Mit unglaublicher Leichtigkeit erzählt das autobiografisch gefärbte "Camel Travel" von einer Kindheit und Jugend in der zerfallenden UdSSR Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre.Aufzuwachsen in einem Land, in dem mit Belarusisch und Russisch zwei Sprachen gesprochen werden, kann in manchen Situationen gehörig für Verwirrung sorgen. Und den ganz gewöhnlichen Alltag zu meistern, auch da treten so einige Hindernisse zutage und es geschehen noch mehr besondere und ungewöhnliche Begebenheiten. Als da beispielsweise wären: Klavierlernen ohne Klavier zu Hause? Mit ein bisschen Fantasie und Einfallsreichtum lässt sich auch das lösen. In wie vielen Momenten man sich - und das alles nur für eine erfolgreiche Sportlerinnenkarriere - dehnen kann, davon weiß die Erzählerin Volha ein Lied und Leid zu singen.In kurzen Kapiteln nähert sich Volha Hapeyeva kleinen und großen Themen, die in Schule, Familie und öffentlich ausgefochten werden. Ihre Schilderungen zeigen so manche Tücken und Macken aus dem Minsk der (post)sowjetischen Zeit auf - aber auch ihre Entwicklung zu einer kritischen, feministisch-politischen Frau im heutigen Belarus.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als Roman würde Rezensent Jörg Plath das Buch von Volha Hapeya nicht bezeichnen, wie es der Verlag tut. Vielmehr liest er hier autobiografische Skizzen der belarussischen Übersetzerin, Linguistin und Lyrikerin, was für den Kritiker den Wert des Buches aber keineswegs schmälert. Er folgt der 1982 geborenen Autorin hier durch eine Kindheit und Jugend zwischen Minsk und Moskau, zwischen Sowjetrepublik und Belarus und zwischen Ideologie und den wenigen unberührten Kindheitsmomenten. Vor allem letzere muss Hapeya wie eine "Archäologin" erst freilegen, erkennt der Rezensent, der zudem staunt, wie leichthändig die Autorin außerdem von ihrer "education intellectuelle" zwischen Sozialismus und Judith Butler zur Individualistin erzählt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2021Vorm Fernseher strammstehen
Volha Hapeyevas kurzweiliger Band "Camel Travel"
Die selige Sowjetunion ermöglicht noch heute Erzählungen voll großartiger Perspektiven und tönendem Pathos. Allerdings tut sich die Malerei etwa Norbert Biskys offenbar leichter mit dem Material als die Literatur. An Kindheits- und Jugendgeschichten aus dem Reich von Hammer und Zirkel herrscht zumindest hierzulande ein eklatanter Mangel. Volha Hapeyevas autobiographische Sammlung "Camel Travel" lässt ahnen, warum. Die 1982 in Minsk Geborene erzählt vom Großwerden in Belarus. Die Kindheit war "überreich mit militärisch-patriotischen Themen gespickt, auch wenn wir schon in den ausgehenden Achtzigern waren und die Sowjetunion munter vor die Hunde ging". Die "allererste Lehrerin" lehrt sie, zur Staatshymne aufzustehen und schweigend zuzuhören, weshalb sie zu Hause manchmal vom Sofa aufspringt und vor dem Fernseher strammsteht. Wie die Familie reagiert, bleibt unerwähnt.
Als "Oktoberkind" trägt das Mädchen Sternabzeichen und wäre "nie im Leben" darauf gekommen, dass diese den jungen Lenin zeigen. Zumal Lenin ihr kein Mensch zu sein scheint. Die riesige Losung in der Schulfibel klingt ja eher nach einer Grammatikübung: "Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben." Der Name des Staatsgründers ist neben "Mutter" und "Heimat" eines der Wörter, die "uns allen am liebsten und teuersten sind", weshalb die Schüler mit diesen dreien schreiben lernen. Hapeyeva wird die harte Währung der Ideologie zur hübschen Spielmünze der Ironie. Sie ist Übersetzerin, Dolmetscherin für die OSZE und Linguistin; sie schreibt sensible, melancholische Lyrik ("Mutantengarten", Edition Thanhäuser 2020). Die letzten Jahre lebte sie im Ausland, in Deutschland und Österreich, und erlitt einen Nervenzusammenbruch angesichts der Gewalt, mit der Lukaschenka seit Monaten die friedliche Opposition bekämpft.
"Camel Travel" ist kein Roman, wie der Verlag verheißt, sondern eine Sammlung von kurzen Skizzen, in denen Hapeyeva Kindheit und Jugend durchwandert: die Reise in die kirgisische "Heldenstadt" Frunse zu Onkeln und Tanten, die Trennung der Eltern, die frühe Sportförderung, das Sommerlager, die lebenslangen Enttäuschungen der Großeltern, der Respekt vor Lebensmitteln (Lenins "Gesellschaft der sauberen Teller"), die fröhliche Produktion von unbrauchbaren Geschenken für die Mutter durch die Zerstörung von allerlei nützlichen Dingen und die Verurteilung sogenannter "Gefühlsduselei", man "war schließlich Oktoberkind, Pionier und keine Heulsuse". Aus Protest erwählt Hapeyeva einen "Freund außerhalb der Menschenwelt", einen Apfelbaum in Omas Garten, und umarmt ihn. "Dann haben sie den Baum umgesägt."
"Camel Travel" ist ein kurzweiliger Band. Aber in dem Maße, in dem sich die kindliche Verwirrung über die doppelte Heimat Belarus und Sowjetunion, die doppelte Hauptstadt Minsk und Moskau und die doppelte Hymne für die kleine Sowjetrepublik und die große Union legt, drängt die zurückblickende Erwachsene nach in den Vordergrund. Das Mädchen wird am Ballspiel gehindert, weil sie Mädchen ist, und weil ihre Mutter dasselbe fünfzig Jahre zuvor erlebte, unterhält sich die Erzählerin mit ihr über die feministische Philosophin Judith Butler. Das Mädchen spielt in Ermangelung eines Klaviers täglich auf einer Papierklaviatur und lernt so, bemerkt die Erzählerin zufrieden, das Träumen. Das Mädchen wird zu Unrecht von einer Erwachsenen beschuldigt, und die Erzählerin ist Jahrzehnte später froh, sich endlich verteidigen zu können, nicht zuletzt mit Louis Althussers Begriff der Interpellation. Die Erwachsene versucht zu retten, was zu retten ist aus den frühen Kindheitsjahren, und verliert darüber die Unmittelbarkeit der Erinnerung. Die Skizzen werden zu Glossen. Sie erzählen auch von einer éducation intellectuelle.
Das ist so schade wie nachvollziehbar. Die kindlichen und jugendlichen Wahrnehmungen in der sowjetischen und der sehr ähnlichen belarussischen Zeit scheinen nicht einfach zugänglich zu sein. Hapeyeva muss sie rekonstruieren. Denn die Kindheit wurde damals ideologisch benutzt - ihr Glück war groß und rein und ein Vorschein jener mit Riesenschritten nahenden Zeit des vollendeten Kommunismus. Natürlich gab es Kindheitserinnerungen, die vom breiten Pfad der historischen Entwicklung abwichen, solche ohne Wimpel und Halstuch, dazu unglückliche. Nur waren sie im öffentlichen Raum verdächtig und wurden ohne akzeptierte Formen der Überlieferung offenbar verschüttet. Daher muss Volha Hapeyeva Archäologie betreiben.
Sie tut es mit leichter Hand und weiß genau anzugeben, wann ihr "Weg als Außenseiterin und Randständige" begann: als sie nicht mehr nur ein Papierklavier, sondern ein richtiges besaß. Damals baten sie die Erwachsenen, immer dieselben populären klassischen Stücke zu spielen, nicht "die anderen Melodien, die weniger berühmt, aber nicht weniger schön waren". Zwei Motive stehen also am Beginn des Wegs als Individualistin: der Sinn für Gerechtigkeit und das Engagement für die im Schatten Stehenden. So viel zum Sozialismus und seinen Versprechungen.
JÖRG PLATH
Volha Hapeyeva:
"Camel Travel". Roman.
Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler. Literaturverlag Droschl, Graz 2021. 126 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Volha Hapeyevas kurzweiliger Band "Camel Travel"
Die selige Sowjetunion ermöglicht noch heute Erzählungen voll großartiger Perspektiven und tönendem Pathos. Allerdings tut sich die Malerei etwa Norbert Biskys offenbar leichter mit dem Material als die Literatur. An Kindheits- und Jugendgeschichten aus dem Reich von Hammer und Zirkel herrscht zumindest hierzulande ein eklatanter Mangel. Volha Hapeyevas autobiographische Sammlung "Camel Travel" lässt ahnen, warum. Die 1982 in Minsk Geborene erzählt vom Großwerden in Belarus. Die Kindheit war "überreich mit militärisch-patriotischen Themen gespickt, auch wenn wir schon in den ausgehenden Achtzigern waren und die Sowjetunion munter vor die Hunde ging". Die "allererste Lehrerin" lehrt sie, zur Staatshymne aufzustehen und schweigend zuzuhören, weshalb sie zu Hause manchmal vom Sofa aufspringt und vor dem Fernseher strammsteht. Wie die Familie reagiert, bleibt unerwähnt.
Als "Oktoberkind" trägt das Mädchen Sternabzeichen und wäre "nie im Leben" darauf gekommen, dass diese den jungen Lenin zeigen. Zumal Lenin ihr kein Mensch zu sein scheint. Die riesige Losung in der Schulfibel klingt ja eher nach einer Grammatikübung: "Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben." Der Name des Staatsgründers ist neben "Mutter" und "Heimat" eines der Wörter, die "uns allen am liebsten und teuersten sind", weshalb die Schüler mit diesen dreien schreiben lernen. Hapeyeva wird die harte Währung der Ideologie zur hübschen Spielmünze der Ironie. Sie ist Übersetzerin, Dolmetscherin für die OSZE und Linguistin; sie schreibt sensible, melancholische Lyrik ("Mutantengarten", Edition Thanhäuser 2020). Die letzten Jahre lebte sie im Ausland, in Deutschland und Österreich, und erlitt einen Nervenzusammenbruch angesichts der Gewalt, mit der Lukaschenka seit Monaten die friedliche Opposition bekämpft.
"Camel Travel" ist kein Roman, wie der Verlag verheißt, sondern eine Sammlung von kurzen Skizzen, in denen Hapeyeva Kindheit und Jugend durchwandert: die Reise in die kirgisische "Heldenstadt" Frunse zu Onkeln und Tanten, die Trennung der Eltern, die frühe Sportförderung, das Sommerlager, die lebenslangen Enttäuschungen der Großeltern, der Respekt vor Lebensmitteln (Lenins "Gesellschaft der sauberen Teller"), die fröhliche Produktion von unbrauchbaren Geschenken für die Mutter durch die Zerstörung von allerlei nützlichen Dingen und die Verurteilung sogenannter "Gefühlsduselei", man "war schließlich Oktoberkind, Pionier und keine Heulsuse". Aus Protest erwählt Hapeyeva einen "Freund außerhalb der Menschenwelt", einen Apfelbaum in Omas Garten, und umarmt ihn. "Dann haben sie den Baum umgesägt."
"Camel Travel" ist ein kurzweiliger Band. Aber in dem Maße, in dem sich die kindliche Verwirrung über die doppelte Heimat Belarus und Sowjetunion, die doppelte Hauptstadt Minsk und Moskau und die doppelte Hymne für die kleine Sowjetrepublik und die große Union legt, drängt die zurückblickende Erwachsene nach in den Vordergrund. Das Mädchen wird am Ballspiel gehindert, weil sie Mädchen ist, und weil ihre Mutter dasselbe fünfzig Jahre zuvor erlebte, unterhält sich die Erzählerin mit ihr über die feministische Philosophin Judith Butler. Das Mädchen spielt in Ermangelung eines Klaviers täglich auf einer Papierklaviatur und lernt so, bemerkt die Erzählerin zufrieden, das Träumen. Das Mädchen wird zu Unrecht von einer Erwachsenen beschuldigt, und die Erzählerin ist Jahrzehnte später froh, sich endlich verteidigen zu können, nicht zuletzt mit Louis Althussers Begriff der Interpellation. Die Erwachsene versucht zu retten, was zu retten ist aus den frühen Kindheitsjahren, und verliert darüber die Unmittelbarkeit der Erinnerung. Die Skizzen werden zu Glossen. Sie erzählen auch von einer éducation intellectuelle.
Das ist so schade wie nachvollziehbar. Die kindlichen und jugendlichen Wahrnehmungen in der sowjetischen und der sehr ähnlichen belarussischen Zeit scheinen nicht einfach zugänglich zu sein. Hapeyeva muss sie rekonstruieren. Denn die Kindheit wurde damals ideologisch benutzt - ihr Glück war groß und rein und ein Vorschein jener mit Riesenschritten nahenden Zeit des vollendeten Kommunismus. Natürlich gab es Kindheitserinnerungen, die vom breiten Pfad der historischen Entwicklung abwichen, solche ohne Wimpel und Halstuch, dazu unglückliche. Nur waren sie im öffentlichen Raum verdächtig und wurden ohne akzeptierte Formen der Überlieferung offenbar verschüttet. Daher muss Volha Hapeyeva Archäologie betreiben.
Sie tut es mit leichter Hand und weiß genau anzugeben, wann ihr "Weg als Außenseiterin und Randständige" begann: als sie nicht mehr nur ein Papierklavier, sondern ein richtiges besaß. Damals baten sie die Erwachsenen, immer dieselben populären klassischen Stücke zu spielen, nicht "die anderen Melodien, die weniger berühmt, aber nicht weniger schön waren". Zwei Motive stehen also am Beginn des Wegs als Individualistin: der Sinn für Gerechtigkeit und das Engagement für die im Schatten Stehenden. So viel zum Sozialismus und seinen Versprechungen.
JÖRG PLATH
Volha Hapeyeva:
"Camel Travel". Roman.
Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler. Literaturverlag Droschl, Graz 2021. 126 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Camel Travel ist nicht nur ein autobiografischer Roman, sondern auch ein Ausflug in die belarusische Geschichte.« (Simon Leuthold, SRF2) »Hapeyeva entwickelt mit Verve und Chuzpe ein neues, skurriles Bild des Lebens in der Sowjetunion ... Sie ist eine Wortzauberin, was man auch diesem Buch anmerkt, in dem Wort, Ton, Rhythmus und die genauen Beobachtungen eine abhängig machende Sogwirkung entfachen.« (Ingo Petz, Der Standard) »Sehr lässig werden hier Kindheits- und Jugendszenen aus einer Zeit geschildert, als 'die Sowjetunion munter vor die Hunde ging' und aus dem ungelenken Mädchen auf dem Kamel eine feministisch-politische junge Frau wurde.« (Natascha Freundel, rbb) »In kindlicher Betrachtung alltäglicher oder irrwitziger Geschehnisse werden große Themen wie Anpassung, Identität, Anderssein, Zweisprachigkeit oder Tod zwar nur kurz angerissen, erzeugen aber bei dem_der Leser_in im Nachklang Nachdenken und lassen ein erstaunlich rundes Bild einer emanzipierten jungen Frau entstehen, die die sich im Umbruch befindende Gesellschaft genau beobachtet.« (Liselotte Jürgensen, ekz)