Nach "Der Hase mit den Bernsteinaugen" ein neues Meisterwerk der Erinnerungsliteratur von Edmund de Waal
Geschichte ist nicht Vergangenheit, sie hört nie auf und entfaltet sich in unseren Händen. Das schreibt Edmund de Waal in seinem neuen Buch, das ihn zurückführt in die Pariser Rue de Monceau, in der einst sein Vorfahre Charles Ephrussi den berühmten »Hasen mit den Bernsteinaugen« hütete, wo in unmittelbarer Nachbarschaft Marcel Proust wohnte und wo der Bankier Moïse de Camondo aus Konstantinopel ein Palais errichten ließ, in dem sich heute ein seit 1936 unverändertes Museum befindet. Niemand war zufällig in dieser »Straße der Anfänge«, sagt de Waal und beginnt, imaginäre Briefe an Moïse zu richten, über die vielfältigen Beziehungen ihrer beiden Familien, über Assimilation, Großzügigkeit, privates und öffentliches Leben und immer wieder über die Bedeutung der Erinnerung und dass es keinen »Schlussstrich« geben kann und darf.
Geschichte ist nicht Vergangenheit, sie hört nie auf und entfaltet sich in unseren Händen. Das schreibt Edmund de Waal in seinem neuen Buch, das ihn zurückführt in die Pariser Rue de Monceau, in der einst sein Vorfahre Charles Ephrussi den berühmten »Hasen mit den Bernsteinaugen« hütete, wo in unmittelbarer Nachbarschaft Marcel Proust wohnte und wo der Bankier Moïse de Camondo aus Konstantinopel ein Palais errichten ließ, in dem sich heute ein seit 1936 unverändertes Museum befindet. Niemand war zufällig in dieser »Straße der Anfänge«, sagt de Waal und beginnt, imaginäre Briefe an Moïse zu richten, über die vielfältigen Beziehungen ihrer beiden Familien, über Assimilation, Großzügigkeit, privates und öffentliches Leben und immer wieder über die Bedeutung der Erinnerung und dass es keinen »Schlussstrich« geben kann und darf.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.09.2021„Wir erben
Geschichten“
Wie die der jüdischen Familie Camondo beim
Künstler Edmund de Waal landete. Ein Gespräch
INTERVIEW VON JOHANNA ADORJÁN
Edmund de Waal ist nicht nur ein international gefeierter Künstler, sondern auch Schriftsteller. Sein neues Buch heißt „Camondo: Eine Familiengeschichte in Briefen“, es geht darin um die Familie, die einst in dem Gebäude lebte, in dem sich heute das Pariser Musée Nissim de Camondo befindet. Sie wurde im 20. Jahrhundert brutal ausgelöscht.
SZ: In „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ erzählen Sie die Geschichte Ihrer jüdischen Vorfahren anhand einer Sammlung kleiner japanischer Schnitzfiguren, Netsuke. Ihr neues Buch erzählt die Geschichte einer anderen jüdischen Familie anhand eines Hauses und seiner Einrichtung. Was fasziniert Sie so an Gegenständen?
Edmund de Waal: Ich nehme einen Gegenstand, lege ihn in die Welt und erzähle schon eine Geschichte. Ob das Netsuke sind oder eines der merkwürdigsten Häuser Europas. Das Haus war als Memorial für den im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn des Hausherrn geplant und wurde schließlich zu einem Memorial für die Shoah. Der Hausherr, der Bankier und Sammler Moïse de Camondo, hat, als er sein Haus 1935 dem französischen Staat schenkte, verfügt, dass nichts darin verändert werden darf. Und so ist heute noch alles, wie es einmal war – nur die Familie gibt es nicht mehr.
Sie haben diesem Buch ein Motto vorangestellt: Lacrimae Rerum. Die Tränen der Dinge. Was meinen Sie damit?
Das ist aus einer Vergil-Zeile, in der es um die Zerstörung Trojas geht. Für mich hat diese Zeile große Bedeutung, denn mein Vater, Victor, erinnert sich daran, dass sein Großvater, Viktor von Ephrussi, diese Zeile zitierte. Er wurde in Odessa geboren, wuchs in Wien auf, musste miterleben, wie seine Bibliothek, sein Haus an der Ringstraße geplündert wurde, seine Frau sich das Leben nahm. Er kam 1939 nach England, als Flüchtling. Und dort hörte mein Vater als Junge seinen Großvater, den er liebte und nach dem er benannt worden war, diese Zeile zitieren: Lacrimae Rerum. Wie also kann man es diesem Buch nicht voranstellen? Wie? Alles ist in diesen zwei Worte enthalten.
Das Haus der Camondos ist heute ein Museum. Es befindet sich in derselben Straße, in der Ihr Urgroßonkel Charles Ephrussi wohnte. Mit welchen Gefühlen laufen Sie durch die Rue de Monceau?
Kompliziert. Als ich die ersten Male dort war, fand ich alles aufregend. Ich war naiv, kam mir vor wie ein Flaneur des 19. Jahrhunderts. Peinlich. Mit den Jahren wurde es immer schmerzvoller. Als ich für das neue Buch recherchierte, das ja sozusagen ein benachbartes Buch ist, wurde mir klar, dass all diese Häuser, die ich kannte und liebte, Besitzer hatten, die deportiert wurden, Sammlungen, die geplündert wurden. Die meisten Gebäude wurden von der Gestapo beschlagnahmt. Es leben heute keine Nachfahren der ursprünglichen Besitzer darin. Und so sehe ich hinauf zu Charles Ephrussis Apartment oder gehe ins Musée Nissim de Camondo, und mir ist sehr bewusst, was dort nicht mehr ist. In Berlin oder Dresden gibt es die Stolpersteine, anderswo vielleicht Plaketten, in Paris aber ist: nichts. Deshalb ist dieses Buch auch mit Wut geschrieben. Man läuft diese schönen Pariser Straßen entlang, und nichts erinnert daran, was hier geschehen ist, wer hier einst lebte, und warum diese Familien nicht mehr hier sind. Und deshalb kann ich auch nicht, wie wir im Englischen sagen, move on. Es heißt doch immer: Lass die Vergangenheit ruhen, sieh nach vorne! Aber das kann ich nicht. Ich bin immer noch dort.
Das Buch ist in Briefform erzählt: Sie schreiben an Moïse. Wie kamen Sie auf diese Form?
Die ehrliche Antwort ist, dass ich im März letzten Jahres während des Lockdowns anfing, mit Moïse de Camondo zu sprechen. Normalerweise herrscht reges Leben in meinem Studio, es sind meine Assistenten da, Besucher, nicht selten Journalisten... Auf einmal war ich dort ganz allein. Und nach einer Woche, die ich auf und ab gehend mit ihm redete, fing ich an zu schreiben. Ich muss hier natürlich an meine Großmutter denken, die eine gute jüdische Großmutter war und immer gesagt hat: Schreib mehr Briefe, schreib längere Briefe. Ich fühlte mich ihm sehr nahe, und ich hatte viele Fragen. Nur weil Menschen tot sind, bedeutet das ja nicht, dass man nicht in intimem Kontakt mit ihnen sein kann.
Er lebte von 1865 bis 1935, Ihre Großmutter hat ihn noch kennengelernt. Sind sie auch irgendwie miteinander verwandt?
Die Welt damals in Paris war klein, es gab einige familiäre Überkreuzungen. Die direkteste: Moïses Tochter, er hatte zwei Kinder, Nissim und Beatrice, heiratete den Sohn einer gebürtigen Ephrussi.
Ist Ihnen Moïse sympathisch?
Ja. Ich mag nicht immer seinen Geschmack, ich bin nicht sonderlich scharf auf Louis-XV-Möbel. Aber mir leuchtet dieses wunderschöne poetische Unterfangen von ihm ein, sein Haus einzurichten. Ich verstehe etwas davon, Immigrant zu sein. Sich in einem Land einzurichten und gleichzeitig woanders zu sein. Was nimmt man mit, was verliert man... Ich kenne diesen Mann.
Er muss sehr ordentlich gewesen sein.
Er war paranoid, was Staub anging. Alles musste immer blitzsauber sein. Er besaß einen Staubsauger, und hinterließ fürs Museum die Anweisung, dass alles immer staubfrei zu halten ist. Moïse wusste, wie man stilvoll lebt. Er hat sehr gerne gut gegessen. Man sah ihm das an. Er war groß, massiv und hatte eine Augenbinde auf einer Seite. Er war leicht zu erkennen. In seinem Haus gab es ein eigenes Zimmer für das Dekantieren von Wein. 14 Bedienstete lebten mit im Haus.
Seine Frau trennte sich nach fünf Jahren Ehe von ihm, 1901 erfolgte die Scheidung. Das war damals ein Skandal in Paris.
Die Klatschspalten waren voll davon. Scheidungen waren damals sehr unüblich. Seine Frau ist mit einem blendend aussehenden Typen durchgebrannt, blonder Schnurrbart, er sah aus wie aus einer Soap Opera. Kein guter Typ, das sieht man sofort. Die Scheidung war schwer für Moïse. Die Kinder blieben bei ihm. Ob er je wieder eine Frau geliebt hat, wissen wir nicht.
Seine unstete Frau, die sich übrigens auch von dem blonden Typen wieder scheiden ließ, ist in die Kunstgeschichte als „La Petite Irène“ eingegangen, ein berühmtes Gemälde von Renoir.
Es zeigt sie als Achtjährige, mit langen blonden Haaren und blauer Schleife im Haar. Das Gemälde hat eine schwere Geschichte. Zwischenzeitlich befand es sich in Görings Privatbesitz. Irène wird als einzige aus der Familie den Krieg überleben. Sie überlebt also, sie erbt dieses Gemälde, und was tut sie sofort? Sie verkauft es. Heute hängt es in Zürich.
Moïse de Camondo und Ihr Urgroßonkel Charles Ephrussi waren befreundet. Beide stammten aus reichen jüdischen Bankiersfamilien, die aus Odessa beziehungsweise Konstantinopel eingewandert waren und in der neuen Heimat versuchten, pariserischer als die Pariser zu sein.
Was halten Sie eigentlich von Assimilation?
Assimilation ist der Prozess, sich selbst zum Verschwinden zu bringen. Das klingt bizarr – wie kann man verschwinden, wenn man ein Palais an der Ringstraße in Wien erbaut? Oder ein Wohnhaus im Stile des Versailler Petit Trianon in der Rue de Monceau? Aber es ist die zugrunde liegende Absicht. Man versucht, eben, pariserischer als die Pariser zu sein. Wienerischer als die Wiener. Aber das Problem an Assimilation: Es wird immer über dich geurteilt werden.
Ob man einen Akzent hat, ob man zu fremdländisch aussieht...
...ganz genau. Ob du dich angemessen benimmst. Ob du nicht ordinär bist oder zu elegant. In Paris hieß es während der Dreyfus-Affäre auf einmal sehr feindselig: Du gehörst hier nicht dazu. Im Grunde geht es immer nur darum: dass andere über dich richten. Gehörst du dazu oder eben nicht.
Moïse de Camondo hat früh alle seine Besitztümer, die irgendetwas mit Judentum oder Konstantinopel zu tun hatten, verkauft. Dann wiederum nannte er seinen Sohn Nissim, hebräisch für Wunder.
Es ist ein faszinierender Akt der Selbsterfindung. Kaum sind seine Eltern tot, reißt er ihr Haus ab, mitsamt dem jüdischen Gebetsraum, der sich darin befand, gibt alle Judaica ans jüdische Museum in Cluny. Dann baut er am selben Ort sein Haus auf, ganz säkular. Aber er besucht weiterhin die Synagoge. Er nennt seinen Sohn Nissim. Er heiratet ein gutes jüdisches Mädchen. Und er wird seinen Sohn auch nach jüdischer Tradition bestatten. Er hat sein Judentum versteckt, aber privat war es, glaube ich, sehr ausgeprägt.
Bei Ihnen käme man nicht darauf, dass Sie ein Nachkomme der Ephrussis sind, Sie haben einen holländischen Namen, Ihr Vater ist anglikanischer Geistlicher. Sind Ihre Bücher der Versuch, Ihre unsichtbare Familiengeschichte nicht zu verlieren?
Die kurze Antwort ist: Ja. Die längere: Ich habe nicht darum gebeten, diese Geschichte zu schreiben. Sie kam zu mir. Die Sammlung der Netsuke ist in meine Hände geraten, die Geschichte hat sich mir präsentiert, und bis heute kann ich nicht von ihr lassen. Man weiß von etwas und hat auf einmal die volle Verantwortung. Ich kannte das Museum Camondo, war in den Archiven. Hätte ich einfach davonspazieren können?
Moïses Tochter Beatrice, ihr Mann und ihre zwei Kinder wurden in Auschwitz ermordet. Die Familie ist damit ausgelöscht, es gibt sie nicht mehr.
Aber es gibt noch das Haus, es gibt Mobiliar, Kunstgegenstände, die davon zeugen, dass die Camondos einmal gelebt haben. Es ist eben nicht vorbei. Es ist nicht Geschichte. Wir leben und versuchen zu verstehen. Wir erben Gegenstände, wir erben Geschichten.
„Geschichte geschieht“, schreiben Sie. „Sie ist nicht Vergangenheit, sie ist ein unaufhörliches Entfalten des Augenblicks. Sie entfaltet sich in unseren Händen. Deshalb bergen Objekte so viel in sich, sie gehören zu allen Zeitebenen“.
Ehrlich gesagt fassen diese Zeilen mein Leben zusammen. Ich arbeite mit Porzellan, erschaffe mit meinen Händen Objekte. Und ich erzähle Geschichten. Über Objekte, die ich erbe. Über ein Haus, das ich betrete. Auf meinem Schreibtisch liegt eine kleine Hand, eine bronzene Buddha-Hand, die mein Großonkel Iggie mir in Tokio geschenkt hat, als ich 28 war und er bereits sehr alt. Wenn ich diese Hand halte, halte ich die Hände von vielen Menschen. Wir können durch Gegenstände die Vergangenheit berühren, buchstäblich.
Warum, glauben Sie, ist das so wichtig für uns, zu wissen, woher wir kommen, und wer wir infolgedessen sind?
Ich bin alles Mögliche. Ein Mischling. Ich bin zur Hälfte Engländer, zu einem Viertel Holländer, zu einem Viertel Österreicher und ganz und gar Europäer. Mein Vater ist ein zur Hälfte jüdischer anglikanischer Geistlicher. Ich wuchs in der Church of England auf, in Kathedralen. Ich würde mich als Buddhist bezeichnen. Identität ist eine komplexe, komplizierte Angelegenheit. Das ist gerade heute sehr wichtig zu verstehen. Denn es geht permanent darum, wer wo nicht hingehört. Ihr dürft nicht nach Europa! Du darfst nicht länger Europäer sein, du musst jetzt Engländer sein! Du bist ein Flüchtling, und wir schicken dich sofort wieder zurück! Die Frage, wer wir sind, also wo wir herkommen und was wir wert sind, ist eine zentrale Frage unserer Zeit. Wir müssen für eine Großzügigkeit der Identitäten eintreten.
Edmund de Waal, 1964 in London geboren, ist Autor und Künstler. Seine
Porzellan-Arbeiten werden international gezeigt, sein Roman „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ wurde in 25 Sprachen übersetzt
mehr als eine Million Mal verkauft. Foto: Dyson/mauritius
Ein Treppenhaus im Museum Nissim de Camondo in Paris. Moïse de Camondo schenkte das Haus 1935 dem französischen Staat und verfügte, dass nichts darin verändert werden dürfe.
Foto: imago/Danita Delimont
Edmund de Waal:
Camondo: Eine
Familiengeschichte in Briefen. Übersetzt von Brigitte Hilzensauer.
Zsolnay, Wien 2021.
192 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Geschichten“
Wie die der jüdischen Familie Camondo beim
Künstler Edmund de Waal landete. Ein Gespräch
INTERVIEW VON JOHANNA ADORJÁN
Edmund de Waal ist nicht nur ein international gefeierter Künstler, sondern auch Schriftsteller. Sein neues Buch heißt „Camondo: Eine Familiengeschichte in Briefen“, es geht darin um die Familie, die einst in dem Gebäude lebte, in dem sich heute das Pariser Musée Nissim de Camondo befindet. Sie wurde im 20. Jahrhundert brutal ausgelöscht.
SZ: In „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ erzählen Sie die Geschichte Ihrer jüdischen Vorfahren anhand einer Sammlung kleiner japanischer Schnitzfiguren, Netsuke. Ihr neues Buch erzählt die Geschichte einer anderen jüdischen Familie anhand eines Hauses und seiner Einrichtung. Was fasziniert Sie so an Gegenständen?
Edmund de Waal: Ich nehme einen Gegenstand, lege ihn in die Welt und erzähle schon eine Geschichte. Ob das Netsuke sind oder eines der merkwürdigsten Häuser Europas. Das Haus war als Memorial für den im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn des Hausherrn geplant und wurde schließlich zu einem Memorial für die Shoah. Der Hausherr, der Bankier und Sammler Moïse de Camondo, hat, als er sein Haus 1935 dem französischen Staat schenkte, verfügt, dass nichts darin verändert werden darf. Und so ist heute noch alles, wie es einmal war – nur die Familie gibt es nicht mehr.
Sie haben diesem Buch ein Motto vorangestellt: Lacrimae Rerum. Die Tränen der Dinge. Was meinen Sie damit?
Das ist aus einer Vergil-Zeile, in der es um die Zerstörung Trojas geht. Für mich hat diese Zeile große Bedeutung, denn mein Vater, Victor, erinnert sich daran, dass sein Großvater, Viktor von Ephrussi, diese Zeile zitierte. Er wurde in Odessa geboren, wuchs in Wien auf, musste miterleben, wie seine Bibliothek, sein Haus an der Ringstraße geplündert wurde, seine Frau sich das Leben nahm. Er kam 1939 nach England, als Flüchtling. Und dort hörte mein Vater als Junge seinen Großvater, den er liebte und nach dem er benannt worden war, diese Zeile zitieren: Lacrimae Rerum. Wie also kann man es diesem Buch nicht voranstellen? Wie? Alles ist in diesen zwei Worte enthalten.
Das Haus der Camondos ist heute ein Museum. Es befindet sich in derselben Straße, in der Ihr Urgroßonkel Charles Ephrussi wohnte. Mit welchen Gefühlen laufen Sie durch die Rue de Monceau?
Kompliziert. Als ich die ersten Male dort war, fand ich alles aufregend. Ich war naiv, kam mir vor wie ein Flaneur des 19. Jahrhunderts. Peinlich. Mit den Jahren wurde es immer schmerzvoller. Als ich für das neue Buch recherchierte, das ja sozusagen ein benachbartes Buch ist, wurde mir klar, dass all diese Häuser, die ich kannte und liebte, Besitzer hatten, die deportiert wurden, Sammlungen, die geplündert wurden. Die meisten Gebäude wurden von der Gestapo beschlagnahmt. Es leben heute keine Nachfahren der ursprünglichen Besitzer darin. Und so sehe ich hinauf zu Charles Ephrussis Apartment oder gehe ins Musée Nissim de Camondo, und mir ist sehr bewusst, was dort nicht mehr ist. In Berlin oder Dresden gibt es die Stolpersteine, anderswo vielleicht Plaketten, in Paris aber ist: nichts. Deshalb ist dieses Buch auch mit Wut geschrieben. Man läuft diese schönen Pariser Straßen entlang, und nichts erinnert daran, was hier geschehen ist, wer hier einst lebte, und warum diese Familien nicht mehr hier sind. Und deshalb kann ich auch nicht, wie wir im Englischen sagen, move on. Es heißt doch immer: Lass die Vergangenheit ruhen, sieh nach vorne! Aber das kann ich nicht. Ich bin immer noch dort.
Das Buch ist in Briefform erzählt: Sie schreiben an Moïse. Wie kamen Sie auf diese Form?
Die ehrliche Antwort ist, dass ich im März letzten Jahres während des Lockdowns anfing, mit Moïse de Camondo zu sprechen. Normalerweise herrscht reges Leben in meinem Studio, es sind meine Assistenten da, Besucher, nicht selten Journalisten... Auf einmal war ich dort ganz allein. Und nach einer Woche, die ich auf und ab gehend mit ihm redete, fing ich an zu schreiben. Ich muss hier natürlich an meine Großmutter denken, die eine gute jüdische Großmutter war und immer gesagt hat: Schreib mehr Briefe, schreib längere Briefe. Ich fühlte mich ihm sehr nahe, und ich hatte viele Fragen. Nur weil Menschen tot sind, bedeutet das ja nicht, dass man nicht in intimem Kontakt mit ihnen sein kann.
Er lebte von 1865 bis 1935, Ihre Großmutter hat ihn noch kennengelernt. Sind sie auch irgendwie miteinander verwandt?
Die Welt damals in Paris war klein, es gab einige familiäre Überkreuzungen. Die direkteste: Moïses Tochter, er hatte zwei Kinder, Nissim und Beatrice, heiratete den Sohn einer gebürtigen Ephrussi.
Ist Ihnen Moïse sympathisch?
Ja. Ich mag nicht immer seinen Geschmack, ich bin nicht sonderlich scharf auf Louis-XV-Möbel. Aber mir leuchtet dieses wunderschöne poetische Unterfangen von ihm ein, sein Haus einzurichten. Ich verstehe etwas davon, Immigrant zu sein. Sich in einem Land einzurichten und gleichzeitig woanders zu sein. Was nimmt man mit, was verliert man... Ich kenne diesen Mann.
Er muss sehr ordentlich gewesen sein.
Er war paranoid, was Staub anging. Alles musste immer blitzsauber sein. Er besaß einen Staubsauger, und hinterließ fürs Museum die Anweisung, dass alles immer staubfrei zu halten ist. Moïse wusste, wie man stilvoll lebt. Er hat sehr gerne gut gegessen. Man sah ihm das an. Er war groß, massiv und hatte eine Augenbinde auf einer Seite. Er war leicht zu erkennen. In seinem Haus gab es ein eigenes Zimmer für das Dekantieren von Wein. 14 Bedienstete lebten mit im Haus.
Seine Frau trennte sich nach fünf Jahren Ehe von ihm, 1901 erfolgte die Scheidung. Das war damals ein Skandal in Paris.
Die Klatschspalten waren voll davon. Scheidungen waren damals sehr unüblich. Seine Frau ist mit einem blendend aussehenden Typen durchgebrannt, blonder Schnurrbart, er sah aus wie aus einer Soap Opera. Kein guter Typ, das sieht man sofort. Die Scheidung war schwer für Moïse. Die Kinder blieben bei ihm. Ob er je wieder eine Frau geliebt hat, wissen wir nicht.
Seine unstete Frau, die sich übrigens auch von dem blonden Typen wieder scheiden ließ, ist in die Kunstgeschichte als „La Petite Irène“ eingegangen, ein berühmtes Gemälde von Renoir.
Es zeigt sie als Achtjährige, mit langen blonden Haaren und blauer Schleife im Haar. Das Gemälde hat eine schwere Geschichte. Zwischenzeitlich befand es sich in Görings Privatbesitz. Irène wird als einzige aus der Familie den Krieg überleben. Sie überlebt also, sie erbt dieses Gemälde, und was tut sie sofort? Sie verkauft es. Heute hängt es in Zürich.
Moïse de Camondo und Ihr Urgroßonkel Charles Ephrussi waren befreundet. Beide stammten aus reichen jüdischen Bankiersfamilien, die aus Odessa beziehungsweise Konstantinopel eingewandert waren und in der neuen Heimat versuchten, pariserischer als die Pariser zu sein.
Was halten Sie eigentlich von Assimilation?
Assimilation ist der Prozess, sich selbst zum Verschwinden zu bringen. Das klingt bizarr – wie kann man verschwinden, wenn man ein Palais an der Ringstraße in Wien erbaut? Oder ein Wohnhaus im Stile des Versailler Petit Trianon in der Rue de Monceau? Aber es ist die zugrunde liegende Absicht. Man versucht, eben, pariserischer als die Pariser zu sein. Wienerischer als die Wiener. Aber das Problem an Assimilation: Es wird immer über dich geurteilt werden.
Ob man einen Akzent hat, ob man zu fremdländisch aussieht...
...ganz genau. Ob du dich angemessen benimmst. Ob du nicht ordinär bist oder zu elegant. In Paris hieß es während der Dreyfus-Affäre auf einmal sehr feindselig: Du gehörst hier nicht dazu. Im Grunde geht es immer nur darum: dass andere über dich richten. Gehörst du dazu oder eben nicht.
Moïse de Camondo hat früh alle seine Besitztümer, die irgendetwas mit Judentum oder Konstantinopel zu tun hatten, verkauft. Dann wiederum nannte er seinen Sohn Nissim, hebräisch für Wunder.
Es ist ein faszinierender Akt der Selbsterfindung. Kaum sind seine Eltern tot, reißt er ihr Haus ab, mitsamt dem jüdischen Gebetsraum, der sich darin befand, gibt alle Judaica ans jüdische Museum in Cluny. Dann baut er am selben Ort sein Haus auf, ganz säkular. Aber er besucht weiterhin die Synagoge. Er nennt seinen Sohn Nissim. Er heiratet ein gutes jüdisches Mädchen. Und er wird seinen Sohn auch nach jüdischer Tradition bestatten. Er hat sein Judentum versteckt, aber privat war es, glaube ich, sehr ausgeprägt.
Bei Ihnen käme man nicht darauf, dass Sie ein Nachkomme der Ephrussis sind, Sie haben einen holländischen Namen, Ihr Vater ist anglikanischer Geistlicher. Sind Ihre Bücher der Versuch, Ihre unsichtbare Familiengeschichte nicht zu verlieren?
Die kurze Antwort ist: Ja. Die längere: Ich habe nicht darum gebeten, diese Geschichte zu schreiben. Sie kam zu mir. Die Sammlung der Netsuke ist in meine Hände geraten, die Geschichte hat sich mir präsentiert, und bis heute kann ich nicht von ihr lassen. Man weiß von etwas und hat auf einmal die volle Verantwortung. Ich kannte das Museum Camondo, war in den Archiven. Hätte ich einfach davonspazieren können?
Moïses Tochter Beatrice, ihr Mann und ihre zwei Kinder wurden in Auschwitz ermordet. Die Familie ist damit ausgelöscht, es gibt sie nicht mehr.
Aber es gibt noch das Haus, es gibt Mobiliar, Kunstgegenstände, die davon zeugen, dass die Camondos einmal gelebt haben. Es ist eben nicht vorbei. Es ist nicht Geschichte. Wir leben und versuchen zu verstehen. Wir erben Gegenstände, wir erben Geschichten.
„Geschichte geschieht“, schreiben Sie. „Sie ist nicht Vergangenheit, sie ist ein unaufhörliches Entfalten des Augenblicks. Sie entfaltet sich in unseren Händen. Deshalb bergen Objekte so viel in sich, sie gehören zu allen Zeitebenen“.
Ehrlich gesagt fassen diese Zeilen mein Leben zusammen. Ich arbeite mit Porzellan, erschaffe mit meinen Händen Objekte. Und ich erzähle Geschichten. Über Objekte, die ich erbe. Über ein Haus, das ich betrete. Auf meinem Schreibtisch liegt eine kleine Hand, eine bronzene Buddha-Hand, die mein Großonkel Iggie mir in Tokio geschenkt hat, als ich 28 war und er bereits sehr alt. Wenn ich diese Hand halte, halte ich die Hände von vielen Menschen. Wir können durch Gegenstände die Vergangenheit berühren, buchstäblich.
Warum, glauben Sie, ist das so wichtig für uns, zu wissen, woher wir kommen, und wer wir infolgedessen sind?
Ich bin alles Mögliche. Ein Mischling. Ich bin zur Hälfte Engländer, zu einem Viertel Holländer, zu einem Viertel Österreicher und ganz und gar Europäer. Mein Vater ist ein zur Hälfte jüdischer anglikanischer Geistlicher. Ich wuchs in der Church of England auf, in Kathedralen. Ich würde mich als Buddhist bezeichnen. Identität ist eine komplexe, komplizierte Angelegenheit. Das ist gerade heute sehr wichtig zu verstehen. Denn es geht permanent darum, wer wo nicht hingehört. Ihr dürft nicht nach Europa! Du darfst nicht länger Europäer sein, du musst jetzt Engländer sein! Du bist ein Flüchtling, und wir schicken dich sofort wieder zurück! Die Frage, wer wir sind, also wo wir herkommen und was wir wert sind, ist eine zentrale Frage unserer Zeit. Wir müssen für eine Großzügigkeit der Identitäten eintreten.
Edmund de Waal, 1964 in London geboren, ist Autor und Künstler. Seine
Porzellan-Arbeiten werden international gezeigt, sein Roman „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ wurde in 25 Sprachen übersetzt
mehr als eine Million Mal verkauft. Foto: Dyson/mauritius
Ein Treppenhaus im Museum Nissim de Camondo in Paris. Moïse de Camondo schenkte das Haus 1935 dem französischen Staat und verfügte, dass nichts darin verändert werden dürfe.
Foto: imago/Danita Delimont
Edmund de Waal:
Camondo: Eine
Familiengeschichte in Briefen. Übersetzt von Brigitte Hilzensauer.
Zsolnay, Wien 2021.
192 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Die Korrespondenz der Dinge
Echo eines Lebens: In seinem Briefroman "Camondo" widmet sich Edmund de Waal dem kostbaren Erbe eines Pariser Bankiers.
Von Ursula Scheer
Ein Fremder, ein Verwandter, ein Freund: Edmund de Waal schreibt ihm Briefe, als wäre Comte Moïse de Camondo noch zugegen in seinem Stadtpalais in der Rue de Monceau Nummer 63, der Pariser Heimstatt einer Familie, einer Bank, einer Dynastie. Und ist der 1935 gestorbene Camondo nicht tatsächlich präsent in der Abwesenheit?
Das dem Petit Trianon in Versailles nachempfundene Haus, in dem die vier Winde auf dem Barockteppich des Salons die Backen blähen; die runde Bibliothek, in der die "Histoire de la poésie des Hébreux" neben den Klassikern steht; das Porzellanzimmer mit seiner vogelkundlichen Kollektion Meißener Preziosen; schließlich der zum Schrein der Erinnerung veredelte Schlafraum des Sohnes: Das Arrangement der Gegenstände in den von Camondo kunstsinnig ausgestatteten Räumen, die De Waal mit Worten erschließt, bewahrt die Umrisse des Daseins, das sich in ihnen einst entfaltete. Es erzählt von der nach kultureller Perfektion strebenden Assimilation einer wohlhabenden jüdischen Familie aus Konstantinopel, von Sammelleidenschaft, Patriotismus und Aufklärung, von der Sehnsucht nach Dauer und Zugehörigkeit im Land der Dreyfus-Affäre, die für die Spanne eines Lebens gestillt werden konnte.
Als Zwölfjähriger kam Moïse de Camondo 1869 mit seiner Familie vom Bosporus an die Seine. Kurz nach seinem Tod, als der von ihm errichtete prachtvolle Bau in der Rue de Monceau samt Interieur, wie er es verfügt hatte, im Namen des Gedenkens an seinen im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn Nissim ein Teil des staatlichen Musée des Arts Décoratifs wurde, enthüllte ein Minister die Plakette. Zu Nissims Tod zwei Jahrzehnte zuvor hatte Proust seine Anteilnahme übermittelt. Die Mutter des Jungen, Irène Cahen d'Anvers, war als Mädchen von Renoir porträtiert worden. Kann man noch viel pariserischer werden? Alles sollte rein bewahrt werden: Auf penible Sauberkeit sei im Haus zu achten, lautete die Anweisung Camondos für sein Museum. Kein Staub dürfe sich sammeln. Doch ohne Staub keine Spuren, befindet der ihm nachschreibende De Waal, wohl wissend, das Staub einer anderen Substanz verwandt ist: der Asche. Auch von Paris fuhren Züge nach Auschwitz.
Moïse de Camondo konnte bei täglichen Gängen über den Vier-Winde-Teppich nicht ahnen, dass seine scheinbar so stabil in der Dritten Französischen Republik gründende Existenz als Bankier, Sammler und Citoyen gleichsam auf Luft gebaut war, dass sie schon über dem Abgrund schwebte, in den Europa vom Nazismus gestürzt werden würde. Das unvermeidliche Wissen darum, was Camondos Tochter Béatrice und deren Kinder erwartete, legt eine tiefe Melancholie über die im Musée Camondo wie in einer Zeitkapsel geborgenen Artefakte, vereint in einer Ära, die Stefan Zweig als das "goldene Zeitalter der Sicherheit" bezeichnete.
De Waal will sich der tödlichen Erstarrung, die in den Objekten lauert, ebenso wenig hingeben wie der bitter notwendigen Erinnerung entziehen. Wo von Menschen nur Gegenstände geblieben sind, ganz gleich, ob Kunstwerke oder bloße Utensilien, versteht es der britische Keramikkünstler und Autor wie kein anderer, die Dinge erzählend wieder mit der Wärme zu erfüllen, die sie in sich aufgenommen haben, als sie von anderen vor langer Zeit in Händen gehalten, auf Borden hin und her geschoben, benutzt, besessen wurden. Dinge vergegenwärtigen. Sie setzen Konversationen in Gang, über Raum und Zeit hinweg.
Eine Unterhaltung entspinnt sich auch in den 58 Briefen, die De Waal an Moïse de Camondo postum geschrieben hat, vereint mit Fotografien aus dessen Haus und übersetzt von Brigitte Hilzensauer in einem leinengebundenen Band mit Monogrammprägung. Auch das Buch ist ein Objekt. Sein Text verbindet in Betrachtungen, Annäherungen und Abschweifungen das Schicksal der Camondos mit der Familien- und Kulturgeschichte, der Edmund de Waal in seinem vielbeachteten Erstling "Der Hase mit den Bernsteinaugen" über die Ephrussis aus Odessa, seine jüdischen Vorfahren mütterlicherseits, nachspürte. Auf verwickelte Weise sind beide Familienkreise miteinander verbandelt. In der Rue de Monceau, auf jenem "goldenen Hügel" im achten Arrondissement, treffen sie schließlich Ende des neunzehnten Jahrhunderts aufeinander: an einem Ort der Begegnungen und Neuanfänge, der zur tödlichen Falle wurde. Meisterlich vereint De Waal in seinen essayistischen Briefen Archivalisches, Literarisches und im Musée Camondo Betrachtetes mit Imaginiertem und persönlichen Ansprachen. Er stellt zusammen, wie der Comte Dinge zusammengestellt hat: bis Bilder entstehen und die Echos der Vergangenheit so klar erklingen, dass sie ins Herz dringen.
Edmund de Waal: "Camondo".
Eine Familiengeschichte in Briefen.
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay Verlag, Wien 2021. 191 S., 33 Abb., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Echo eines Lebens: In seinem Briefroman "Camondo" widmet sich Edmund de Waal dem kostbaren Erbe eines Pariser Bankiers.
Von Ursula Scheer
Ein Fremder, ein Verwandter, ein Freund: Edmund de Waal schreibt ihm Briefe, als wäre Comte Moïse de Camondo noch zugegen in seinem Stadtpalais in der Rue de Monceau Nummer 63, der Pariser Heimstatt einer Familie, einer Bank, einer Dynastie. Und ist der 1935 gestorbene Camondo nicht tatsächlich präsent in der Abwesenheit?
Das dem Petit Trianon in Versailles nachempfundene Haus, in dem die vier Winde auf dem Barockteppich des Salons die Backen blähen; die runde Bibliothek, in der die "Histoire de la poésie des Hébreux" neben den Klassikern steht; das Porzellanzimmer mit seiner vogelkundlichen Kollektion Meißener Preziosen; schließlich der zum Schrein der Erinnerung veredelte Schlafraum des Sohnes: Das Arrangement der Gegenstände in den von Camondo kunstsinnig ausgestatteten Räumen, die De Waal mit Worten erschließt, bewahrt die Umrisse des Daseins, das sich in ihnen einst entfaltete. Es erzählt von der nach kultureller Perfektion strebenden Assimilation einer wohlhabenden jüdischen Familie aus Konstantinopel, von Sammelleidenschaft, Patriotismus und Aufklärung, von der Sehnsucht nach Dauer und Zugehörigkeit im Land der Dreyfus-Affäre, die für die Spanne eines Lebens gestillt werden konnte.
Als Zwölfjähriger kam Moïse de Camondo 1869 mit seiner Familie vom Bosporus an die Seine. Kurz nach seinem Tod, als der von ihm errichtete prachtvolle Bau in der Rue de Monceau samt Interieur, wie er es verfügt hatte, im Namen des Gedenkens an seinen im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn Nissim ein Teil des staatlichen Musée des Arts Décoratifs wurde, enthüllte ein Minister die Plakette. Zu Nissims Tod zwei Jahrzehnte zuvor hatte Proust seine Anteilnahme übermittelt. Die Mutter des Jungen, Irène Cahen d'Anvers, war als Mädchen von Renoir porträtiert worden. Kann man noch viel pariserischer werden? Alles sollte rein bewahrt werden: Auf penible Sauberkeit sei im Haus zu achten, lautete die Anweisung Camondos für sein Museum. Kein Staub dürfe sich sammeln. Doch ohne Staub keine Spuren, befindet der ihm nachschreibende De Waal, wohl wissend, das Staub einer anderen Substanz verwandt ist: der Asche. Auch von Paris fuhren Züge nach Auschwitz.
Moïse de Camondo konnte bei täglichen Gängen über den Vier-Winde-Teppich nicht ahnen, dass seine scheinbar so stabil in der Dritten Französischen Republik gründende Existenz als Bankier, Sammler und Citoyen gleichsam auf Luft gebaut war, dass sie schon über dem Abgrund schwebte, in den Europa vom Nazismus gestürzt werden würde. Das unvermeidliche Wissen darum, was Camondos Tochter Béatrice und deren Kinder erwartete, legt eine tiefe Melancholie über die im Musée Camondo wie in einer Zeitkapsel geborgenen Artefakte, vereint in einer Ära, die Stefan Zweig als das "goldene Zeitalter der Sicherheit" bezeichnete.
De Waal will sich der tödlichen Erstarrung, die in den Objekten lauert, ebenso wenig hingeben wie der bitter notwendigen Erinnerung entziehen. Wo von Menschen nur Gegenstände geblieben sind, ganz gleich, ob Kunstwerke oder bloße Utensilien, versteht es der britische Keramikkünstler und Autor wie kein anderer, die Dinge erzählend wieder mit der Wärme zu erfüllen, die sie in sich aufgenommen haben, als sie von anderen vor langer Zeit in Händen gehalten, auf Borden hin und her geschoben, benutzt, besessen wurden. Dinge vergegenwärtigen. Sie setzen Konversationen in Gang, über Raum und Zeit hinweg.
Eine Unterhaltung entspinnt sich auch in den 58 Briefen, die De Waal an Moïse de Camondo postum geschrieben hat, vereint mit Fotografien aus dessen Haus und übersetzt von Brigitte Hilzensauer in einem leinengebundenen Band mit Monogrammprägung. Auch das Buch ist ein Objekt. Sein Text verbindet in Betrachtungen, Annäherungen und Abschweifungen das Schicksal der Camondos mit der Familien- und Kulturgeschichte, der Edmund de Waal in seinem vielbeachteten Erstling "Der Hase mit den Bernsteinaugen" über die Ephrussis aus Odessa, seine jüdischen Vorfahren mütterlicherseits, nachspürte. Auf verwickelte Weise sind beide Familienkreise miteinander verbandelt. In der Rue de Monceau, auf jenem "goldenen Hügel" im achten Arrondissement, treffen sie schließlich Ende des neunzehnten Jahrhunderts aufeinander: an einem Ort der Begegnungen und Neuanfänge, der zur tödlichen Falle wurde. Meisterlich vereint De Waal in seinen essayistischen Briefen Archivalisches, Literarisches und im Musée Camondo Betrachtetes mit Imaginiertem und persönlichen Ansprachen. Er stellt zusammen, wie der Comte Dinge zusammengestellt hat: bis Bilder entstehen und die Echos der Vergangenheit so klar erklingen, dass sie ins Herz dringen.
Edmund de Waal: "Camondo".
Eine Familiengeschichte in Briefen.
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay Verlag, Wien 2021. 191 S., 33 Abb., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Auch in diesem Buch erzählt Edmund de Waal von einer sehr reichen, Kunst sammelnden jüdischen Familie. Diesmal aber nicht - wie in "Der Hase mit den Bernsteinaugen" von seiner eigenen, sondern von den Camondos, erzählt Rezensentin Christine Brinck. Im Buch schreibt de Waal 58 fiktive Briefe an Moise Camondo, der in seinem prächtigen Pariser Palais sitzt, in dem er 1936 starb. Der Rest der - gänzlich assimilierten - Familie wurde von den Nazis ermordet. Mit Ausnahme von Irene Camondo, lesen wir, die überlebte und ihr Porträt von Renoir an den Waffenlieferanten der Nazis, Emil Georg Bührle verkaufte. Doch darum geht es nicht. Vielmehr führt uns de Waal laut Rezensentin durch das Palais, erzählt die Geschichte seiner Kunstgegenstände, Vasen, Teppiche und Fotos, und macht so eine Facette des Französischen lebendig, eine Lebensart und ein Kulturverständnis, die untergegangen ist. Ein "herzzerreißendes Buch", so Brinck.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Wenn De Waal an die Bilder erinnert, die einmal seiner Familie gehört haben, wenn er die Möbel, das Geschirr, die Gläser, Wandschirme, Teppiche und Ziergegenstände beschreibt, die einst der Stolz seiner Verwandten gewesen waren, dann ist es, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Die Dinge fangen an, zu uns zu sprechen." Klara Obermüller, NZZ Bücher am Sonntag, 28.11.21
"Mit seinem Blick sehen wir Dinge, die uns selber gar nicht aufgefallen wären. [...] Camondo ist ein sehr dichtes Buch, es ist ungewöhnlich erzählt und sehr, sehr lesenswert." Barbara Tóth, Falter Bücher Podcast, 25.11.21
"Eine literarische Preziose, ein leises, zartes, ein aus der Zeit gefallenes Buch - mit einem ungeheuren Sog." Jochanan Shelliem, NDR Kultur, 02.11.21
"Man könnte Camondo auch als überaus kunstvollen Museumsführer lesen, aber einen solchen zu verfassen, war nicht die Absicht des Autors. Der wollte vielmehr ein Buch über das Vergessen und Erinnern schreiben, über das Trauernund das Weiterleben. Die Welt Camondos, die de Waal in seinen wunderschön nachdenklichen Briefen auferstehen lässt, wird brutal ausgelöscht." Barbara Tóth, Falter Buchbeilage, 20.10.21
"De Waal versteht es wie kein anderer, Gegenstände erzählend wieder mit Wärme zu erfüllen. (...) Meisterlich vereint De Waal Archivalisches, Literarisches und Betrachtetes mit Imaginiertem und persönlichen Ansprachen." Ursula Scheer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.21
"Wieder verschlägt es einem den Atem, wie de Waal das Aufeinanderprallen einer kunstsinnigen Familie mit dem Nazi-Regime beschreibt." Lisa Zeitz, Weltkunst, Oktober 2021
"Zurück bleiben die Sammlungen, die materiellen Archive, als deren einfühlsamer Deuter de Waal berühmt geworden ist. (...) Es sind die Dinge, die bei ihm Vergangenheit und Gegenwart verbinden, die ein Gespräch mit den Toten ermöglichen und die vor allem: Tradition stiften. Insofern ist der Band nicht nur ein Erinnerungsbuch, sondern auch eine Theorie des Museums und des Sammelns." Christoph Schmälze, SWR2 lesenswert, 27.9.21
"Edmund de Waal rekreiert mit seiner brieflichen Familiengeschichte eine faszinierende, eine andere Vorstellung von Adel zu Zeiten der Belle Époque und zugleich gelingt ihm eine poetische Meditation über so altmodisch scheinende Begrifflichkeiten wie Erinnerung, Erbe und Ehre." Kirstern Böttcher, Bayern 2, 21.09.21
"Mit seinem Blick sehen wir Dinge, die uns selber gar nicht aufgefallen wären. [...] Camondo ist ein sehr dichtes Buch, es ist ungewöhnlich erzählt und sehr, sehr lesenswert." Barbara Tóth, Falter Bücher Podcast, 25.11.21
"Eine literarische Preziose, ein leises, zartes, ein aus der Zeit gefallenes Buch - mit einem ungeheuren Sog." Jochanan Shelliem, NDR Kultur, 02.11.21
"Man könnte Camondo auch als überaus kunstvollen Museumsführer lesen, aber einen solchen zu verfassen, war nicht die Absicht des Autors. Der wollte vielmehr ein Buch über das Vergessen und Erinnern schreiben, über das Trauernund das Weiterleben. Die Welt Camondos, die de Waal in seinen wunderschön nachdenklichen Briefen auferstehen lässt, wird brutal ausgelöscht." Barbara Tóth, Falter Buchbeilage, 20.10.21
"De Waal versteht es wie kein anderer, Gegenstände erzählend wieder mit Wärme zu erfüllen. (...) Meisterlich vereint De Waal Archivalisches, Literarisches und Betrachtetes mit Imaginiertem und persönlichen Ansprachen." Ursula Scheer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.21
"Wieder verschlägt es einem den Atem, wie de Waal das Aufeinanderprallen einer kunstsinnigen Familie mit dem Nazi-Regime beschreibt." Lisa Zeitz, Weltkunst, Oktober 2021
"Zurück bleiben die Sammlungen, die materiellen Archive, als deren einfühlsamer Deuter de Waal berühmt geworden ist. (...) Es sind die Dinge, die bei ihm Vergangenheit und Gegenwart verbinden, die ein Gespräch mit den Toten ermöglichen und die vor allem: Tradition stiften. Insofern ist der Band nicht nur ein Erinnerungsbuch, sondern auch eine Theorie des Museums und des Sammelns." Christoph Schmälze, SWR2 lesenswert, 27.9.21
"Edmund de Waal rekreiert mit seiner brieflichen Familiengeschichte eine faszinierende, eine andere Vorstellung von Adel zu Zeiten der Belle Époque und zugleich gelingt ihm eine poetische Meditation über so altmodisch scheinende Begrifflichkeiten wie Erinnerung, Erbe und Ehre." Kirstern Böttcher, Bayern 2, 21.09.21