Das Vermächtnis eines großen Erzählers: Im Mittelpunkt stehen Teile von W. G. Sebalds un-vollendetem Prosawerk, an dem er in den letzten Monaten seines Lebens arbeitete. Außerdem enthält der Band eine Zusammenstellung von Essays zur Literatur, die noch einmal Sebalds Vorlieben dokumentieren.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2003Tücke der Toten
Knapp und scharf: W. G. Sebalds hinterlassene Schriften
Nachgelassene Schriften sind in den meisten Fällen ein rechtes Sammelsurium. Alles, was die Mühe des Abschlusses nicht wert schien, an obskuren Stellen gelegenheitsweise gedruckt wurde, der beiläufigen Konvention angehört (vorzüglich die Marter der Fest- und Dankesreden), das pflegt sich hier zu einer großen Fuhre Sperrmüll zu häufen: aufschlussreich vielleicht für die Lebensweise des Verstorbenen, doch ansonsten für die Hinterbliebenen eine rechte Last.
Nicht so bei W. G. Sebald. Zwei Arten von Texten enthält der Sammelband „Campo Santo”, der jetzt, knapp zwei Jahre nach seinem Unfalltod, herauskommt, Reisestücke aus Korsika und Essays, überwiegend zur deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Gerade in ihrer Verschiedenheit betonen sie das Besondere dieses Autors: dass hier in deutscher Sprache der Typus des akademischen Schriftstellers am Werk war, den es sonst bloß in der angelsächsischen Welt zu geben scheint. Im deutschen Sprachraum verhält es sich ja leider überwiegend so, dass Literaturgeschichte und literarische Produktion einander den Rücken zuwenden. Ein nicht ganz kleiner Teil der Autoren hat seine literarische Laufbahn zwar mit dem Studium der Germanistik begonnen. Das wird aber dann abgestreift wie eine Puppenhaut, wenn der fertige Schriftsteller ausschlüpft und seinen Flug beginnt. Dieses Modell literarischer Metamorphose hinterlässt ungute Gefühle auf beiden Seite; der Autor sieht die Universität als eine frühe Stufe seiner Entwicklung an, die er überwunden hat, und der zurückgelassene Betrieb seinerseits bewahrt ihm einen treuen Groll.
Sebald fügt beides zusammen. Der Titel des Bandes, „Campo Santo” – Friedhof - bezeichnet das gemeinsame Thema: das Vergangene als das Reich der Toten. Geschichte kräftigt die Lebenden nicht, indem sie ihnen festen Halt im Rückblick auf die Vorfahren gibt, sondern sucht sie heim und plagt sie mit ihren unverjährbaren Ansprüchen. Ausführlich berichtet der Autor vom korsischen Geisterglauben. Die Toten werden nicht in ein fernes Jenseits entrückt, sie sind noch da; etwa einen Fuß kleiner als zu Lebzeiten, finden sie sich zu regelrechten Banden zusammen und führen mit wispernden Fistelstimmen Gespräche, denen man nichts entnehmen kann als den Namen dessen, den sie als nächstes holen wollen. In ihrer reduzierten, aber gerade darum schrecklichen Leiblichkeit gleichen sie auffallend den verkohlten Leichen, die Sebald in „Literatur und Luftkrieg” beschrieben hat. Die traditionelle korsische Kultur zollt ihren Toten großen Respekt, bis hin zu dem Punkt, wo er das ganze Dasein der Lebenden mit seiner Düsterkeit verfärbt – die schwarze Trauerkleidung ist geradezu die korsische Nationaltracht geworden. Aber auch das reicht nicht hin, die Toten wahrhaft zu versöhnen, die sich unter allen Umständen für um das Leben verkürzt halten müssen. Geschichte und ihr Nährboden, das Gedächtnis, erscheint so als Bezirk der Bitternis, selbst wo sie noch präkatastrophisch, sozusagen normal verläuft und nichts Schlimmeres hervorbringt als die zugleich entsetzlichen und lächerlichen Horden der korsischen Jäger, die zum Schluss mit nicht mehr heimkommen als einem Rebhuhn – längst sind die Wälder leergeschossen –, mit dem sie sich vor ihrer Hausfrau blamieren.
Schlimmer als die Erinnerung ist allein das Vergessen. „Wo kommen sie hin, die Toten von Buenos Aires und Sao Paulo, von Mexico City, Lagos und Kairo, von Tokyo, Shanghai und Bombay? Die allerwenigsten wohl in ein kühles Grab. Und wer erinnert sich an sie, wer erinnert sich überhaupt?” Diese Klage, diese Frage bildet die starke Klammer zur zweiten Hälfte des Buchs. Sebald richtet sie an die deutsche Nachkriegsliteratur; und indem er Antwort gibt, ersteht ihm ein Kanon, der vom vorherrschenden erheblich abweicht. Peter Weiss, Jean Améry, Wolfgang Hildesheimer nehmen darin eine zentrale Stellung ein: die Entflohenen und dabei irreparabel Beschädigten, die dieser Beschädigung trotzdem ihr Werk entrissen haben. Sebald verschweigt auch nicht die Zweideutigkeit dieser Werke, die sich durch ihr in jeder Hinsicht Dunkles der Aufbereitung zur Schullektüre sperren; er spricht von der Problematik des Rechts auf Ressentiment, das Améry einklagt und von der morbiden Faszination durch die Grausamkeit bei Weiss, die ihn zum großen „pornographe manqué” der neuen deutschen Literatur mache.
Hohe Achtung zollt er Alexander Kluge, den er ohne weiteres zum klügsten deutschen Autor der Gegenwart erklärt. Ins Abseits und sogar in die Schusslinie geraten dagegen Böll und Grass. Zwischen den Zeilen und ausdrücklich bezichtigt Sebald sie (und nebenbei auch den Doktor Faustus von Thomas Mann) einer leichtfertigen Verallgemeinerung, einer billigen Abfuhr der historischen Katastrophe, die doch auch als massenhaftestes Phänomen immer das Leben der Einzelnen vernichtet oder verkümmert hat. Insbesondere Grass, der im Gegensatz zu Böll sich auch in seine späteren Jahre hinein eine missmutige Unbelehrbarkeit bewahrt, zieht Sebalds Kritik auf sich. Dieser greift sich das „Tagebuch einer Schnecke” heraus und zergliedert höflichen Tons, doch unerbittlich, die zuweilen das Unredliche streifende Denkfaulheit des Nobelpreisträgers, der die Geschichte der Sozialdemokratie in eine sentimentale Familienballade umfälscht und die dokumentarische Bedeutung seiner Zeugnisse über die Danziger Juden durch willkürliche Erfindung einer Parallelhandlung entwertet. Er zitiert: „Nur, wenn ich vergessen wollte, wenn ihr (gemeint sind Grass’ Kinder) nicht wissen wolltet, wie es langsam dazu gekommen ist, könnten uns einsilbige Worte einholen: die Schuld und die Scham; auch sie, zwei unentwegte Schnecken, nicht aufzuhalten”, und setzt hinzu: „Bemerkenswert an dieser Passage ist vor allem die nicht sehr überzeugende Logik der letzten zwei Zeilen.”
Diese Leichen riecht man
Gröber wird Sebald nie, und man muss es fast bedauern; denn an Stellen wie dieser ist das ganze Unwesen einer heuchlerisch abstrakten Gedenkerei, die nichts kostet, mit Händen zu greifen. Leider hatte Sebald keine Gelegenheit mehr, sich zu Grass’ „Im Krebsgang” zu äußern, das wenige Wochen nach seinem Tod herauskam. Es ist aufschlussreich, es mit dem längsten Einzelstück dieses Bandes zu vergleichen, „Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung”, einer komprimierten Version von „Literatur und Luftkrieg”. Grass als faktischer Nationaldichter vermag, wenn er den Untergang eines Schiffs voll deutscher Zivilisten am Ende des Krieges schildert, dem vektorialen Feld der nationalen Aufrechnerei nicht zu entrinnen, jener unheilvollen Arithmetik, die jeden Deutschen, der „auch” ein Opfer wurde, automatisch vom eigenen Schuldkonto abzieht. Er will das vielleicht nicht, jedenfalls nicht bewusst; aber es tränkt sein ganzes Buch mit einem Ressentiment, das er in seiner Selbstgerechtigkeit sich nicht einbekennt und mit dem sich darum weit schwerer umgehen lässt als mit dem eingestandenen Ressentiment bei Jean Améry.
Dem steht der gewissenhafte Ernst des Emigranten und Deutschprofessors an der University of East Anglia fern. Wer mit der gebotenen Sachlichkeit und Trauer darstellen will, was Nationen einander antun, darf keiner Nation angehören. Wohltuend sticht Sebalds knappe Schärfe von der Grass’schen Schwadroniererei ab noch dort, wo er mitteilt, wie eine ganze Familie in ihrem Kartoffelkeller lebendig gebraten wird. „Sie waren alle von den heißen Wänden in die Mitte des Kellers geflohen. Da fand man sie zusammengedrängt. Sie waren aufgequollen vor Hitze.” Diese Leichen, so wenig auch dasteht, riecht man. Dass es sich dabei um ein Zitat von Alexander Kluge handelt, verschlägt nichts, im Gegenteil, es stiftet ein kraftvolles Band: kraftvoll genug, bleibt zu hoffen, um gegen die in der Literaturgeschichte immer noch fortdauernde Dominanz der Gruppe 47, präsent stets in Mannschaftsstärke, dereinst eine wahre Traditionslinie der Einzelnen zu begründen.
BURKHARD MÜLLER
W. G. SEBALD: Campo Santo. Herausgegeben von Sven Meyer. Hanser Verlag, München 2003. 265 Seiten, 19,90 Euro.
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Knapp und scharf: W. G. Sebalds hinterlassene Schriften
Nachgelassene Schriften sind in den meisten Fällen ein rechtes Sammelsurium. Alles, was die Mühe des Abschlusses nicht wert schien, an obskuren Stellen gelegenheitsweise gedruckt wurde, der beiläufigen Konvention angehört (vorzüglich die Marter der Fest- und Dankesreden), das pflegt sich hier zu einer großen Fuhre Sperrmüll zu häufen: aufschlussreich vielleicht für die Lebensweise des Verstorbenen, doch ansonsten für die Hinterbliebenen eine rechte Last.
Nicht so bei W. G. Sebald. Zwei Arten von Texten enthält der Sammelband „Campo Santo”, der jetzt, knapp zwei Jahre nach seinem Unfalltod, herauskommt, Reisestücke aus Korsika und Essays, überwiegend zur deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Gerade in ihrer Verschiedenheit betonen sie das Besondere dieses Autors: dass hier in deutscher Sprache der Typus des akademischen Schriftstellers am Werk war, den es sonst bloß in der angelsächsischen Welt zu geben scheint. Im deutschen Sprachraum verhält es sich ja leider überwiegend so, dass Literaturgeschichte und literarische Produktion einander den Rücken zuwenden. Ein nicht ganz kleiner Teil der Autoren hat seine literarische Laufbahn zwar mit dem Studium der Germanistik begonnen. Das wird aber dann abgestreift wie eine Puppenhaut, wenn der fertige Schriftsteller ausschlüpft und seinen Flug beginnt. Dieses Modell literarischer Metamorphose hinterlässt ungute Gefühle auf beiden Seite; der Autor sieht die Universität als eine frühe Stufe seiner Entwicklung an, die er überwunden hat, und der zurückgelassene Betrieb seinerseits bewahrt ihm einen treuen Groll.
Sebald fügt beides zusammen. Der Titel des Bandes, „Campo Santo” – Friedhof - bezeichnet das gemeinsame Thema: das Vergangene als das Reich der Toten. Geschichte kräftigt die Lebenden nicht, indem sie ihnen festen Halt im Rückblick auf die Vorfahren gibt, sondern sucht sie heim und plagt sie mit ihren unverjährbaren Ansprüchen. Ausführlich berichtet der Autor vom korsischen Geisterglauben. Die Toten werden nicht in ein fernes Jenseits entrückt, sie sind noch da; etwa einen Fuß kleiner als zu Lebzeiten, finden sie sich zu regelrechten Banden zusammen und führen mit wispernden Fistelstimmen Gespräche, denen man nichts entnehmen kann als den Namen dessen, den sie als nächstes holen wollen. In ihrer reduzierten, aber gerade darum schrecklichen Leiblichkeit gleichen sie auffallend den verkohlten Leichen, die Sebald in „Literatur und Luftkrieg” beschrieben hat. Die traditionelle korsische Kultur zollt ihren Toten großen Respekt, bis hin zu dem Punkt, wo er das ganze Dasein der Lebenden mit seiner Düsterkeit verfärbt – die schwarze Trauerkleidung ist geradezu die korsische Nationaltracht geworden. Aber auch das reicht nicht hin, die Toten wahrhaft zu versöhnen, die sich unter allen Umständen für um das Leben verkürzt halten müssen. Geschichte und ihr Nährboden, das Gedächtnis, erscheint so als Bezirk der Bitternis, selbst wo sie noch präkatastrophisch, sozusagen normal verläuft und nichts Schlimmeres hervorbringt als die zugleich entsetzlichen und lächerlichen Horden der korsischen Jäger, die zum Schluss mit nicht mehr heimkommen als einem Rebhuhn – längst sind die Wälder leergeschossen –, mit dem sie sich vor ihrer Hausfrau blamieren.
Schlimmer als die Erinnerung ist allein das Vergessen. „Wo kommen sie hin, die Toten von Buenos Aires und Sao Paulo, von Mexico City, Lagos und Kairo, von Tokyo, Shanghai und Bombay? Die allerwenigsten wohl in ein kühles Grab. Und wer erinnert sich an sie, wer erinnert sich überhaupt?” Diese Klage, diese Frage bildet die starke Klammer zur zweiten Hälfte des Buchs. Sebald richtet sie an die deutsche Nachkriegsliteratur; und indem er Antwort gibt, ersteht ihm ein Kanon, der vom vorherrschenden erheblich abweicht. Peter Weiss, Jean Améry, Wolfgang Hildesheimer nehmen darin eine zentrale Stellung ein: die Entflohenen und dabei irreparabel Beschädigten, die dieser Beschädigung trotzdem ihr Werk entrissen haben. Sebald verschweigt auch nicht die Zweideutigkeit dieser Werke, die sich durch ihr in jeder Hinsicht Dunkles der Aufbereitung zur Schullektüre sperren; er spricht von der Problematik des Rechts auf Ressentiment, das Améry einklagt und von der morbiden Faszination durch die Grausamkeit bei Weiss, die ihn zum großen „pornographe manqué” der neuen deutschen Literatur mache.
Hohe Achtung zollt er Alexander Kluge, den er ohne weiteres zum klügsten deutschen Autor der Gegenwart erklärt. Ins Abseits und sogar in die Schusslinie geraten dagegen Böll und Grass. Zwischen den Zeilen und ausdrücklich bezichtigt Sebald sie (und nebenbei auch den Doktor Faustus von Thomas Mann) einer leichtfertigen Verallgemeinerung, einer billigen Abfuhr der historischen Katastrophe, die doch auch als massenhaftestes Phänomen immer das Leben der Einzelnen vernichtet oder verkümmert hat. Insbesondere Grass, der im Gegensatz zu Böll sich auch in seine späteren Jahre hinein eine missmutige Unbelehrbarkeit bewahrt, zieht Sebalds Kritik auf sich. Dieser greift sich das „Tagebuch einer Schnecke” heraus und zergliedert höflichen Tons, doch unerbittlich, die zuweilen das Unredliche streifende Denkfaulheit des Nobelpreisträgers, der die Geschichte der Sozialdemokratie in eine sentimentale Familienballade umfälscht und die dokumentarische Bedeutung seiner Zeugnisse über die Danziger Juden durch willkürliche Erfindung einer Parallelhandlung entwertet. Er zitiert: „Nur, wenn ich vergessen wollte, wenn ihr (gemeint sind Grass’ Kinder) nicht wissen wolltet, wie es langsam dazu gekommen ist, könnten uns einsilbige Worte einholen: die Schuld und die Scham; auch sie, zwei unentwegte Schnecken, nicht aufzuhalten”, und setzt hinzu: „Bemerkenswert an dieser Passage ist vor allem die nicht sehr überzeugende Logik der letzten zwei Zeilen.”
Diese Leichen riecht man
Gröber wird Sebald nie, und man muss es fast bedauern; denn an Stellen wie dieser ist das ganze Unwesen einer heuchlerisch abstrakten Gedenkerei, die nichts kostet, mit Händen zu greifen. Leider hatte Sebald keine Gelegenheit mehr, sich zu Grass’ „Im Krebsgang” zu äußern, das wenige Wochen nach seinem Tod herauskam. Es ist aufschlussreich, es mit dem längsten Einzelstück dieses Bandes zu vergleichen, „Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung”, einer komprimierten Version von „Literatur und Luftkrieg”. Grass als faktischer Nationaldichter vermag, wenn er den Untergang eines Schiffs voll deutscher Zivilisten am Ende des Krieges schildert, dem vektorialen Feld der nationalen Aufrechnerei nicht zu entrinnen, jener unheilvollen Arithmetik, die jeden Deutschen, der „auch” ein Opfer wurde, automatisch vom eigenen Schuldkonto abzieht. Er will das vielleicht nicht, jedenfalls nicht bewusst; aber es tränkt sein ganzes Buch mit einem Ressentiment, das er in seiner Selbstgerechtigkeit sich nicht einbekennt und mit dem sich darum weit schwerer umgehen lässt als mit dem eingestandenen Ressentiment bei Jean Améry.
Dem steht der gewissenhafte Ernst des Emigranten und Deutschprofessors an der University of East Anglia fern. Wer mit der gebotenen Sachlichkeit und Trauer darstellen will, was Nationen einander antun, darf keiner Nation angehören. Wohltuend sticht Sebalds knappe Schärfe von der Grass’schen Schwadroniererei ab noch dort, wo er mitteilt, wie eine ganze Familie in ihrem Kartoffelkeller lebendig gebraten wird. „Sie waren alle von den heißen Wänden in die Mitte des Kellers geflohen. Da fand man sie zusammengedrängt. Sie waren aufgequollen vor Hitze.” Diese Leichen, so wenig auch dasteht, riecht man. Dass es sich dabei um ein Zitat von Alexander Kluge handelt, verschlägt nichts, im Gegenteil, es stiftet ein kraftvolles Band: kraftvoll genug, bleibt zu hoffen, um gegen die in der Literaturgeschichte immer noch fortdauernde Dominanz der Gruppe 47, präsent stets in Mannschaftsstärke, dereinst eine wahre Traditionslinie der Einzelnen zu begründen.
BURKHARD MÜLLER
W. G. SEBALD: Campo Santo. Herausgegeben von Sven Meyer. Hanser Verlag, München 2003. 265 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Burkhard Müller ist sehr beeindruckt von W. G. Sebalds nachgelassenen Schriften: Dies ist kein sprachlicher "Sperrmüll", wie es sonst so oft bei nachgelassenen Schriften der Fall sei, erklärt Müller. Er hat hier vielmehr kluge, aufschlussreiche Texte gefunden, die ihm sogar die Idee einer "wahren Traditionslinie der Einzelnen" - in etwa: Weiss, Sebald, Kluge und hoffentlich Folgende - eingegeben haben, gegen die "fortdauernde Dominanz der Gruppe 47". Der Grund dafür ist, dass sich Sebald in seinen Essays, die neben Reisestücken über Korsika und vor allem über den dortigen Totenkult dieses Buch füllen, sehr stark mit der deutschen Nachkriegsliteratur auseinandersetzt und den Mangel an wirklicher, ehrlicher Erinnerung beklagt. Diejenigen, die es doch getan haben (Sebalds Beispiele: Weiss, Améry, Hildesheimer), die "Entflohenen und irreparabel Beschädigten", mögen dabei auch von Ressentiments geprägt gewesen sein, doch seien ihre Werke für Sebald einem wirklichen Ringen mit der Vergangenheit entsprungen - im Gegensatz zu "einer leichtfertigen Verallgemeinerung, einer billigen Abfuhr der Katastrophe" deren er Böll und vor allem Grass bezichtige, dessen "Denkfaulheit" und so wohlfeile wie selbstgerechte "Gedenkerei" er ausführlich darlege. Müller stimmt ihm von Herzen zu und lobt den "gewissenhaften Ernst", die "knappe Schärfe" der Sebald'schen Gedanken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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