklärungen des Erzählers entgegenlaufen können – auch dann noch, als die Wünsche der beiden jungen Männer wahr werden und der Roman eine wenige Wochen andauernden Vollkommenheit zu schildern beginnt. Die meisten Autoren hätten wohl einen Konflikt zwischen dem Begehren der beiden Männer und einer repressiven Umwelt inszeniert, hier aber fehlen jegliche äußeren Hindernisse: Oliver und Elio stehen sich selbst im Weg, während sich der Vater, der längst alles durchschaut hat, am Abendtisch mit Oliver unterhält wie immer. Auch die glänzend geschilderte Idylle des italienischen Sommers trägt zur Leichtigkeit bei, genauso wie der selbstzufriedene Oliver mit seiner Lebenshaltung des „okay”, die etwas Provozierendes hat und doch verhindert, dass Elio melodramatische Szenen riskiert. Zu lächerlich müsste er sich dabei vorkommen.
André Aciman, der 1951 in Alexandria geboren wurde und heute mit Frau und Kindern in New York lebt, hat sich als Verfasser der Memoiren „Damals in Alexandria” und „Hauptstädte der Erinnerung”, als Essayist und Proust-Forscher einen Namen gemacht. Dass „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” für Aciman stilbildend und ideengebend war, ist nicht zu übersehen. Wie bei Proust ist Liebe ohne Eifersucht nicht denkbar, und so steht zwischen Elio und Oliver Chiara, mit der Elio – sie ahnt es – eher um Oliver zu quälen schläft als ihretwegen. Wie bei Proust ist die Zeit selbst einer der Protagonisten.
Das Spiel der Vokale
Man merkt das schon an der Erzählsituation. Aciman lässt Elio als Ich-Erzähler die Geschichte erleben und doch immer wieder durchscheinen, dass die Erzählhaltung eine rückblickende ist. Das Arsenal der Begriffe und die Behendigkeit, mit der Elios geschmeidige Sätze die Geschehnisse beschreiben, aber auch gelegentliche Sprünge im Tempus legen den Schluss auf einen aus der Ferne sich erinnernden Erzähler nahe, bevor die letzten Abschnitte ihn noch einmal bekräftigen: Oliver, heißt es da, hat kurze Zeit nach dem italienischen Sommer, den er damals mit Elio verbrachte, in den Vereinigten Staaten geheiratet. Elios Erinnerung ist eine nostalgische, auch wenn sie nicht ohne Trost durch die Gegenwart ist, wie ein erneutes Treffen beider nach Jahrzehnten zeigt.
„Ruf mich bei deinem Namen” erzählt von einer Seelenverwandtschaft, die Zeit und Getrenntsein überdauert. Vollkommenheit aber, die etwas ganz anderes ist, gibt es nur in der Erinnerung, höchstens noch in blitzhaften Momenten beim Sex oder auf einem ausufernden Fest. Fast alles an der Geschichte von Oliver und Elio war ein mühsam gekämpfter Kampf, und selbst der ist in der Gegenwart nicht wiederholbar. „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, denn man selbst und der Fluss haben sich verändert”, sagt Heraklit, von dem Olivers Buch handelt, und trotzdem bleibt man auf wundersame Art derselbe. Diese innere Erfahrung macht Aciman anschaulich, indem er zeigt, was die Zeit aus der Liebe eines Lebens macht.
Nicht nur in Gestalt Heraklits geht dabei Proust eine Verbindung mit der Antike ein, denn das literarische Zwillingsprogramm von Mythos und Psychologie, das Thomas Mann einmal als das seine benannt hat, verfolgt auch Aciman. Die Geschichte von Elio und Oliver (die Buchstaben des einen Namens gehen im anderen auf) ist auch eine mythische. Die Vernarrtheit des Erzählers in körperliche Details, seine schamlosen Sexschilderungen meinen ein Verschmelzen zweier Hälften, die zusammen einen Menschen ergeben, bis Elio und Oliver sich mitten im Akt bei ihrem eigenen Namen rufen. Der Geliebte zieht den Liebenden an, „weil er mehr ich ist als ich selbst es sein könnte”, wie es einmal bei der im Roman zitierten Emily Brontë heißt. Nicht männliche und weibliche Geschlechtsteile sind es, die diesen Kugelmenschen zusammenhalten, sondern, wie bei Proust, zueinander wandernde Seelen. Dass Aciman diese Vollkommenheit glaubhaft machen kann, macht „Ruf mich bei deinem Namen” zu einem großartigen Roman. KAI WIEGANDT
ANDRÉ ACIMAN: Ruf mich bei deinem Namen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann. Kein & Aber Verlag, Zürich 2008. 285 Seiten, 18,90 Euro.
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André Acimans Roman „Ruf mich bei deinem Namen”
Kann ein Autor von Vollkommenheit erzählen, ohne zu lügen? Wie viele Romane gibt es, die vom Paradies handeln und kein Kitsch sind? Der Schauplatz von André Acimans Roman „Ruf mich bei deinem Namen” ist ein Paradies. Der junge amerikanische Dozent Oliver ist für sechs Wochen Gast in einem luxuriösen Haus an der italienischen Riviera, um sein Buchmanuskript abzuschließen. Jedes Jahr lädt Elios Vater, ein Professor, einen jungen Akademiker in seine Sommerresidenz ein, doch anders als seine Vorgänger langweilt Oliver Elio nicht. Der Neunzehnjährige verliebt sich in den Amerikaner, der alle nur mit einem hingeworfenen „Später” abfertigt. Ein stetes Schwanken setzt ein zwischen Zärtlichkeit und Aggression, die Enttäuschungen zuvorkommen will. Eine Haltung, die Oliver einmal in der an Elio gerichteten Frage „Wenn nicht später, wann dann?” süffisant zur Sprache bringt.
Während beide den ersten Schritt nicht wagen, entfaltet der Roman ihre Charaktere mit erstaunlicher Subtilität. Der analytische Blick, mit dem hier erzählt wird, erklärt nicht und lässt Raum für Interpretationen, die den Erklärungen des Erzählers entgegenlaufen können – auch dann noch, als die Wünsche der beiden jungen Männer wahr werden und der Roman eine wenige Wochen andauernden Vollkommenheit zu schildern beginnt. Die meisten Autoren hätten wohl einen Konflikt zwischen dem Begehren der beiden Männer und einer repressiven Umwelt inszeniert, hier aber fehlen jegliche äußeren Hindernisse: Oliver und Elio stehen sich selbst im Weg, während sich der Vater, der längst alles durchschaut hat, am Abendtisch mit Oliver unterhält wie immer. Auch die glänzend geschilderte Idylle des italienischen Sommers trägt zur Leichtigkeit bei, genauso wie der selbstzufriedene Oliver mit seiner Lebenshaltung des „okay”, die etwas Provozierendes hat und doch verhindert, dass Elio melodramatische Szenen riskiert. Zu lächerlich müsste er sich dabei vorkommen.
André Aciman, der 1951 in Alexandria geboren wurde und heute mit Frau und Kindern in New York lebt, hat sich als Verfasser der Memoiren „Damals in Alexandria” und „Hauptstädte der Erinnerung”, als Essayist und Proust-Forscher einen Namen gemacht. Dass „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” für Aciman stilbildend und ideengebend war, ist nicht zu übersehen. Wie bei Proust ist Liebe ohne Eifersucht nicht denkbar, und so steht zwischen Elio und Oliver Chiara, mit der Elio – sie ahnt es – eher um Oliver zu quälen schläft als ihretwegen. Wie bei Proust ist die Zeit selbst einer der Protagonisten.
Das Spiel der Vokale
Man merkt das schon an der Erzählsituation. Aciman lässt Elio als Ich-Erzähler die Geschichte erleben und doch immer wieder durchscheinen, dass die Erzählhaltung eine rückblickende ist. Das Arsenal der Begriffe und die Behendigkeit, mit der Elios geschmeidige Sätze die Geschehnisse beschreiben, aber auch gelegentliche Sprünge im Tempus legen den Schluss auf einen aus der Ferne sich erinnernden Erzähler nahe, bevor die letzten Abschnitte ihn noch einmal bekräftigen: Oliver, heißt es da, hat kurze Zeit nach dem italienischen Sommer, den er damals mit Elio verbrachte, in den Vereinigten Staaten geheiratet. Elios Erinnerung ist eine nostalgische, auch wenn sie nicht ohne Trost durch die Gegenwart ist, wie ein erneutes Treffen beider nach Jahrzehnten zeigt.
„Ruf mich bei deinem Namen” erzählt von einer Seelenverwandtschaft, die Zeit und Getrenntsein überdauert. Vollkommenheit aber, die etwas ganz anderes ist, gibt es nur in der Erinnerung, höchstens noch in blitzhaften Momenten beim Sex oder auf einem ausufernden Fest. Fast alles an der Geschichte von Oliver und Elio war ein mühsam gekämpfter Kampf, und selbst der ist in der Gegenwart nicht wiederholbar. „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, denn man selbst und der Fluss haben sich verändert”, sagt Heraklit, von dem Olivers Buch handelt, und trotzdem bleibt man auf wundersame Art derselbe. Diese innere Erfahrung macht Aciman anschaulich, indem er zeigt, was die Zeit aus der Liebe eines Lebens macht.
Nicht nur in Gestalt Heraklits geht dabei Proust eine Verbindung mit der Antike ein, denn das literarische Zwillingsprogramm von Mythos und Psychologie, das Thomas Mann einmal als das seine benannt hat, verfolgt auch Aciman. Die Geschichte von Elio und Oliver (die Buchstaben des einen Namens gehen im anderen auf) ist auch eine mythische. Die Vernarrtheit des Erzählers in körperliche Details, seine schamlosen Sexschilderungen meinen ein Verschmelzen zweier Hälften, die zusammen einen Menschen ergeben, bis Elio und Oliver sich mitten im Akt bei ihrem eigenen Namen rufen. Der Geliebte zieht den Liebenden an, „weil er mehr ich ist als ich selbst es sein könnte”, wie es einmal bei der im Roman zitierten Emily Brontë heißt. Nicht männliche und weibliche Geschlechtsteile sind es, die diesen Kugelmenschen zusammenhalten, sondern, wie bei Proust, zueinander wandernde Seelen. Dass Aciman diese Vollkommenheit glaubhaft machen kann, macht „Ruf mich bei deinem Namen” zu einem großartigen Roman. KAI WIEGANDT
ANDRÉ ACIMAN: Ruf mich bei deinem Namen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann. Kein & Aber Verlag, Zürich 2008. 285 Seiten, 18,90 Euro.
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