Der Physik-Doktorand Casper lebt ein vorhersehbares Leben. Täglich arbeitet er in einem Büro an seiner Dissertation, und auch seine Mitmenschen können ihn nicht überraschen. Kein Wunder, schließlich bastelt er seit seiner Kindheit an einer "Weltformel", mit der er alles voraussehen kann, was ihm
widerfahren wird und ergänzt diese Formel täglich in seinen Notizbüchern. Was macht man aber, wenn man…mehrDer Physik-Doktorand Casper lebt ein vorhersehbares Leben. Täglich arbeitet er in einem Büro an seiner Dissertation, und auch seine Mitmenschen können ihn nicht überraschen. Kein Wunder, schließlich bastelt er seit seiner Kindheit an einer "Weltformel", mit der er alles voraussehen kann, was ihm widerfahren wird und ergänzt diese Formel täglich in seinen Notizbüchern. Was macht man aber, wenn man keine Lust mehr hat auf diese Formel? Wenn man aus seinem alltäglichen Leben ausbrechen möchte? Ganz einfach, denkt sich Casper: "Ich mach einfach immer das Gegenteil von dem, was ich sonst machen würde." Und so setzt er sich nicht in den Zug, der ihn zu seiner Mutter nach München bringt, sondern fährt kurzerhand nach Budapest. Dort trifft er auf Ilona - und merkt, dass seine Formel an dieser Frau scheitert...
Victoria Graders Debütroman "Caspers Weltformel" ist einfach hinreißend - und der Beweis dafür, wie lebendig junge deutschsprachige Literatur sein kann. Mit Casper und Ilona hat Grader zwei wahrlich unvergessliche Charaktere geschaffen. Der weltfremde Casper, dem die meisten Menschen mit Unverständnis begegnen, setzt sich ständig für eine bessere Welt ein, nur um jedes Mal aufs Neue enttäuscht zu werden. Die chaotische und aufbrausende Ilona, die für ihre ärmliche Wohnung mit drei Monatsmieten im Rückstand ist, und trotzdem von einem reichen Prinzen träumt, der sie mit nach Istanbul nimmt, wirkt auf den ersten Blick wie Caspers komplettes Gegenteil. Dennoch entsteht zwischen den beiden ein fast magisches Verhältnis voller zärtlicher Momente und mindestens ebenso vielen Konflikten.
Es ist gerade das Gespür für die Figuren und die Empathie der Autorin mit den AußenseiterInnen dieser auf Konformität gebürsteten Gesellschaft, das "Caspers Weltformel" zu dieser großen Besonderheit macht. Insbesondere Hauptfigur Casper hat mich wirklich angerührt und dafür gesorgt, dass der Roman mich auch beschäftigte, wenn ich nicht in ihm las. Ich konnte mich mit zahlreichen seiner skurrilen Eigenschaften identifizieren. Diese Empathie für die Figuren beschränkt sich glücklicherweise nicht auf die beiden ProtagonistInnen, so dass "Caspers Weltformel" bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein, darunter vor allem Lastwagenfahrer János, liebevoll stimmig wirkt.
Auf der Handlungsebene beschränkt sich die erste Hälfte vornehmlich damit, wie Casper in seinem neuen Leben in Budapest zurechtkommt, während das Erzähltempo vor allem im letzten Drittel ungemein zulegt, weil sich auch Caspers und Ilonas Leben aus Gründen, die ich nicht vorwegnehmen möchte, dramatisch ändert. In diesen Momenten nimmt der Roman Züge eines modernen Märchens an, das in einem feurig-furiosen Epilog seinen genialen und liebenswerten Höhepunkt findet.
So ist "Caspers Weltformel" für mich einer der ganz großen Höhepunkte des bisherigen Lesejahrs 2021 und der Beweis, dass es in der deutschsprachigen Literatur Zeit ist für neue Helden: für Casper, Ilona, aber auch für Victoria Grader, die bereits mit ihrem Debüt etwas Unvergessliches geschaffen hat.