Frankfurter Allgemeine ZeitungSchnappschildkröte und Narzissmus
Der Erzählband "Calypso" von David Sedaris ist ein geschmeidiger Abgesang auf die spätkapitalistische Gesellschaft
Im Mittelpunkt dieses Buches steht eine Ekelhaftigkeit, die einem nach der Lektüre so schnell nicht aus dem Kopf gehen will: die Verfütterung eines Tumors an eine amerikanische Schnappschildkröte. Es handelt sich um ein äußerst aggressives, gefräßiges Tier, das mit sonstigen Schildkrötenarten kaum vergleichbar ist.
Was den Erzähler zu dieser Aktion antreibt, ist die eigenartige Vorstellung, ihm dabei zuzusehen, wie es sich "ein Stück von mir oder zumindest etwas, das einmal zu mir gehört hatte", einverleibt, und zwar "mit Genuss". Um eigenen Lustgewinn scheint es ihm dabei aber weniger zu gehen als um eine alltägliche Dosis Narzissmusbefriedigung: Nach der Fütterung besorgt sich der Erzähler zur Händereinigung erst einmal eine Packung Feuchttücher im Supermarkt. Klar, diese Passage ist grell überzeichnet und darin ziemlich komisch. Dies vermag ihre Abgründigkeit jedoch nur oberflächlich zu verdecken.
Der zwiespältige Eindruck wird dadurch unterstützt, dass die Verbindung von Schildkröte und Narzissmus in der Literaturgeschichte nicht unbekannt ist, im Gegenteil, auf ihr beruht eine Schlüsselszene in Joris-Karl Huysmans' "À rebours" (1884), einem Grundbuch der europäischen Dekadenzliteratur. Erzählt wird in ihm, wie die durchästhetisierte Existenz des Protagonisten mehr und mehr exzentrische Züge annimmt, bis hin zur Vergoldung des Panzers einer lebendigen Schildkröte und dessen Verzierung mit exquisiten Edelsteinen. Erfreuen kann sich Herzog Jean, so der Name des Protagonisten, an dem "goldglänzenden Schmuckstück" allerdings nur kurz. Die Schildkröte, so endet das entscheidende Kapitel, "hatte den glänzenden Luxus, den man ihr aufdrang . . . nicht vertragen können". "À rebours" ist das Porträt eines modernen Menschen, der zerrissen ist zwischen zivilisatorischer Sattheit und existentialer Sehnsucht, der Unendlichkeit seiner äußerlichen Bedürfnisse und der verstörenden Endlichkeit des Seins.
Auch wenn der als Humorist bekannte David Sedaris mit seinen neuen autobiographischen Erzählungen die Erwartungen seiner weltweiten Fangemeinschaft zweifellos erfüllen wird - die Zerrissenheit, die Huysmans so unvergesslich ins Bild gesetzt hat, ist auch in "Calypso" spürbar. Die episodisch-locker miteinander verbundenen Geschichten, die sich, wie häufig bei David Sedaris, um den Autor und Ich-Erzähler, seinen Partner Hugh und die Mitglieder seiner großen Familie drehen, sind durchzogen von Motiven der Dekadenz.
Dies sind, um nur ein paar Beispiele zu nennen: ein völlig aus dem Ruder gelaufenes Konsumverhalten (zum Shoppen fliegt der Erzähler eigens nach Japan, weil er nur dort seine kunstvoll zerschossenen Lieblingshemden erwerben kann), die Fetischisierung der neuesten Gadgets (bestimmend für seine körperliche Bewegung sind nicht die Anforderungen des alltäglichen Lebens, sondern das Vibrieren des "Fitibits" am Handgelenk), eine masochistische Lust am Fernsehtrash (von den "Leuten aus der Messie-Sendung" fühlt sich der Erzähler "auf unterhaltsame Weise abgestoßen") oder die Betrachtung des Gekreuzigten unter dem Gesichtspunkt der CampKultur (das Kreuz sei "praktisch dazu erfunden worden, Bauch und Schulter eines Mannes vorteilhaft in Szene zu setzen"). Was Huysmans Ende des neunzehnten Jahrhunderts anhand einer künstlich verfeinerten, im Verfall begriffenen Adelskultur der alten Welt schildert, versetzt David Sedaris in die Welt des westlichen Spätkapitalismus des frühen 21. Jahrhunderts.
Dass dieses Leben im Zustand einer verabsolutierten Gegenwart auf einem Phantasma beruht, darauf wird allerdings schon mit dem Titel hingedeutet. Bei Homer wird berichtet, dass die "hehre Göttin" Kalypso dem schiffbrüchigen Odysseus eine "nimmerverblühende Jugend" verspricht, sollte er sich dazu entschließen, für immer bei ihr zu bleiben. Entsprechend stellen für Sedaris' Erzähler das nahende Alter und der Tod denn auch die größten Provokationen dar. Dies zeigt sich an dem völligen Unverständnis, mit dem dieser seinem greisen Vater begegnet: So erscheint ihm etwa dessen sparsames Bemühen, möglichst viel Geld an die nachfolgende Generation zu vererben, damit es ihn selbst überlebe, schlichtweg absurd, zumal ihm völlig klar ist, dass die künftigen Erben das Vermächtnis in kürzester Zeit verprassen werden.
Hinzukommt die Irritation des Erzählers durch eine zunehmende Politisierung seines Lebens, das bislang stets komfortabel dahinperlte - zwischen East Sussex, seinem Wohnort, der Küste von North Carolina, wo sich das Ferienhaus der Familie befindet, und den Metropolen der Welt, in denen der Starautor seine Lesungen abhält. Diese neue, beunruhigende Entwicklung verbindet sich mit dem Namen Donald Trump.
Eine hochnervös durchwachte Wahlnacht, die sorgfältige Meidung des Politischen gegenüber Verwandten, die Aufkündigung jahrzehntealter Freundschaften per Facebook-Kurznachricht: Ohne dies im Einzelnen begründen zu können, legt David Sedaris nahe, dass mit den gegenwärtigen Tendenzen eine Epoche der politischen Selbstverständlichkeit an ihr Ende gekommen ist.
Bezeichnend ist bei all dem die Form der Texte. Die Erzählungen in "Calypso" sind so geschmeidig, so ohne jeden ästhetischen Widerstand, dass sie sich problemlos wegkonsumieren lassen. "Es waren alles bloß Geschichten", so kommentiert der Erzähler das nicht enden wollende, unverbindliche Gerede um ihn herum, auf dem seine eigenen Geschichten allerdings vielfach beruhen. David Sedaris' leichtes und doch tiefes, doppelbödiges Buch erweist sich damit als ein Produkt eben jener Kultur, deren Zuendegehen es selbst konstatiert. Es ist Analyse und Symptom zugleich.
KAI SINA
David Sedaris: "Calypso". Roman.
Aus dem Englischen von Georg Deggerich. Karl Blessing Verlag, München 2018. 272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Erzählband "Calypso" von David Sedaris ist ein geschmeidiger Abgesang auf die spätkapitalistische Gesellschaft
Im Mittelpunkt dieses Buches steht eine Ekelhaftigkeit, die einem nach der Lektüre so schnell nicht aus dem Kopf gehen will: die Verfütterung eines Tumors an eine amerikanische Schnappschildkröte. Es handelt sich um ein äußerst aggressives, gefräßiges Tier, das mit sonstigen Schildkrötenarten kaum vergleichbar ist.
Was den Erzähler zu dieser Aktion antreibt, ist die eigenartige Vorstellung, ihm dabei zuzusehen, wie es sich "ein Stück von mir oder zumindest etwas, das einmal zu mir gehört hatte", einverleibt, und zwar "mit Genuss". Um eigenen Lustgewinn scheint es ihm dabei aber weniger zu gehen als um eine alltägliche Dosis Narzissmusbefriedigung: Nach der Fütterung besorgt sich der Erzähler zur Händereinigung erst einmal eine Packung Feuchttücher im Supermarkt. Klar, diese Passage ist grell überzeichnet und darin ziemlich komisch. Dies vermag ihre Abgründigkeit jedoch nur oberflächlich zu verdecken.
Der zwiespältige Eindruck wird dadurch unterstützt, dass die Verbindung von Schildkröte und Narzissmus in der Literaturgeschichte nicht unbekannt ist, im Gegenteil, auf ihr beruht eine Schlüsselszene in Joris-Karl Huysmans' "À rebours" (1884), einem Grundbuch der europäischen Dekadenzliteratur. Erzählt wird in ihm, wie die durchästhetisierte Existenz des Protagonisten mehr und mehr exzentrische Züge annimmt, bis hin zur Vergoldung des Panzers einer lebendigen Schildkröte und dessen Verzierung mit exquisiten Edelsteinen. Erfreuen kann sich Herzog Jean, so der Name des Protagonisten, an dem "goldglänzenden Schmuckstück" allerdings nur kurz. Die Schildkröte, so endet das entscheidende Kapitel, "hatte den glänzenden Luxus, den man ihr aufdrang . . . nicht vertragen können". "À rebours" ist das Porträt eines modernen Menschen, der zerrissen ist zwischen zivilisatorischer Sattheit und existentialer Sehnsucht, der Unendlichkeit seiner äußerlichen Bedürfnisse und der verstörenden Endlichkeit des Seins.
Auch wenn der als Humorist bekannte David Sedaris mit seinen neuen autobiographischen Erzählungen die Erwartungen seiner weltweiten Fangemeinschaft zweifellos erfüllen wird - die Zerrissenheit, die Huysmans so unvergesslich ins Bild gesetzt hat, ist auch in "Calypso" spürbar. Die episodisch-locker miteinander verbundenen Geschichten, die sich, wie häufig bei David Sedaris, um den Autor und Ich-Erzähler, seinen Partner Hugh und die Mitglieder seiner großen Familie drehen, sind durchzogen von Motiven der Dekadenz.
Dies sind, um nur ein paar Beispiele zu nennen: ein völlig aus dem Ruder gelaufenes Konsumverhalten (zum Shoppen fliegt der Erzähler eigens nach Japan, weil er nur dort seine kunstvoll zerschossenen Lieblingshemden erwerben kann), die Fetischisierung der neuesten Gadgets (bestimmend für seine körperliche Bewegung sind nicht die Anforderungen des alltäglichen Lebens, sondern das Vibrieren des "Fitibits" am Handgelenk), eine masochistische Lust am Fernsehtrash (von den "Leuten aus der Messie-Sendung" fühlt sich der Erzähler "auf unterhaltsame Weise abgestoßen") oder die Betrachtung des Gekreuzigten unter dem Gesichtspunkt der CampKultur (das Kreuz sei "praktisch dazu erfunden worden, Bauch und Schulter eines Mannes vorteilhaft in Szene zu setzen"). Was Huysmans Ende des neunzehnten Jahrhunderts anhand einer künstlich verfeinerten, im Verfall begriffenen Adelskultur der alten Welt schildert, versetzt David Sedaris in die Welt des westlichen Spätkapitalismus des frühen 21. Jahrhunderts.
Dass dieses Leben im Zustand einer verabsolutierten Gegenwart auf einem Phantasma beruht, darauf wird allerdings schon mit dem Titel hingedeutet. Bei Homer wird berichtet, dass die "hehre Göttin" Kalypso dem schiffbrüchigen Odysseus eine "nimmerverblühende Jugend" verspricht, sollte er sich dazu entschließen, für immer bei ihr zu bleiben. Entsprechend stellen für Sedaris' Erzähler das nahende Alter und der Tod denn auch die größten Provokationen dar. Dies zeigt sich an dem völligen Unverständnis, mit dem dieser seinem greisen Vater begegnet: So erscheint ihm etwa dessen sparsames Bemühen, möglichst viel Geld an die nachfolgende Generation zu vererben, damit es ihn selbst überlebe, schlichtweg absurd, zumal ihm völlig klar ist, dass die künftigen Erben das Vermächtnis in kürzester Zeit verprassen werden.
Hinzukommt die Irritation des Erzählers durch eine zunehmende Politisierung seines Lebens, das bislang stets komfortabel dahinperlte - zwischen East Sussex, seinem Wohnort, der Küste von North Carolina, wo sich das Ferienhaus der Familie befindet, und den Metropolen der Welt, in denen der Starautor seine Lesungen abhält. Diese neue, beunruhigende Entwicklung verbindet sich mit dem Namen Donald Trump.
Eine hochnervös durchwachte Wahlnacht, die sorgfältige Meidung des Politischen gegenüber Verwandten, die Aufkündigung jahrzehntealter Freundschaften per Facebook-Kurznachricht: Ohne dies im Einzelnen begründen zu können, legt David Sedaris nahe, dass mit den gegenwärtigen Tendenzen eine Epoche der politischen Selbstverständlichkeit an ihr Ende gekommen ist.
Bezeichnend ist bei all dem die Form der Texte. Die Erzählungen in "Calypso" sind so geschmeidig, so ohne jeden ästhetischen Widerstand, dass sie sich problemlos wegkonsumieren lassen. "Es waren alles bloß Geschichten", so kommentiert der Erzähler das nicht enden wollende, unverbindliche Gerede um ihn herum, auf dem seine eigenen Geschichten allerdings vielfach beruhen. David Sedaris' leichtes und doch tiefes, doppelbödiges Buch erweist sich damit als ein Produkt eben jener Kultur, deren Zuendegehen es selbst konstatiert. Es ist Analyse und Symptom zugleich.
KAI SINA
David Sedaris: "Calypso". Roman.
Aus dem Englischen von Georg Deggerich. Karl Blessing Verlag, München 2018. 272 S., geb., 22,- [Euro].
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Unquestionably the king of comic writing . . . Calypso is both funnier and more heartbreaking than pretty much anything out there Guardian