Unterm Strich - Camus, wie ihn kaum jemand kennt
Ein Mann, der zum Mörder wird, weil ihn die Sonne blendet
Bis heute ist "Der Fremde" eine der berühmtesten literarischen Figuren der Welt. Albert Camus, sein Schöpfer, ist der Philosoph des Absurden, in das der Mensch hineingestellt ist, der Denker der Revolte, die den Menschen ausmacht und immer der Anwalt der Einfachheit, die dem Algerienfranzosen das Grundgegebene unter der Sonne und zugleich das am stärksten Gefährdete war.
"Aktueller denn je", lautet der Befund von Iris Radisch, einer der führenden deutschsprachigen Literaturkritikerinnen, die uns aus Anlass seines 100. Geburtstages auf eine faszinierende Reise mitnimmt: von Belcourt, dem ärmlichen Viertel Algiers, in dem Camus mit einer stummen Mutter aufwächst, in das graue Paris, das unter deutscher Besatzung die Moral der jungen Existenzialisten herausfordert. Vom konkurrierenden Großbürger Sartre als "algerischer Gassenjunge" abgetan, ist Camus, der erklärte Antifaschist,Antikommunist und Europäer, selbst ein Fremder und hellsichtiger als alle.
Emphatisch vermittelt uns Iris Radisch diesen von karger mittelmeerischer Landschaft geprägten Mann in allen seinen Lebenskämpfen, als Liebhaber der Frauen und eines Denkens, das sich engagiert.
"Iris Radisch beherrscht die große und seltene Kunst, ihren Gegenstand angemessen, genau und differenziert darzustellen und zu bewerten, und ihre Sprache zeichnet sich durch eine kreative Wortwahl, durch Originalität und Witz aus."
Klaus Harpprecht
"Eloquent, schlagfertig und ohne jede ideologiebelastete Besserwisserei."
Süddeutsche Zeitung
Ein Mann, der zum Mörder wird, weil ihn die Sonne blendet
Bis heute ist "Der Fremde" eine der berühmtesten literarischen Figuren der Welt. Albert Camus, sein Schöpfer, ist der Philosoph des Absurden, in das der Mensch hineingestellt ist, der Denker der Revolte, die den Menschen ausmacht und immer der Anwalt der Einfachheit, die dem Algerienfranzosen das Grundgegebene unter der Sonne und zugleich das am stärksten Gefährdete war.
"Aktueller denn je", lautet der Befund von Iris Radisch, einer der führenden deutschsprachigen Literaturkritikerinnen, die uns aus Anlass seines 100. Geburtstages auf eine faszinierende Reise mitnimmt: von Belcourt, dem ärmlichen Viertel Algiers, in dem Camus mit einer stummen Mutter aufwächst, in das graue Paris, das unter deutscher Besatzung die Moral der jungen Existenzialisten herausfordert. Vom konkurrierenden Großbürger Sartre als "algerischer Gassenjunge" abgetan, ist Camus, der erklärte Antifaschist,Antikommunist und Europäer, selbst ein Fremder und hellsichtiger als alle.
Emphatisch vermittelt uns Iris Radisch diesen von karger mittelmeerischer Landschaft geprägten Mann in allen seinen Lebenskämpfen, als Liebhaber der Frauen und eines Denkens, das sich engagiert.
"Iris Radisch beherrscht die große und seltene Kunst, ihren Gegenstand angemessen, genau und differenziert darzustellen und zu bewerten, und ihre Sprache zeichnet sich durch eine kreative Wortwahl, durch Originalität und Witz aus."
Klaus Harpprecht
"Eloquent, schlagfertig und ohne jede ideologiebelastete Besserwisserei."
Süddeutsche Zeitung
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Unter den drei zu Albert Camus' hundertstem Todestag publizierten Biografien preist Rezensent Jochen Schimmang insbesondere Iris Radischs nun unter dem Titel "Das Ideal der Einfachheit" erschienenes Werk. Der Kritiker lobt nicht nur die Empathie, mit der sich Radisch dem französischen Philosophen nähert, seine beschwerliche Kindheit in Algerien beleuchtet und zwischen Realität und Wunschbild Camus' differenziert, sondern ihr gelinge es auch mit "Bravour" Einträge aus Camus' Tagebüchern ganz ohne schematische Zuordnungen mit ihrer Biografie zu verbinden. Darüber hinaus stellt der Kritiker mit Bewunderung fest, dass Radisch auch durchaus noch Neues über den Autor zu berichten weiß: Das "mittelmeerische Denken" etwa sei keine Erfindung Camus' gewesen, sondern kursierte in Algier bereits in den zwanziger Jahren, berichtet der Rezensent. Neben den eindrucksvollen Einblicken in das Leben des Philosophen würdigt Schimmang das Buch auch als gelungene Werkbiografie, die zwar weniger ausführlich als jene von Martin Meyer ist, dafür aber durchaus "dezidierter". Und so kann der Kritiker dieses brillante Buch als erste oder weiterführende Auseinandersetzung mit Camus nur dringend empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2013Der Sonnenstand
des Gedankens
Zwei unterschiedliche, sich ergänzende Blicke auf
Albert Camus 100 Jahre nach seiner Geburt
VON JOSEPH HANIMANN
Wirft der Untertitel von Biografien meistens ein allgemein beschreibendes Licht voraus, so ist er bei diesem Autor fast zwangsläufig schon Programm. Freiheit, Einfachheit – andere Begriffe wären ebenso möglich gewesen. Die beiden vorliegenden Bücher sind also auch daran zu messen, wie stringent und doch nicht zu straff sie ihr jeweiliges Thema durch Leben und Werk führen. Iris Radisch, Feuilletonchefin der Zeit , entfaltet in ihrem schönen Porträt das bei Camus eher latent anklingende Ideal der Einfachheit als ein ständiges Sich-Zurückschreibenwollen in die halb reale, halb phantasierte Elementarexistenz unter der sengenden, geschichtsblinden Sonne Algeriens. Martin Meyer, Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung , arrangiert seinen gelehrten Werkkommentar geschickt so, dass das Thema der Freiheit ganz von allein ständig neu aufblitzt aus dem Vermächtnis des großen Intellektuellen. Und so unterschiedlich wie der Zugang ist auch die Form der beiden Bücher: kunstvoll komponierte Lebensgeschichte zwischen Chronologie und Themenauffächerung im einen Fall, detaillierter „Lesekompass“, wie der Autor selber es nennt, im anderen.
Iris Radisch fasst den Schriftsteller, den Zeitgenossen, den Algerienfranzosen, den systemkritischen Denker, den Frauenhelden und Paris-scheuen Intellektuellen fest ins Auge. Sie befragt ihn über seine Einstellung zum Kolonialsystem und sein Verhalten unter der Nazi-Besatzung, reibt sich an seinen Anflügen von Frauenverachtung und schlägt Assoziationsbrücken zu späteren Autoren wie dem Camus-Leser Imre Kertész. Zugleich legt sie Motivspuren des Absurden in der ärmlich sprachlosen Kinderstube zwischen Mutter und Großmutter frei, leuchtet die große Nähe zum Dichter René Char und die große Ferne zu Sartre aus. Dieses Buch ist mit dem Elan der persönlichen Implikation und mit der literarischen Eleganz einer subtilen Stilistin geschrieben. Statt eines chronologischen Kapitelablaufs entschied die Autorin sich für zehn Stichwortblöcke mit den Wörtern, die Camus einmal als seine Lieblinge bezeichnete: von „die Welt“, „der Schmerz“, „die Erde“, „die Mutter“ bis zu „das Elend“, „der Sommer“, „das Meer“. Die unter diesen Überschriften jeweils versammelten, halbwegs chronologisch hingebogenen konkreten Lebenssituationen geben dem Buch zwar etwas leicht Verwackeltes, zugleich aber auch die interessante Perspektivenbrechung eines kubistischen Bilds.
Dieses Bild arbeitet im Kind Algeriens den Adepten eines an der Antike orientierten Mittelmeerdenkens besonders heraus: einen Denker, der aus der klang- und bildgesättigten Fülle André Gides und Jean Greniers schnell zu seinem tonlos trockenen Stil gelangt und damit „unterm höchsten Sonnenstand“ historischer Schattenlosigkeit die Perspektive einer modernen Tragik entwirft. In zwei Exkursen zum Mittelmeertraum französischer Zwischenkriegszeitintellektueller und zu Camus’ an Deutschland orientiertem Griechenland-Ideal bricht die Autorin zwar politisch etwas schnell den Stab über Autoren wie Jean Giono oder Jules Roy. Doch ist solche Kontextualisierung für deutsche Leser allemal aufschlussreich.
Die Botschaft vom Absurden, mit der das Werk von Camus in „Der Fremde“ anhebt, wird treffend als das Gegenteil von Trübsinn, nämlich als Ausdruck von Lebenslust identifiziert, die auf sofortige Erfüllung drängt im Sinn früher Tagebucheintragungen des 24-Jährigen, der gegen das nordeuropäische Arbeitsethos und seine Kultur des Erfüllungsaufschubs ein mediterranes Lebensethos setzte. Selbst im Privatleben ist Camus laut Radisch gegenüber dem „postromantischen“ Paar Sartre-Beauvoir ein vorromantischer Libertin: ein Mann, der seine Frau Francine umstandslos betrügt, den zugefügten und wohl auch selbst erlittenen Schmerz kommentarlos wegsteckt und so mit dem Ideal der Liebe „eine der letzten Illusionsbastionen“ der Moderne sprengt.
Wie gelangte Camus aber von der Feststellung der grundsätzlichen Beliebigkeit unserer Existenz in der Welt und der daraus resultierenden Absurdität zur Idee der Revolte? Auf diese Frage geben die beiden Biografen sehr unterschiedliche Antworten. Ist die Denkentwicklung von „Der Fremde“ und „Der Mythos des Sisyphos“ zu „Der Mensch in der Revolte“ und „Die Pest“ für Iris Radisch ein Etagenbau ohne verbindende Treppe, sieht Martin Meyer die Revolte bei Camus von Anfang an als tragende Kategorie angelegt, seit seiner Diplomarbeit über Plotin und Augustinus.
Solche eingehende immanente Werkdeutungen aus teilweise auch wenig bekannten Schriften machen die Stärke von Meyers Buch aus, das auf den Untertitel „Biografie“ verzichtet. Kurze biografische Stenogramme sind den sechs thematischen Kapiteln jeweils vorangestellt. Mit der Sorgfalt zugleich eines Feinmechanikers und eines Großingenieurs schlägt Meyer Kontinuitätsbögen, wo Radisch kubistisch die Kanten schärft. So enthält die gegenseitige Romanbesprechung von „Der Ekel“ und „Der Fremde“ durch Camus und Sartre in den Augen Meyers schon die Keimzelle des künftigen Konflikts zwischen den beiden Antipoden.
Andererseits verraten Camus’ frühe Prosaskizzen „Hochzeit des Lichts“ mit ihrem „Fatalismus der Heiterkeit“ in der Ruinen-Erfahrung des algerischen Tipasa ein mehr als nur ästhetisches Erschauern: Sie verheißen Meyer zufolge bereits das Innewerden des Daseins in seiner befreienden Kontingenz, das nach dem Krieg vom individuellen zum kollektiven Bewusstsein umschlägt und politisch wird. Wenn Camus aber von den Aufstandsbewegungen der Nachkriegszeit hinter dem Eisernen Vorhang wie von den – viel zu schwachen – Verfechtern einer „föderativen“ Lösung in Algerien gern zum Vorbild gemacht wurde, dann liegt das wohl weniger an seiner Rolle als Reformdenker, in die Martin Meyer ihn manchmal zu drängen sucht. Camus war Maß und Radikalität stets in einem.
Auffallend ist, wie ausgiebig beide Autoren aus den Tagebüchern schöpfen, die auf Deutsch seit rund zwanzig Jahren vorliegen. Diese Aufzeichnungen zwischen Reflexion, Werkentwürfen, Aktualitätsskizzen und (wenigen) Privatanekdoten sind für die Neubegehung eines Jahrhundertwerks offenbar besonders anregend. Für Meyer ein Ort der Objektivierung inneren Leids durch „Verschriftlichung“ des Empfindens. Bei Iris Radisch entsteht eine temperamentvolle und zugleich sensible Wanderung, die bis zu den beiden Camus-Erben in Paris und im Provence-Dorf Lourmarin führt. Martin Meyer liefert eine offenbar über Jahre gereifte Werkbetrachtung, die zwischen kluger Paraphrase und ausholender Exegese eher zur Wiederlektüre als zur Erstlektüre des philosophischen Schriftstellers Albert Camus einlädt.
Iris Radisch: Camus. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2013. 352 Seiten, 19,95 Euro, E-Book 16,99 Euro.
Martin Meyer: Albert Camus. Die Freiheit leben. Carl Hanser Verlag, München 2013. 368 Seiten, 24,90 Euro, E-Book 18,99 Euro.
Camus war kein Reformdenker
des Politischen, sondern stets Maß
und Radikalität in einem
Suchte stets das helle Licht: Albert Camus am Fenster seines Pariser Büros, 1957. Catherine Sintes, Mutter von Albert Camus (kl. Bild). „ . . . und seine Mutter blieb, so wie sie war, das, was er auf der Welt am meisten liebte, auch wenn er sie hoffnungslos liebte.“ (aus: „Der erste Mensch“)
FOTOS: LOOMIS DEAN/TIME & LIFE PICTURES/GETTY IMAGES, ARCHIVES ALBERT CAMUS/IMEC
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des Gedankens
Zwei unterschiedliche, sich ergänzende Blicke auf
Albert Camus 100 Jahre nach seiner Geburt
VON JOSEPH HANIMANN
Wirft der Untertitel von Biografien meistens ein allgemein beschreibendes Licht voraus, so ist er bei diesem Autor fast zwangsläufig schon Programm. Freiheit, Einfachheit – andere Begriffe wären ebenso möglich gewesen. Die beiden vorliegenden Bücher sind also auch daran zu messen, wie stringent und doch nicht zu straff sie ihr jeweiliges Thema durch Leben und Werk führen. Iris Radisch, Feuilletonchefin der Zeit , entfaltet in ihrem schönen Porträt das bei Camus eher latent anklingende Ideal der Einfachheit als ein ständiges Sich-Zurückschreibenwollen in die halb reale, halb phantasierte Elementarexistenz unter der sengenden, geschichtsblinden Sonne Algeriens. Martin Meyer, Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung , arrangiert seinen gelehrten Werkkommentar geschickt so, dass das Thema der Freiheit ganz von allein ständig neu aufblitzt aus dem Vermächtnis des großen Intellektuellen. Und so unterschiedlich wie der Zugang ist auch die Form der beiden Bücher: kunstvoll komponierte Lebensgeschichte zwischen Chronologie und Themenauffächerung im einen Fall, detaillierter „Lesekompass“, wie der Autor selber es nennt, im anderen.
Iris Radisch fasst den Schriftsteller, den Zeitgenossen, den Algerienfranzosen, den systemkritischen Denker, den Frauenhelden und Paris-scheuen Intellektuellen fest ins Auge. Sie befragt ihn über seine Einstellung zum Kolonialsystem und sein Verhalten unter der Nazi-Besatzung, reibt sich an seinen Anflügen von Frauenverachtung und schlägt Assoziationsbrücken zu späteren Autoren wie dem Camus-Leser Imre Kertész. Zugleich legt sie Motivspuren des Absurden in der ärmlich sprachlosen Kinderstube zwischen Mutter und Großmutter frei, leuchtet die große Nähe zum Dichter René Char und die große Ferne zu Sartre aus. Dieses Buch ist mit dem Elan der persönlichen Implikation und mit der literarischen Eleganz einer subtilen Stilistin geschrieben. Statt eines chronologischen Kapitelablaufs entschied die Autorin sich für zehn Stichwortblöcke mit den Wörtern, die Camus einmal als seine Lieblinge bezeichnete: von „die Welt“, „der Schmerz“, „die Erde“, „die Mutter“ bis zu „das Elend“, „der Sommer“, „das Meer“. Die unter diesen Überschriften jeweils versammelten, halbwegs chronologisch hingebogenen konkreten Lebenssituationen geben dem Buch zwar etwas leicht Verwackeltes, zugleich aber auch die interessante Perspektivenbrechung eines kubistischen Bilds.
Dieses Bild arbeitet im Kind Algeriens den Adepten eines an der Antike orientierten Mittelmeerdenkens besonders heraus: einen Denker, der aus der klang- und bildgesättigten Fülle André Gides und Jean Greniers schnell zu seinem tonlos trockenen Stil gelangt und damit „unterm höchsten Sonnenstand“ historischer Schattenlosigkeit die Perspektive einer modernen Tragik entwirft. In zwei Exkursen zum Mittelmeertraum französischer Zwischenkriegszeitintellektueller und zu Camus’ an Deutschland orientiertem Griechenland-Ideal bricht die Autorin zwar politisch etwas schnell den Stab über Autoren wie Jean Giono oder Jules Roy. Doch ist solche Kontextualisierung für deutsche Leser allemal aufschlussreich.
Die Botschaft vom Absurden, mit der das Werk von Camus in „Der Fremde“ anhebt, wird treffend als das Gegenteil von Trübsinn, nämlich als Ausdruck von Lebenslust identifiziert, die auf sofortige Erfüllung drängt im Sinn früher Tagebucheintragungen des 24-Jährigen, der gegen das nordeuropäische Arbeitsethos und seine Kultur des Erfüllungsaufschubs ein mediterranes Lebensethos setzte. Selbst im Privatleben ist Camus laut Radisch gegenüber dem „postromantischen“ Paar Sartre-Beauvoir ein vorromantischer Libertin: ein Mann, der seine Frau Francine umstandslos betrügt, den zugefügten und wohl auch selbst erlittenen Schmerz kommentarlos wegsteckt und so mit dem Ideal der Liebe „eine der letzten Illusionsbastionen“ der Moderne sprengt.
Wie gelangte Camus aber von der Feststellung der grundsätzlichen Beliebigkeit unserer Existenz in der Welt und der daraus resultierenden Absurdität zur Idee der Revolte? Auf diese Frage geben die beiden Biografen sehr unterschiedliche Antworten. Ist die Denkentwicklung von „Der Fremde“ und „Der Mythos des Sisyphos“ zu „Der Mensch in der Revolte“ und „Die Pest“ für Iris Radisch ein Etagenbau ohne verbindende Treppe, sieht Martin Meyer die Revolte bei Camus von Anfang an als tragende Kategorie angelegt, seit seiner Diplomarbeit über Plotin und Augustinus.
Solche eingehende immanente Werkdeutungen aus teilweise auch wenig bekannten Schriften machen die Stärke von Meyers Buch aus, das auf den Untertitel „Biografie“ verzichtet. Kurze biografische Stenogramme sind den sechs thematischen Kapiteln jeweils vorangestellt. Mit der Sorgfalt zugleich eines Feinmechanikers und eines Großingenieurs schlägt Meyer Kontinuitätsbögen, wo Radisch kubistisch die Kanten schärft. So enthält die gegenseitige Romanbesprechung von „Der Ekel“ und „Der Fremde“ durch Camus und Sartre in den Augen Meyers schon die Keimzelle des künftigen Konflikts zwischen den beiden Antipoden.
Andererseits verraten Camus’ frühe Prosaskizzen „Hochzeit des Lichts“ mit ihrem „Fatalismus der Heiterkeit“ in der Ruinen-Erfahrung des algerischen Tipasa ein mehr als nur ästhetisches Erschauern: Sie verheißen Meyer zufolge bereits das Innewerden des Daseins in seiner befreienden Kontingenz, das nach dem Krieg vom individuellen zum kollektiven Bewusstsein umschlägt und politisch wird. Wenn Camus aber von den Aufstandsbewegungen der Nachkriegszeit hinter dem Eisernen Vorhang wie von den – viel zu schwachen – Verfechtern einer „föderativen“ Lösung in Algerien gern zum Vorbild gemacht wurde, dann liegt das wohl weniger an seiner Rolle als Reformdenker, in die Martin Meyer ihn manchmal zu drängen sucht. Camus war Maß und Radikalität stets in einem.
Auffallend ist, wie ausgiebig beide Autoren aus den Tagebüchern schöpfen, die auf Deutsch seit rund zwanzig Jahren vorliegen. Diese Aufzeichnungen zwischen Reflexion, Werkentwürfen, Aktualitätsskizzen und (wenigen) Privatanekdoten sind für die Neubegehung eines Jahrhundertwerks offenbar besonders anregend. Für Meyer ein Ort der Objektivierung inneren Leids durch „Verschriftlichung“ des Empfindens. Bei Iris Radisch entsteht eine temperamentvolle und zugleich sensible Wanderung, die bis zu den beiden Camus-Erben in Paris und im Provence-Dorf Lourmarin führt. Martin Meyer liefert eine offenbar über Jahre gereifte Werkbetrachtung, die zwischen kluger Paraphrase und ausholender Exegese eher zur Wiederlektüre als zur Erstlektüre des philosophischen Schriftstellers Albert Camus einlädt.
Iris Radisch: Camus. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2013. 352 Seiten, 19,95 Euro, E-Book 16,99 Euro.
Martin Meyer: Albert Camus. Die Freiheit leben. Carl Hanser Verlag, München 2013. 368 Seiten, 24,90 Euro, E-Book 18,99 Euro.
Camus war kein Reformdenker
des Politischen, sondern stets Maß
und Radikalität in einem
Suchte stets das helle Licht: Albert Camus am Fenster seines Pariser Büros, 1957. Catherine Sintes, Mutter von Albert Camus (kl. Bild). „ . . . und seine Mutter blieb, so wie sie war, das, was er auf der Welt am meisten liebte, auch wenn er sie hoffnungslos liebte.“ (aus: „Der erste Mensch“)
FOTOS: LOOMIS DEAN/TIME & LIFE PICTURES/GETTY IMAGES, ARCHIVES ALBERT CAMUS/IMEC
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"Eine fulminante Biographie." -- Deutschlandfunk
Elegant. taz