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Produktdetails
  • Steidl Taschenbücher
  • Verlag: Steidl
  • Seitenzahl: 240
  • Abmessung: 180mm
  • Gewicht: 212g
  • ISBN-13: 9783882437119
  • Artikelnr.: 08614087
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.1997

Schlicht darf es nicht sein, aber Tinnef
Bloß nicht dazugehören: Paul Fussells Statussymbol ist die Pointe / Von Hans Ulrich Gumbrecht

Manche mögen es ja für überflüssig halten, aber manchmal muß man doch daran erinnern, daß "Moralistik" als Name für einen literarischen Diskurs fast nichts zu tun hat mit "Moral" und den Problemen des ethisch gerechtfertigten Handelns. La Bruyère und La Rochefoucauld, Gracián, Mercier und wohl auch Georg Simmel und Thomas Mann haben die Sitten in den Gesellschaften verschiedener Epochen und verschiedener Nationen beschrieben, und es gehört zum literarischen Reiz ihrer moralistischen Texte, daß sie vorgeben, dies aus der Distanz von Beobachtern zu tun, denen an einer Veränderung der sozialen Formen nicht - oder nicht mehr - gelegen ist. Paul Fussell, emeritierter Professor für englische Literatur an der University of Pennsylvania, gilt zu Recht als einer der großen amerikanischen Moralisten des späten zwanzigsten Jahrhunderts.

Bevor der Leser Fussells Talente als Moralist genießen kann, muß er sich allerdings nicht nur durch das denkbar überflüssige Vorwort von Thomas Duerr hindurchquälen, sondern auch durch die ersten zwei Kapitel, denen Duerr wohl einige seiner Inspirationen verdankt. Darin türmt Fussell ein aus gleich neun Ebenen bestehendes Modell gesellschaftlicher Hierarchie auf, zu dem er eigensinnig immer wieder gerade dann zurückkehrt, wenn der Leser hofft, es sei nun endlich vergessen. Dieses Modell ist so beliebig wie die meisten Schemata seiner Art; es hat nicht einmal jenen Heiligenschein historischer Interpretationen, wie er etwa die klassisch marxistischen Klassenbegriffe umgibt. Im einzelnen unterscheidet Fussell Unsichtbare ganz oben, Oberschicht, obere Mitte; Mittelschicht, obere Unterschicht, mittlere Unterschicht, untere Unterschicht, Mittellose und Unsichtbare ganz unten. Es kann keinem Leserzweifel unterliegen, daß seine Sympathie (und seine Bewunderung) ebenso den "Unsichtbaren ganz oben" gehört wie den "Unsichtbaren ganz unten" - doch die Pointe einer soziologischen Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Gruppen sticht wohl kaum. Wie sollte denn die Konvergenz zwischen denen, die unabhängig sind, weil sie nichts mehr zu verlieren haben, und jenen, die unabhängig sind, weil sie es sich leisten können, fast beliebig viel von ihrem unendlichen Reichtum und ihrem Ansehen zu verlieren, auch mehr sein als ein nicht einmal rhetorisch besonders reizvolles Spiel mit Begriffen?

Man kann nicht umhin, Paul Fussell eine unglückliche Liebe zu großen und ernstgemeinten Thesen zu attestieren, was um so bedauerlicher ist, als er sich am anderen Ende seines Themenspektrums, im Spiel mit Details des gesellschaftlichen Lebens, als ein ganz vorzüglicher Moralist erweist. Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, warum die auf beliebige Kopfgrößen einstellbaren Plastikbänder an der Hinterseite von Baseball-Kappen so ärgerlich sind? Weil sie Ihnen sagen, spekuliert Fussell, daß Ihr individueller Kopf dem Hersteller nicht wichtig genug ist für die Produktion einer angemessenen Größe - oder gar einer Sondergröße. Haben Sie schon einmal getestet, was passiert, wenn Sie in einem Trendrestaurant ausdrücklich darauf bestehen, daß der von Ihnen bestellte Wein nicht trocken sein soll? Fussell weiß, daß der Kellner Sie von diesem Moment an entweder als Proleten ansehen und behandeln wird oder - eher mit einer Geste des Protests als in der Folge eines Mißverständnisses - nun ganz besonders trockenen Wein einschenkt. Niemand beschreibt besser als Fussell die Tragikomödie des bei Abendessen-Einladungen unter Gebildeten heute entfalteten Koch- und Eleganzaufwands, und die Akribie, mit der er immer wieder den Unsinn des Werbens mit "limitierten Auflagen" - von Dalí-Drucken, Manufaktur-Tellern, Hummel-Figuren oder Cowboy-Gürteln - berechnet, hat etwas Ansteckendes. Von Fussell wird man endlich ermutigt zu glauben, daß eingestickte Initialen auch auf teuren Hemden (nicht nur auf Sofakissen) ein Zeichen schlechten Geschmacks sind - und, was ja noch viel verdienstvoller ist, daß die Überzeugung, Arbeit sei durch den Einsatz von Personalcomputern zu rationalisieren oder gar qualitativ zu verbessern, nichts als ein besonders weit verbreiteter Irrglaube der heutigen Mittelklassen ist.

Viele seiner Beobachtungen beziehen sich selbstredend auf Phänomene, die deutschen Lesern weniger vertraut sind - und das kann ihnen durchaus ein gewisses ethnologisches Flair geben. In immer neuen Variationen beschreibt Fussell zum Beispiel die Rituale tiefster Bewunderung und Verehrung, welche kulturell ambitionierte Amerikaner aller Provinzen dem blasierten Magazin "The New Yorker" entgegenbringen, und er kontrastiert dieses Gehabe mit den eher politisch korrekten Funktionen der Zeitschrift "National Geographic" (die man auch ab und an in deutschen Studienratshaushalten antrifft). Brillant ist seine These, daß der Stolz auf das College oder die Universität, deren Namen Amerikaner im Rückfenster ihrer Autos führen, ein bedingungsloser, beinahe qualitätsunabhängiger und allgemein respektierter Stolz ist, während Amerikaner kaum je Embleme ihrer Lieblingsmannschaft oder ihrer religiösen Gemeinschaft an Stoßstangen oder Autoscheiben anbringen.

Einen Höhepunkt an Alteritätserfahrung bieten für jeden deutschen Leser Fussells Beobachtungen zur Auswahl von Automarken in der amerikanischen Oberschicht: "Wem es sein Kontostand, seine Unabhängigkeit und seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Urteil der Mitwelt erlauben, sich jedes beliebige Auto zu kaufen, der kauft sich das gewöhnlichste und simpelste Modell, um auf diese Weise darzutun, daß er so ein käufliches und mithin billiges Statussymbol verachtet. Der Wagen darf sauber sein, obwohl sich ein sanfter Hauch von Verschmutzung besser macht. Auf jeden Fall aber muß er reizlos sein. Der nächstbeste Kauf wäre ein ,guter' Wagen, zum Beispiel ein Jaguar oder ein BMW, der aber auf jeden Fall alt und abgenutzt sein muß. Verboten sind Rolls-Royce und Cadillac, streng verboten aber ist ein Mercedes - die Sorte Auto, die von Zahnärzten in Beverly Hills und den Ministern afrikanischer Zwergstaaten gefahren werden."

Hat Fussell recht mit seinen Thesen? Gibt es denn wirklich keine Oberschicht-Amerikaner, die sich einen - fabrikneuen - Mercedes anschaffen? Natürlich hat er nicht ganz recht, so wie er sich auch beinahe gefährlich weit ins Terrain des politisch Unkorrekten wagt mit der Spekulation, daß Schwule vom sozialen Aufstieg in ebenso elegante wie spirituelle Abendgesellschaften träumen, während umgekehrt sozialer Abstieg die Utopie der Lesben sei - mit dem unüberbietbaren Höhepunkt einer Brotzeit auf der Baustelle im blauen Overall. Natürlich könnte ihn ein Soziologe wie Bourdieu fast immer eines anderen und Differenzierteren belehren. Aber macht es nicht gerade die Faszination der Gattung "Moralistik" aus, daß Detailbeobachtungen auf überzogene Pauschalthesen hochgerechnet werden, welche in ihrem absichtsvollen Schematismus die je beschriebenen Gesellschaften aussehen lassen wie wohlfunktionierende gigantische Maschinen? Nicht zufällig lag ja der historische Höhepunkt der Moralistik im siebzehnten Jahrhundert, dessen Phantasie so sehr von Mechanik, Maschinen und Automaten besetzt war. Und daß man als Leser ab und an zusammenzuckt, weil man sein eigenes Verhalten und seine eigenen Träume als Elemente in der Moralistik-Maschine entdeckt, ist Teil eines Reizes, welcher durch die Unverschämtheit der moralistischen Thesen erst ermöglicht und beständig verstärkt wird.

Wie es zum literarhistorischen Wissen gehört, daß die Texte aller großen Moralisten der Vergangenheit von bestimmten Erfahrungen und Enttäuschungen - meist Enttäuschungen über die Umformung einer vertrauten Welt - motiviert waren, so wissen die Leser der Moralisten auch, daß ihre Autoren solche Motivlagen selten anders als implizit erwähnen. Fussell hingegen geht in den beiden abschließenden Kapiteln seines Buches so sehr in die vollen eines moralisierenden und autobiographischen Tons, daß man zunächst fast glauben möchte, es handle sich um eine Parodie. Aus dem Winkel eines behäbigen Kulturpessimismus geißelt er da eine angeblich in der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft fortschreitende "Proletarisierung" - und beruft sich nicht zufällig auf Ortega y Gassets beinahe siebzig Jahre nach seinem Erscheinen immer noch berüchtigtes Buch "Der Aufstand der Massen".

Am Ende bleibt dem Leser nicht einmal die Belehrung erspart, daß ein "Ausweg" aus all diesem gesellschaftlichen Elend der "Typ X" sei - und das ist tatsächlich der kulturbeflissene, sich zum einsamen Exzentriker stilisierende Normal-Nonkonformist aus der Generation der Studentenrevolte. Ihm setzt Fussell in den sein Buch beschließenden Klassenzugehörigkeits-Ratespielen ein höchst peinliches Denkmal: Zu welcher sozialen Gruppe, wird gefragt, gehört "eine Professorin für Epigraphik des klassischen Altertums an einer großen, traditionsreichen Universität der Ostküste? Sie ist mittleren Alters und verbringt ihre Sommermonate bei Ausgrabungen in Anatolien, den Winter mit ihrem wesentlich jüngeren Liebhaber im Bett. Ihre Mutter war Aufseherin in einem Frauengefängnis, ihr Vater Lehrer für Basteln und Werken an einer High School. Beide Eltern waren eifrige Kirchgänger." Die Auflösung des Rätsels lautet: "Offensichtlich Kategorie X, wodurch der familiäre Hintergrund bedeutungslos wird - er sollte nur zur Irreführung dienen."

Paul Fussell: "Cashmere, Cocktail, Cadillac". Ein Wegweiser durch das amerikanische Statussystem. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Steidl Verlag, Göttingen 1997. 242 S., geb., 34,- DM.

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