2019 jährt sich die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an den Schweizer Autor Carl Spitteler zum hundertsten Mal - willkommener Anlass, an den vielseitigen Erzähler und seine noble Gesinnung zu erinnern und sich mit seinem vielseitigen Werk zu befassen. Anhand eines Querschnitts und kundiger Einleitungen machen die Herausgeber Stefanie Leuenberger, Philipp Theisohn und Peter von Matt das Denken und Wirken dieses herausragenden Mannes zugänglich und vergegenwärtigen ihn als streitbaren, vernunftbetonten Individualisten - Meilenstein der Schweizer Moderne von überraschender Aktualität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2019Betrachtungen eines Politischen
Neues Interesse an Carl Spitteler, der vor hundert Jahren als bislang einziger Schweizer den Literaturnobelpreis erhielt
Viele Träger des Nobelpreises für Literatur sind in Vergessenheit geraten. Bei Carl Spitteler, der ihn vor einem Jahrhundert als bisher einziger Schweizer - zumindest mit Ausnahme des Wahlschweizers Hermann Hesse - bekam, ist das ganz besonders der Fall. Seine Landsleute hatten ihn, wenn überhaupt, nur noch in Erinnerung dank seiner Rede "Unser Schweizer Standpunkt", die er beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs hielt. Nun aber feiern sie ihn mit festlichen Veranstaltungen, Ausstellungen, thematischen Wanderwegen und einem Band, der seine Schriften wieder zugänglich macht: "Carl Spitteler - Eine Begegnung mit seinem Werk".
Er erscheint in der von Peter von Matt betreuten "Kollektion" helvetischer Klassiker bei Nagel & Kimche und dokumentiert das breite Schaffen des Dichters. Stefanie Leuenberger hat zu den einzelnen Teilen - der Erzähler, der Dichter, der Denker, der Politiker - prägnante Einleitungen geschrieben. Von Matt selbst steuert die Einleitung, Philipp Theisohn ein Nachwort bei, in dem er festhält, dass Spitteler seine literarische "Entkanonisierung" einzig in den "Grundbegriffen der Poetik" des Zürcher Germanisten Emil Staiger überlebt habe. Diese waren 1946 erstmals erschienen.
Spittelers Epen wie sein Werk "Olympischer Frühling", für das er ausdrücklich den Nobelpreis bekam, werden nicht mehr, seine Novellen kaum noch gelesen. Für den Einstieg ins Werk empfiehlt Stefanie Leuenberger den Roman "Imago". Das Interesse an Spitteler macht sie indes vor allem in der Aktualität seiner Themen - Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, die Korruption des Menschen durch die Macht - aus. Dass Spitteler nach seinem Tod 1924 als Schriftsteller vergessen wurde, begründet Leuenberger mit seiner Vereinnahmung durch die "geistige Landesverteidigung" im Zweiten Weltkrieg. Das hatte zur Folge, dass in den sechziger und siebziger Jahren der linke Zeitgeist, der mit den helvetischen Mythen aufräumen wollte, dem einstigen "literarischen Nationalhelden" Spitteler feindlich gesinnt war.
"Unser Schweizer Standpunkt" war tatsächlich Teil der nationalen Neutralitätsideologie geworden und möglicherweise der einflussreichste Beitrag eines Intellektuellen zu ihr. Lange hatte Spitteler an dieser Rede gearbeitet, an jedem Detail feilte er. Sie war ein Aufruf an die Landesteile, den inneren Zusammenhalt zu bewahren. Die Spannungen waren damals gewaltig: Die Westschweizer hielten es 1914 mit Frankreich, dessen Leser Spitteler ignorierte. Die Deutschschweizer sympathisierten mit dem nördlichen Nachbarland, in dem Spitteler ein geschätzter Dichter war. Er hatte in jungen Jahren von seinen Romantikern geschwärmt: "Das waren freilich naive, kindliche Vorstellungen. Aber heute blüht mir Sympathie und Zustimmung wie ein Frühling aus Deutschland entgegen, unabsehbar, unerschöpflich." Ferdinand Hodler war nach seiner Kritik an der Beschießung der Kathedrale von Reims beim deutschen Publikum in Ungnade gefallen. Spitteler ging nun auch das Risiko ein, seine deutsche Leserschaft zu verlieren - und tatsächlich ist er, wie Peter von Matt ausführt, praktisch aus der deutschen Literatur verschwunden.
Der Nobelpreis war durchaus eine Anerkennung von Spittelers Verdiensten als Warner und Vermittler. 1918 hatte die Stockholmer Akademie die Auszeichnung überhaupt nicht, jene für 1919 erst 2020 verliehen; den ersten Nobelpreis nach dem Zweiten Weltkrieg bekam später dann übrigens Hermann Hesse.
Nur ungern verließ Carl Spitteler seinen Elfenbeinturm, um seine "Bürgerpflicht zu erfüllen". Seine Rede ist kein pazifistisches Manifest, noch ist niemandem bewusst, in welche Schlachterei der Krieg münden wird. Sie ist genauso wenig ein Plädoyer für den Rückzug von der Welt und für die Abschottung in einem "Réduit", wie sie die Schweiz im Zweiten Weltkrieg als militärische Strategie plante. "Unser Schweizer Standpunkt" ist eine realpolitische Analyse der Lage eines neutralen Kleinstaats: Andere Länder mögen sich durch "Diplomatie, Übereinkommen und Bündnisse einigermaßen vorsehen", der Schweiz, "die ja keine hohe auswärtige Politik betreibt, fehlt dieser Schutz der Rückversicherung".
Auch die "politische Einheit", die Spitteler als Demonstration gegenüber dem Ausland fordert, kann ihn nicht garantieren. Aber in Zeiten des nationalistischen Wahns und Imperialismus ist sie eine Voraussetzung für das Überleben der Schweiz. Seit dem Ende der Debatten um das Verhalten des Landes im Zweiten Weltkrieg am Ende des vergangenen Jahrhunderts, als die "Stimmungsgegensätze" (Spitteler) abermals in einen rhetorischen Bürgerkrieg mündeten, herrschen Einmütig- und Gleichgültigkeit. Es gibt in der Öffentlichkeit bislang kaum Reaktionen auf einen Band, in dem Camille Luscher Essays von mehreren Schriftstellern vorgelegt hat: "Neue Schweizer Standpunkte - Im Dialog mit Carl Spitteler". Dorothee Elmiger befasst sich darin mit dem Unterschied zwischen Freunden (in den Nachbarländern) und Brüdern (den Landsleuten), den Spitteler in seiner Rede macht. Der Band enthält auch Essays unter anderem von Adolf Muschg und Daniel de Roulet, der kürzlich ein Buch über Ferdinand Hodler geschrieben hat.
Die Einleitung von Peter von Matt zeugt nicht gerade von überbordender literarischer Begeisterung und der Notwendigkeit, einen zu Unrecht Vergessenen wieder zu entdecken. Vielleicht käme es dazu, "wenn es einigen Fachleuten dämmerte, dass der ,Olympische Frühling' das spektakulärste Ereignis der deutschsprachigen Fantasy-Literatur ist". Dieses "Ereignis" erscheine dem zeitgenössischen Leser "altertümlich fremd und doch ganz gegenwärtig" und konfrontiert ihn mit Bildern, "wie man sie noch nie gesehen hat". Den Roman "Imago" würdigt Von Matt als "eines der frechsten Bücher" über das Schweizer Bürgertum mit "nadelspitzen Bosheiten, wie sie erst ein halbes Jahrhundert später in Max Frischs ,Stiller' wieder aufblitzen". Aber wie gut und lesenswert sind Spittelers Bücher wirklich? Dessen Gedichte rettet der Germanist mit der eleganten Pirouette, der Nobelpreisträger und "Retter des Vaterlands" habe sie womöglich als "Parodie auf alle vaterländische Lyrik" geschrieben.
Auch Peter von Matt bleibt der Denker und Politiker am nächsten. "Herausragend" nennt er den Essay "Vom Volk": "Er analysiert scharfsinnig, wie in der Politik mit dem Wort ,Volk' umgegangen wird, und man stellt dann verblüfft fest, dass alles, was er aufdeckt, auch heute noch geschieht."
JÜRG ALTWEGG
"Carl Spitteler: Dichter, Denker, Redner". Eine Begegnung mit seinem Werk.
Hrsg. von Stefanie Leuenberger, Philipp Theisohn und Peter von Matt. Nagel & Kimche
Verlag, Zürich 2019. 352 S., geb., 28,- [Euro].
Camille Luscher: "Neue Schweizer Standpunkte". Im Dialog mit Carl Spitteler.
Rotpunktverlag, Zürich 2019. 140 S., br., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neues Interesse an Carl Spitteler, der vor hundert Jahren als bislang einziger Schweizer den Literaturnobelpreis erhielt
Viele Träger des Nobelpreises für Literatur sind in Vergessenheit geraten. Bei Carl Spitteler, der ihn vor einem Jahrhundert als bisher einziger Schweizer - zumindest mit Ausnahme des Wahlschweizers Hermann Hesse - bekam, ist das ganz besonders der Fall. Seine Landsleute hatten ihn, wenn überhaupt, nur noch in Erinnerung dank seiner Rede "Unser Schweizer Standpunkt", die er beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs hielt. Nun aber feiern sie ihn mit festlichen Veranstaltungen, Ausstellungen, thematischen Wanderwegen und einem Band, der seine Schriften wieder zugänglich macht: "Carl Spitteler - Eine Begegnung mit seinem Werk".
Er erscheint in der von Peter von Matt betreuten "Kollektion" helvetischer Klassiker bei Nagel & Kimche und dokumentiert das breite Schaffen des Dichters. Stefanie Leuenberger hat zu den einzelnen Teilen - der Erzähler, der Dichter, der Denker, der Politiker - prägnante Einleitungen geschrieben. Von Matt selbst steuert die Einleitung, Philipp Theisohn ein Nachwort bei, in dem er festhält, dass Spitteler seine literarische "Entkanonisierung" einzig in den "Grundbegriffen der Poetik" des Zürcher Germanisten Emil Staiger überlebt habe. Diese waren 1946 erstmals erschienen.
Spittelers Epen wie sein Werk "Olympischer Frühling", für das er ausdrücklich den Nobelpreis bekam, werden nicht mehr, seine Novellen kaum noch gelesen. Für den Einstieg ins Werk empfiehlt Stefanie Leuenberger den Roman "Imago". Das Interesse an Spitteler macht sie indes vor allem in der Aktualität seiner Themen - Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, die Korruption des Menschen durch die Macht - aus. Dass Spitteler nach seinem Tod 1924 als Schriftsteller vergessen wurde, begründet Leuenberger mit seiner Vereinnahmung durch die "geistige Landesverteidigung" im Zweiten Weltkrieg. Das hatte zur Folge, dass in den sechziger und siebziger Jahren der linke Zeitgeist, der mit den helvetischen Mythen aufräumen wollte, dem einstigen "literarischen Nationalhelden" Spitteler feindlich gesinnt war.
"Unser Schweizer Standpunkt" war tatsächlich Teil der nationalen Neutralitätsideologie geworden und möglicherweise der einflussreichste Beitrag eines Intellektuellen zu ihr. Lange hatte Spitteler an dieser Rede gearbeitet, an jedem Detail feilte er. Sie war ein Aufruf an die Landesteile, den inneren Zusammenhalt zu bewahren. Die Spannungen waren damals gewaltig: Die Westschweizer hielten es 1914 mit Frankreich, dessen Leser Spitteler ignorierte. Die Deutschschweizer sympathisierten mit dem nördlichen Nachbarland, in dem Spitteler ein geschätzter Dichter war. Er hatte in jungen Jahren von seinen Romantikern geschwärmt: "Das waren freilich naive, kindliche Vorstellungen. Aber heute blüht mir Sympathie und Zustimmung wie ein Frühling aus Deutschland entgegen, unabsehbar, unerschöpflich." Ferdinand Hodler war nach seiner Kritik an der Beschießung der Kathedrale von Reims beim deutschen Publikum in Ungnade gefallen. Spitteler ging nun auch das Risiko ein, seine deutsche Leserschaft zu verlieren - und tatsächlich ist er, wie Peter von Matt ausführt, praktisch aus der deutschen Literatur verschwunden.
Der Nobelpreis war durchaus eine Anerkennung von Spittelers Verdiensten als Warner und Vermittler. 1918 hatte die Stockholmer Akademie die Auszeichnung überhaupt nicht, jene für 1919 erst 2020 verliehen; den ersten Nobelpreis nach dem Zweiten Weltkrieg bekam später dann übrigens Hermann Hesse.
Nur ungern verließ Carl Spitteler seinen Elfenbeinturm, um seine "Bürgerpflicht zu erfüllen". Seine Rede ist kein pazifistisches Manifest, noch ist niemandem bewusst, in welche Schlachterei der Krieg münden wird. Sie ist genauso wenig ein Plädoyer für den Rückzug von der Welt und für die Abschottung in einem "Réduit", wie sie die Schweiz im Zweiten Weltkrieg als militärische Strategie plante. "Unser Schweizer Standpunkt" ist eine realpolitische Analyse der Lage eines neutralen Kleinstaats: Andere Länder mögen sich durch "Diplomatie, Übereinkommen und Bündnisse einigermaßen vorsehen", der Schweiz, "die ja keine hohe auswärtige Politik betreibt, fehlt dieser Schutz der Rückversicherung".
Auch die "politische Einheit", die Spitteler als Demonstration gegenüber dem Ausland fordert, kann ihn nicht garantieren. Aber in Zeiten des nationalistischen Wahns und Imperialismus ist sie eine Voraussetzung für das Überleben der Schweiz. Seit dem Ende der Debatten um das Verhalten des Landes im Zweiten Weltkrieg am Ende des vergangenen Jahrhunderts, als die "Stimmungsgegensätze" (Spitteler) abermals in einen rhetorischen Bürgerkrieg mündeten, herrschen Einmütig- und Gleichgültigkeit. Es gibt in der Öffentlichkeit bislang kaum Reaktionen auf einen Band, in dem Camille Luscher Essays von mehreren Schriftstellern vorgelegt hat: "Neue Schweizer Standpunkte - Im Dialog mit Carl Spitteler". Dorothee Elmiger befasst sich darin mit dem Unterschied zwischen Freunden (in den Nachbarländern) und Brüdern (den Landsleuten), den Spitteler in seiner Rede macht. Der Band enthält auch Essays unter anderem von Adolf Muschg und Daniel de Roulet, der kürzlich ein Buch über Ferdinand Hodler geschrieben hat.
Die Einleitung von Peter von Matt zeugt nicht gerade von überbordender literarischer Begeisterung und der Notwendigkeit, einen zu Unrecht Vergessenen wieder zu entdecken. Vielleicht käme es dazu, "wenn es einigen Fachleuten dämmerte, dass der ,Olympische Frühling' das spektakulärste Ereignis der deutschsprachigen Fantasy-Literatur ist". Dieses "Ereignis" erscheine dem zeitgenössischen Leser "altertümlich fremd und doch ganz gegenwärtig" und konfrontiert ihn mit Bildern, "wie man sie noch nie gesehen hat". Den Roman "Imago" würdigt Von Matt als "eines der frechsten Bücher" über das Schweizer Bürgertum mit "nadelspitzen Bosheiten, wie sie erst ein halbes Jahrhundert später in Max Frischs ,Stiller' wieder aufblitzen". Aber wie gut und lesenswert sind Spittelers Bücher wirklich? Dessen Gedichte rettet der Germanist mit der eleganten Pirouette, der Nobelpreisträger und "Retter des Vaterlands" habe sie womöglich als "Parodie auf alle vaterländische Lyrik" geschrieben.
Auch Peter von Matt bleibt der Denker und Politiker am nächsten. "Herausragend" nennt er den Essay "Vom Volk": "Er analysiert scharfsinnig, wie in der Politik mit dem Wort ,Volk' umgegangen wird, und man stellt dann verblüfft fest, dass alles, was er aufdeckt, auch heute noch geschieht."
JÜRG ALTWEGG
"Carl Spitteler: Dichter, Denker, Redner". Eine Begegnung mit seinem Werk.
Hrsg. von Stefanie Leuenberger, Philipp Theisohn und Peter von Matt. Nagel & Kimche
Verlag, Zürich 2019. 352 S., geb., 28,- [Euro].
Camille Luscher: "Neue Schweizer Standpunkte". Im Dialog mit Carl Spitteler.
Rotpunktverlag, Zürich 2019. 140 S., br., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main