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Produktdetails
  • Collection Folio
  • Verlag: Gallimard / Import
  • Seitenzahl: 338
  • Erscheinungstermin: Januar 2000
  • Französisch
  • Abmessung: 177mm x 111mm x 17mm
  • Gewicht: 172g
  • ISBN-13: 9782070408917
  • ISBN-10: 2070408914
  • Artikelnr.: 36089189
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000

Ich spreche mit der Luft
Weshalb der Semiologe Philippe Sollers den Spuren von Casanova nachspürte
Man sprach deutsch. Nur deutsch. Das war das Allerschlimmste. Der nunmehr zahnlos gewordene Liebesmund, das ihn heillos unterfordernde Tagwerk des Hofbibliothekars, ein Leben fernab der Metropolen samt ihrer grenzenlosen Lustbarkeiten – alles kleine Prüfungen seiner Leidensfähigkeit. Seine letzten Jahre auf Schloss Dux in der böhmischen Provinz waren für Giacomo Casanova vor allem ein einziger Mangel an feinsinnigem Gespräch und gutem Geschmack. Ausgerechnet das Genie der verbalen Umgarnung, der Mann, der die Frauen erst mit Worten kunstvoll zu lieben pflegte, bevor er sie dann zum Äußersten brachte, sollte im Abseits der Kultursprachen enden. Seine Grabtafel eine letzte Perfidie am Verblichenen: „Jakob Casanova” steht da allen Ernstes geschrieben.
Philippe Sollers’ Casanova-Buch ziert ein Foto des Autors vor nämlicher Inschrift. Da macht also jemand einen Spurengang, sucht die Orte eines Verehrten auf, weil er eine andere Geschichte bei ihm vermutet, eine Person unbehelligt von den gängigen Klischees in den Blick nehmen will. Casanovas manisch-mechanischer Frauenverschleiß zum Beispiel. „Man hat den Schriftsteller Casanova nicht gewollt: Man hat ihn zum Monster eines Spektakels gemacht und sich brennend bemüht, von ihm ein falsches Bild zu zeichnen. ” Hat diese Figur bei näherer Ansicht – und das heißt bei genauer Lektüre – mit dem libidinösen Hampelmann und Zwangskopulanten, wie ihn Fellini in seiner Filmgroteske vorführt, noch irgendwelche Ähnlichkeit? Nein, sagt Sollers, schließlich sei der venezianische Verführer doch das pure Gegenteil zu Don Juan, dem Machtmenschen, der die Frau bloß seinem infantilen Stolz opfert. Casanova ist der geborene Erotiker und Entdecker des fremden Körpers, der Lust, ein kleines Stückchen Ewigkeit, schenken will – welche Enttäuschung für ihn, bliebe eine Begegnung nur sein solitäres Vergnügen. Hier haben wir es nicht nur mit dem klassenlosen Liebhaber zu tun, der den Glanz einer Köchin genauso erkennt – und ihm huldigt – wie den einer edlen Contessa, sondern auch mit einem ausgesprochen bewussten Akteur: „Alles, was existiert, beschäftigt mich wegen des besonderen Anspruchs eines jeden Wesens” heißt es arg artig in Casanovas Rückschau.
Dabei war dieser Mann alles andere als unzeitgemäß, kein Probemensch einer nahenden neuen Epoche, bedeutete seinen Zeitgenossen nicht mal einen besonderen moralischen Affront. Ganz im Gegenteil: eine Rokoko-Figur par excellance, hedonistisch in jeder Pore, eine Augenblicksseele, welche all die Vorabende von 1789 in vollen Zügen zu genießen verstand. Ein Glücksritter auf der Reise durch eine bizarre Welt, wo Nonnen sich nächtens prostituieren, wo Diplomaten nur noch im Dienste ihrer Prosperität stehen und beiläufige Liebschaften sich nicht selten als der eigene Nachwuchs entpuppen. Wenn Venedig damals die hohe Schule für den allerfreiesten Blick aufs Leben, für eine lässig-gewitzte Urbanität war, dann hatte es in Casanova den unbestrittenen Meisterschüler.
Der Doktor der Rechte und Beinahe-Theologe lebte immer von fremder Gunst, machte das Günstlingsein geradezu zum System. Er hatte nie so etwas wie einen Beruf, selten, dass ihn eine konkrete Aufgabe länger fesselte als irgendeine seiner Amouren. Und trotzdem täte ihm das Etikett der klassischen Hofschranze Unrecht, schließlich war Casanova als Ästhet ein global player, überall respektiert ob seiner Manieren, seiner Bildung und Eloquenz – im Gespräch mit Voltaire oder der Pompadour, mit Benjamin Franklin oder dem alten Fritz.
Am Ende dann eine ganz neue Herausforderung – der Kampf mit der Langeweile. Kein Höllensturz wie Don Giovanni, kein Attentat eines Gehörnten, kein Opfergang zur Guillotine. Die Gönner sind dahingegangen bis auf jenen jungen Grafen Waldstein in der Diaspora, als dessen Papagei er, der sich einst selbst zum Chevalier de Seingalt adelte, nun sein Dasein fristet: Wenn schon nicht mehr die ganz große Bühne, dann wenigstens die Loge der Erinnerung. Casanova greift zur Feder – „um nicht verrückt zu werden oder vor Ärger zu sterben über die kleinen Schikanen und Unannehmlichkeiten, die mir die Schufte hier bereiten. Nur weil ich täglich zehn bis zwölf Stunden mit Schreiben verbringe, bin ich noch nicht vor Gram gestorben. ” Sich selbst erzählt er das Leben noch einmal, farbenreich, schonungslos ehrlich, historisch präzise, um sich zu unterhalten und die Geistlosigkeit seiner Umgebung so wenigstens etwas leichter zu ertragen. An eine Öffentlichkeit denkt er beim Abfassen seiner Memoiren nicht.
Die Fama des Unersättlichen hängt ganz eng mit den Interessen all der Verleger zusammen, welche die mehreren tausend Seiten der Histoire de ma vie marktgerecht zu flotten, frivolen Abenteuerheftchen zusammenkürzten und verfälschten. Vierzig Jahre ist es gerade her, dass die Originalfassung in voller Länge vorgelegt wurde. Diesen riesigen Text hat Philippe Sollers, der Meister der Körper-Schriften, studiert, er nahm ihn mit auf Wanderungen durch Casanovas Städte und Stätten, fand dabei zurück zu eigenen Theorien und Erinnerungen, kapriziert sich gelegentlich als Wiedergänger. Entstanden ist ein Amalgam aus Essay und Liebesbrief, Biografie und Selbstgespräch, Werkanalyse und Collage. Sollers liest das Werk als Protokoll eines Weisen, dem all seine Abenteuer – selbst die schmerzhaften, demütigenden wie die fünfzehnmonatige Kerkerhaft in den Bleikammern oder das Fiasko mit der Kurtisane Charpillon – ein Fest sind und der von früh an dem Roman gewachsen zu sein scheint, den das Leben schreibt, nicht wir. „Wenn ich mich an die vergangenen Vergnügungen erinnere, erlebe ich sie von neuem, ich genieße sie ein zweites Mal. Ich lache über die Mühen, die ich erlitten habe und die ich nicht mehr verspüre. Als Teil des Universums – so spreche ich mit der Luft. ”
MARTIN SCHERER
PHILIPPE SOLLERS: Casanova. Aus dem Französischen von Angelika Schneeberger-Chmelar. Agenda Verlag, Münster 2000. 176 Seiten, 29,80 Mark.
Ach, Elbe . . . Mit einem Blick in die Tiefe fängt es an – die Quelle, mit Steinen eingefasst, diffuses, nebeliges Licht. Fluss durch die Zeit nennt Jörn Vanhöfen seine Bilderreise, die schließlich in Cuxhaven endet, mit dem Blick aufs Meer, wo die Formen zerflossen sind, nichts geblieben ist als das Wasser, die Weite. Die Vergangenheit kann auch Jens Sparschuh nicht mehr fassen, der eine Einleitung schrieb – „Ach, Elbe, du meine Verflossene! Am ehesten gleicht dir wohl ein Bild, das unaufhörlich entsteht. Und zerfließt. ” Was weiter bleibt, ist das Licht, das späte, vor der Hofkirche in Dresden. (Die Elbe. Texte Jens Sparschuh, Walter Kempowski. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2000. 120 Seiten, 49,90 Mark. )
 Foto: Verlag
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