Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2008Und täglich grüßt der Killerwal
Jonathan Carr hat zwar noch nicht alle Leichen im Keller der Familie Wagner ausgegraben, aber er erinnert uns in seinem Buch daran, wo sie liegen.
Es klingt wie ein Witz, was die freundliche Dame vom Verlag verspricht: Bei diesem Buch handele es sich um die "erste umfassende Geschichte" dieser interessanten Familie. Unmöglich. Keine andere deutsche Familie, nicht mal die Manns, ist so gründlich bis ins letzte Glied erforscht und so regelmäßig öffentlich durchgehechelt worden wie die derzeit immer noch in zwei zerstrittene Stämme verzweigte Nachkommenschaft des Komponisten Richard Wagner.
Machen wir die Probe aufs Exempel, holen wir das Maßband aus dem Nähkästchen. Das Ergebnis, nichtamtlich und ohne Gewähr, ermittelt jeweils inklusive Ahnherr, aber exklusive Werkausgabe, ergibt für die Mannfamilienbiographik 880 Regalmillimeter, für die der Wagners 1053.
Doch noch während man sich, auf der Bibliotheksleiter stehend, kursorisch vertieft in die geistreichen Analysen von Urenkelin Nike ("Wagner Theater", 1998), die verschraubten Inventuren von Enkel Wolfgang ("Lebensakte", 1994) oder in Wielands unzart geschönten Lebenslauf (dem der Autor Berndt B. Wessling 1997 den Titel "Der Enkel" gab, als habe es nur diesen einen je gegeben); während man die Klagen der Verstoßenen und Vertriebenen (Gottfried Wagner 1997, Friedelind Wagner 1944) sichtet sowie die aus frauensolidarischer Sicht wichtigen Würdigungen abgeschobener Ehefrauen (Gertrud 1998, Minna 2004), dämmert es rasch: Dies alles sind ja nur Teilwahrheiten. Ein Familienmitglied beharkt die anderen (oder lässt sie beharken). Und weil die Wagners seit mehr als einer Generation heillos zerstritten sind und alle ein bisschen verrückt; weil sie über scharfen Verstand und spitze Zungen verfügen, deshalb ist die familienbiographische Lage dieser Sippschaft so besonders uferlos und voller Lücken und Lügen. Die vom Wieland-Sohn Wolf Dietrich 1976 besorgte "Geschichte unserer Familie in Bildern" sackt ganz ab ins Anekdotische, die druckfehlersatte Broschüre "Die Wagners - Macht und Geheimnis einer Theaterdynastie" (2001) hält auch nicht, was der Titel verspricht, und Brigitte Hamanns Rowohlt-Monographie ("Die Familie Wagner", 2005) bleibt naturgemäß kursorisch. Wie gut, dass nun mal einer ganz souverän von draußen hereinspaziert in die gute Stube und die vielen kleinen Stapel schmutzige Wäsche neu sortiert.
Objektiv ist Jonathan Carr dabei keineswegs. Als langjähriger Bayreuth-Pilger bringt er eine große Liebe zu Wagners Musik mit, macht aber auch kein Geheimnis daraus, dass er den Komponisten charakterlich für ein Monstrum hält, das gern quälte, wen es liebte. Eindeutige Sympathien zeigt der Autor für die Zu-kurz-Gekommenen und für die Rebellen der Familie: für Nike, Gottfried, Friedelind, aber auch für den unterschätzten Siegfried Wagner, dessen Leidenschaften eigentlich außerhalb seiner Bestimmung lagen. Sogar für Cosima findet Carr verständnisvolle Worte, zumindest für jene Zeit, da sie noch nicht die hohe Frau, sondern ein komplexbeladenes Mädchen war, das sich nicht mal ungerne quälen ließ. Mit subtiler Ironie deckt er bereits in der Tribschen-Idylle am Luzerner See die Wurzeln der Barbarei auf, als Cosima und Richard frisch verliebt, aber noch nicht legitim verheiratet sind. Als beim ersten Schrei des neugeborenen Siegfried die Sonne aufgeht, wobei Hausgast Nietzsche Zeuge des Geschehens wird. Und als sogar "Elisabeth Nietzsche, Friedrichs Schwester, die später einen Großteil ihres Lebens damit zubrachte, dessen Schriften zu fälschen, sich erinnert an einen bezaubernden, vollmondbeschienenen Spaziergang am See". So rosarot fängt die Geschichte an. Und sie eskaliert sofort, das Siegfried-Idyll wird mit dem Hurrapatriotismus des Deutsch-Französischen Krieges konfrontiert, die im ersten Glück verborgenen Grausamkeiten und Irrtümer werden ans Licht gezerrt.
Als langjähriger Deutschland-Korrespondent der "Financial Times" hat Jonathan Carr nicht nur ein Interesse daran, herauszufinden, warum die "Taten und Untaten der Wagners seit eh und je ihre Zeit widerspiegeln", er führt auch eine pointensichere Feder. In der "Wagnerschen Familiensaga" tauche "der Antisemitismus gleich einem Killerwal auf und unter", er sei "nie sehr fern", heißt es da zum Beispiel. Und so ist ein ganzes Kapitel noch einmal Wagners judenfeindlichen Schriften und seinen Judenfreundschaften gewidmet, wozu schon stapelweise Sekundärliteratur vorliegt. Aber Carr zeichnet knapp und genau die zeitpolitische Kurve nach von der 1850 noch anonym erschienenen Schrift "Das Judentum in der Musik" zur polemisch verschärften Wiederveröffentlichung 1869 und zeigt den wirtschaftspolitischen Kontext auf: das neu aufgelegte Judenemanzipationsgesetz, das gesteigerte Nationalgefühl, der sich ankündigende Börsencrash von 1873: "War der Meyerbeer-feindliche Wagner der fünfziger Jahre weitgehend ignoriert worden, so lag der antisemitische Wagner der siebziger und frühen achtziger Jahre immer mehr im Zug der Zeit - wenngleich nicht ganz in der Hauptströmung." Was nichts entschuldigt, aber einiges erklärt.
Mit der gleichen Akribie, oft gewürzt von mildem Spott, leuchtet Carr auch Nebenfiguren aus. Zeigt den geistigen Hintergrund von Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, der sich mit Cosima in der Rassenlehre so gut verstanden hat, verfolgt die Fäden des Strippenziehers Heinz Tietjen, der in Nazibayreuth zweifellos eine weit wichtigere Rolle spielte als "Onkel Wolf" (Adolf Hitler) und in den Winifred mindestens ebenso verliebt war. Von den Verletzungen und Affenlieben in den Kinderstuben ist die Rede, von den Konkurrenzen unter Brüdern und Schwestern, von der Kälte der Mütter, der Feigheit der Väter und viel von der unter den Tisch gefegten Schuld. Am Schluss fordert Carr, dass speziell diese Familie die Verpflichtung habe, in einer "neuen Ehrlichkeit" ihre letzten Leichen selbst aus dem Keller zu holen, die letzten Geheimarchive zu öffnen: vor allem das für die Nazizeit aufschlussreiche Konvolut von Aufzeichnungen Winifreds, das seit dreißig Jahren in München unter Verschluss liegt.
Erstveröffentlicht wurde diese Familienbiographie vor einem Jahr in England. Die vortreffliche Übersetzung, die viel angelsächsischen Witz ins Deutsche hinüberzuretten weiß, wurde ebenfalls abgeschlossen, als noch nicht absehbar war, dass ein Generationenwechsel in Bayreuth nun doch (eventuell) unmittelbar bevor steht. Carr schließt die Wagner-Akten also zu einem Zeitpunkt, als Gudrun Wagner noch lebt, Wolfgang Wagner noch nicht mit Tochter Eva versöhnt ist und Katharina Wagner gerade ihre Nachfolgekandidatur mit Thielemann bekanntgegeben hat. Erst kürzlich aber hat er sich journalistisch zu Wort gemeldet und erklärt, der neue Festspielleiter dürfe auf keinen Fall den Namen Wagner tragen: Weder Eva noch Katharina oder Nike wäre die richtige Lösung. Wenn einer, der die Familie Wagner so genau studiert hat, bei allen Sympathien für diese drei Wagner-Urenkelinnen am Ende dann doch zu diesem Ergebnis kommt, kann der Stiftungsrat, der am ersten September entscheiden muss, das nicht ignorieren.
"Und wie weiter?" heißt das letzte Kapitel. Diese Frage ist immer noch aktuell. Bei allem Ernst, der darin steckt, ist dieses Buch aber so flott und spottvoll geschrieben, dass es ein reines Lesevergnügen bereitet. Man erwischt sich, während man es verschlingt, immer wieder bei dem Gedanken: Wäre diese Anekdote nicht eine phantastische Opernszene? Eine prima Operettennummer? Der "Wagner Clan" - das Musical? Auch hier ist die Zeit hoffentlich bald reif.
ELEONORE BÜNING
Jonathan Carr: "Der Wagner-Clan". Geschichte
einer deutschen Familie. Aus dem Englischen von Hermann Kusterer. Hoffmann und
Campe Verlag, Hamburg 2008. 487 S., geb.,
Abb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jonathan Carr hat zwar noch nicht alle Leichen im Keller der Familie Wagner ausgegraben, aber er erinnert uns in seinem Buch daran, wo sie liegen.
Es klingt wie ein Witz, was die freundliche Dame vom Verlag verspricht: Bei diesem Buch handele es sich um die "erste umfassende Geschichte" dieser interessanten Familie. Unmöglich. Keine andere deutsche Familie, nicht mal die Manns, ist so gründlich bis ins letzte Glied erforscht und so regelmäßig öffentlich durchgehechelt worden wie die derzeit immer noch in zwei zerstrittene Stämme verzweigte Nachkommenschaft des Komponisten Richard Wagner.
Machen wir die Probe aufs Exempel, holen wir das Maßband aus dem Nähkästchen. Das Ergebnis, nichtamtlich und ohne Gewähr, ermittelt jeweils inklusive Ahnherr, aber exklusive Werkausgabe, ergibt für die Mannfamilienbiographik 880 Regalmillimeter, für die der Wagners 1053.
Doch noch während man sich, auf der Bibliotheksleiter stehend, kursorisch vertieft in die geistreichen Analysen von Urenkelin Nike ("Wagner Theater", 1998), die verschraubten Inventuren von Enkel Wolfgang ("Lebensakte", 1994) oder in Wielands unzart geschönten Lebenslauf (dem der Autor Berndt B. Wessling 1997 den Titel "Der Enkel" gab, als habe es nur diesen einen je gegeben); während man die Klagen der Verstoßenen und Vertriebenen (Gottfried Wagner 1997, Friedelind Wagner 1944) sichtet sowie die aus frauensolidarischer Sicht wichtigen Würdigungen abgeschobener Ehefrauen (Gertrud 1998, Minna 2004), dämmert es rasch: Dies alles sind ja nur Teilwahrheiten. Ein Familienmitglied beharkt die anderen (oder lässt sie beharken). Und weil die Wagners seit mehr als einer Generation heillos zerstritten sind und alle ein bisschen verrückt; weil sie über scharfen Verstand und spitze Zungen verfügen, deshalb ist die familienbiographische Lage dieser Sippschaft so besonders uferlos und voller Lücken und Lügen. Die vom Wieland-Sohn Wolf Dietrich 1976 besorgte "Geschichte unserer Familie in Bildern" sackt ganz ab ins Anekdotische, die druckfehlersatte Broschüre "Die Wagners - Macht und Geheimnis einer Theaterdynastie" (2001) hält auch nicht, was der Titel verspricht, und Brigitte Hamanns Rowohlt-Monographie ("Die Familie Wagner", 2005) bleibt naturgemäß kursorisch. Wie gut, dass nun mal einer ganz souverän von draußen hereinspaziert in die gute Stube und die vielen kleinen Stapel schmutzige Wäsche neu sortiert.
Objektiv ist Jonathan Carr dabei keineswegs. Als langjähriger Bayreuth-Pilger bringt er eine große Liebe zu Wagners Musik mit, macht aber auch kein Geheimnis daraus, dass er den Komponisten charakterlich für ein Monstrum hält, das gern quälte, wen es liebte. Eindeutige Sympathien zeigt der Autor für die Zu-kurz-Gekommenen und für die Rebellen der Familie: für Nike, Gottfried, Friedelind, aber auch für den unterschätzten Siegfried Wagner, dessen Leidenschaften eigentlich außerhalb seiner Bestimmung lagen. Sogar für Cosima findet Carr verständnisvolle Worte, zumindest für jene Zeit, da sie noch nicht die hohe Frau, sondern ein komplexbeladenes Mädchen war, das sich nicht mal ungerne quälen ließ. Mit subtiler Ironie deckt er bereits in der Tribschen-Idylle am Luzerner See die Wurzeln der Barbarei auf, als Cosima und Richard frisch verliebt, aber noch nicht legitim verheiratet sind. Als beim ersten Schrei des neugeborenen Siegfried die Sonne aufgeht, wobei Hausgast Nietzsche Zeuge des Geschehens wird. Und als sogar "Elisabeth Nietzsche, Friedrichs Schwester, die später einen Großteil ihres Lebens damit zubrachte, dessen Schriften zu fälschen, sich erinnert an einen bezaubernden, vollmondbeschienenen Spaziergang am See". So rosarot fängt die Geschichte an. Und sie eskaliert sofort, das Siegfried-Idyll wird mit dem Hurrapatriotismus des Deutsch-Französischen Krieges konfrontiert, die im ersten Glück verborgenen Grausamkeiten und Irrtümer werden ans Licht gezerrt.
Als langjähriger Deutschland-Korrespondent der "Financial Times" hat Jonathan Carr nicht nur ein Interesse daran, herauszufinden, warum die "Taten und Untaten der Wagners seit eh und je ihre Zeit widerspiegeln", er führt auch eine pointensichere Feder. In der "Wagnerschen Familiensaga" tauche "der Antisemitismus gleich einem Killerwal auf und unter", er sei "nie sehr fern", heißt es da zum Beispiel. Und so ist ein ganzes Kapitel noch einmal Wagners judenfeindlichen Schriften und seinen Judenfreundschaften gewidmet, wozu schon stapelweise Sekundärliteratur vorliegt. Aber Carr zeichnet knapp und genau die zeitpolitische Kurve nach von der 1850 noch anonym erschienenen Schrift "Das Judentum in der Musik" zur polemisch verschärften Wiederveröffentlichung 1869 und zeigt den wirtschaftspolitischen Kontext auf: das neu aufgelegte Judenemanzipationsgesetz, das gesteigerte Nationalgefühl, der sich ankündigende Börsencrash von 1873: "War der Meyerbeer-feindliche Wagner der fünfziger Jahre weitgehend ignoriert worden, so lag der antisemitische Wagner der siebziger und frühen achtziger Jahre immer mehr im Zug der Zeit - wenngleich nicht ganz in der Hauptströmung." Was nichts entschuldigt, aber einiges erklärt.
Mit der gleichen Akribie, oft gewürzt von mildem Spott, leuchtet Carr auch Nebenfiguren aus. Zeigt den geistigen Hintergrund von Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, der sich mit Cosima in der Rassenlehre so gut verstanden hat, verfolgt die Fäden des Strippenziehers Heinz Tietjen, der in Nazibayreuth zweifellos eine weit wichtigere Rolle spielte als "Onkel Wolf" (Adolf Hitler) und in den Winifred mindestens ebenso verliebt war. Von den Verletzungen und Affenlieben in den Kinderstuben ist die Rede, von den Konkurrenzen unter Brüdern und Schwestern, von der Kälte der Mütter, der Feigheit der Väter und viel von der unter den Tisch gefegten Schuld. Am Schluss fordert Carr, dass speziell diese Familie die Verpflichtung habe, in einer "neuen Ehrlichkeit" ihre letzten Leichen selbst aus dem Keller zu holen, die letzten Geheimarchive zu öffnen: vor allem das für die Nazizeit aufschlussreiche Konvolut von Aufzeichnungen Winifreds, das seit dreißig Jahren in München unter Verschluss liegt.
Erstveröffentlicht wurde diese Familienbiographie vor einem Jahr in England. Die vortreffliche Übersetzung, die viel angelsächsischen Witz ins Deutsche hinüberzuretten weiß, wurde ebenfalls abgeschlossen, als noch nicht absehbar war, dass ein Generationenwechsel in Bayreuth nun doch (eventuell) unmittelbar bevor steht. Carr schließt die Wagner-Akten also zu einem Zeitpunkt, als Gudrun Wagner noch lebt, Wolfgang Wagner noch nicht mit Tochter Eva versöhnt ist und Katharina Wagner gerade ihre Nachfolgekandidatur mit Thielemann bekanntgegeben hat. Erst kürzlich aber hat er sich journalistisch zu Wort gemeldet und erklärt, der neue Festspielleiter dürfe auf keinen Fall den Namen Wagner tragen: Weder Eva noch Katharina oder Nike wäre die richtige Lösung. Wenn einer, der die Familie Wagner so genau studiert hat, bei allen Sympathien für diese drei Wagner-Urenkelinnen am Ende dann doch zu diesem Ergebnis kommt, kann der Stiftungsrat, der am ersten September entscheiden muss, das nicht ignorieren.
"Und wie weiter?" heißt das letzte Kapitel. Diese Frage ist immer noch aktuell. Bei allem Ernst, der darin steckt, ist dieses Buch aber so flott und spottvoll geschrieben, dass es ein reines Lesevergnügen bereitet. Man erwischt sich, während man es verschlingt, immer wieder bei dem Gedanken: Wäre diese Anekdote nicht eine phantastische Opernszene? Eine prima Operettennummer? Der "Wagner Clan" - das Musical? Auch hier ist die Zeit hoffentlich bald reif.
ELEONORE BÜNING
Jonathan Carr: "Der Wagner-Clan". Geschichte
einer deutschen Familie. Aus dem Englischen von Hermann Kusterer. Hoffmann und
Campe Verlag, Hamburg 2008. 487 S., geb.,
Abb., 22,- [Euro].
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