Cassandra Darke ist eine Londoner Kunsthändlerin, eine egozentrische, kauzige alte Dame mit Wohnsitz im noblen Chelsea. Nachdem sie unautorisierte Kopien eines verstorbenen Künstlers verkauft hat, fliegen ihre krummen Geschäfte auf: Ihr Ruf und der ihrer Galerie sind ruiniert, doch ihre Überheblichkeit leidet nicht darunter. Als sie der Aktionskünstlerin Nicki für ein paar Monate Unterschlupf unter ihrem Dach gewährt, wird Cassandra nicht nur in einen Mordfall verwickelt, der sie aus ihrer elitären Enklave hinaus in düstere Londoner Gegenden führt, sondern muss auch einige schmerzliche Einsichten über sich selbst ertragen.Posy Simmonds verbindet gesellschaftskritisches Panorama, intergenerationale Komödie und psychologisches Porträt zu einer Comic, der seinem Medium zeichnerisch wie erzählerisch alle Ehre macht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.11.2019So finster ist London
„Cassandra Darke“ ist das bislang dunkelste Buch von Posy Simmonds. Frei nach Charles Dickens‘ „Christmas Carol“ erzählt
der Comic von einer egozentrischen alten Dame, einer Pistole im Wäschekorb und den sozialen Unterschieden in der Stadt
VON ALEXANDER MENDEN
Eine sympathische Protagonistin ist sie wirklich nicht, diese Cassandra Darke. Die Londoner Kunsthändlerin ist eine egozentrische, wenig empathische Dame, die nicht nur Familie und Angestellte gedankenlos bis herrisch behandelt, sondern auch vor Fälschung und Betrug nicht zurückschreckt, um sich zu bereichern.
Posy Simmonds, Grande Dame des britischen Comic-Romans, hat diese wenig liebenswerte Person zur titelgebenden Figur ihres jüngsten Buches gemacht. Doch eindimensionale Sympathieträger sind ohnehin nie ihre Sache gewesen. Zwölf Jahre sind seit der Veröffentlichung von „Tamara Drewe“ vergangen, Simmonds’ zeitgenössischer Version von Thomas Hardys „Am grünen Rand der Welt“. Wie jene kongeniale Nacherzählung und die Flaubert-Pastiche „Gemma Bovery“ hat auch ihre neue Graphic Novel eine literarische Vorlage – Charles Dickens’ „Christmas Carol“. Und wie bei dessen Antiheld Scrooge ist Cassandras Geldbesessenheit und beiläufige Verachtung ihrer Mitmenschen zur Weihnachtszeit eine treibende Kraft der Story. Cassandra geht etwa indigniert an in Hauseingängen unter Decken frierenden Jugendlichen und Obdachlosenzeitungsverkäufern vorbei und denkt: „Da muss sich der Staat drum kümmern.“
Aber Simmonds löst sich souverän von der Vorlage, indem sie vor dem Hintergrund der Vorweihnachtswochen 2016 und 2017 nicht nur erzählt, wie Cassandra nach einem Kunstfälschungsskandal ihr Vermögen verliert und Sozialstunden ableisten muss, sondern auch die Geschichte ihrer Nichte Nicki, einer frei flottierenden Performancekünstlerin, die eine Affäre mit Billy beginnt, einem jungen Mann aus einer Sozialsiedlung. Dessen kleinkriminellen Freunde werfen einen permanent bedrohlichen Schatten über die Erzählung, in der dann auch deutlich mehr latente und tatsächliche Gewalt im Spiel ist als in früheren Werken. Die Finsternis, die aus Cassandras Nachnamen spricht, durchdringt die Geschichte ebenso wie die zunehmend dunkle Palette der Bilder. Zugleich steckt in der Dynamik zwischen Tante Cassandra und Nichte Nicki auch einiges an – allerdings ebenfalls recht finsterem – komischem Potenzial, das sich unter anderem aus der unterschiedlichen Nutzung von Mobiltelefonen und sozialen Netzwerken ergibt. Nicki soll beim Junggesellenabschied einer Freundin als Mutprobe nach der Telefonnummer eines Mannes an der Bar fragen. Der stellt sich als extrem aggressiv heraus, sodass sie ihm kurzerhand nicht ihre eigene, sondern Cassandras Mobilnummer gibt. Diese erhält, nachdem Nicki sich ihm glücklich entzogen hat, Todesdrohungen und Penisbilder von dem Mann. Ein Freund beruhigt sie, so etwas sei heutzutage „ganz normal“. Nachdem die Tante in Nickis Wäschekorb eine Pistole entdeckt, entspinnt sich eine True-Crime-Story, die an die billig gemachten TV-Polizeidokus erinnert, die Cassandra gern abends sieht.
Posy Simmonds hat als Autorin und Zeichnerin schon immer die genaue Beobachtung und Wiedergabe eines bestimmten Nord-Londoner Milieus ausgezeichnet, einer zwischen Bürgerlichkeit und Bohème-Attitüde oszillierenden chattering class. In „Cassandra Darke“ sind nicht nur die mit Kunst vollgestopften Interieurs von Cassandras Galerie und Wohnung detailliert wiedergegeben, das winterliche London als Ganzes entsteht auf jeder Seite mit einer an Hogarth erinnernden Schärfe und Genauigkeit: Das beginnt bei einem ganzseitigen Wimmelbild, in dem das Gesicht jedes einzelnen Weihnachts-Shoppers auf Piccadilly erkennbar ist, und erstreckt sich bis zu den mit Müllcontainern zugestellten Hinterhöfen der Inner City. Der Kontrast zwischen der engen, niedrigen Einbauküche in der Sozialwohnung von Billys Mutter und der großbürgerlichen Küche einer Künstlerin mit ihren hängenden Gewürzsträußchen zeichnet die soziale Ungleichheit in der britischen Metropole nachvollziehbarer als jeder Essay. „Cassandra Darke“ ist das bisher dunkelste Buch von Posy Simmonds, gerade deshalb aber auch ein mehr als würdiger Nachfolger ihrer früheren Werke.
Posy Simmonds: Cassandra Darke.
Aus dem Englischen von Sven Scheer. Reprodukt, 2019. 96 Seiten, 24 Euro
Gesichter in der Menge: Auf dem Wimmelbild ist jeder einzelne Weihnachts-Shopper erkennbar.
Foto: Reprodukt
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„Cassandra Darke“ ist das bislang dunkelste Buch von Posy Simmonds. Frei nach Charles Dickens‘ „Christmas Carol“ erzählt
der Comic von einer egozentrischen alten Dame, einer Pistole im Wäschekorb und den sozialen Unterschieden in der Stadt
VON ALEXANDER MENDEN
Eine sympathische Protagonistin ist sie wirklich nicht, diese Cassandra Darke. Die Londoner Kunsthändlerin ist eine egozentrische, wenig empathische Dame, die nicht nur Familie und Angestellte gedankenlos bis herrisch behandelt, sondern auch vor Fälschung und Betrug nicht zurückschreckt, um sich zu bereichern.
Posy Simmonds, Grande Dame des britischen Comic-Romans, hat diese wenig liebenswerte Person zur titelgebenden Figur ihres jüngsten Buches gemacht. Doch eindimensionale Sympathieträger sind ohnehin nie ihre Sache gewesen. Zwölf Jahre sind seit der Veröffentlichung von „Tamara Drewe“ vergangen, Simmonds’ zeitgenössischer Version von Thomas Hardys „Am grünen Rand der Welt“. Wie jene kongeniale Nacherzählung und die Flaubert-Pastiche „Gemma Bovery“ hat auch ihre neue Graphic Novel eine literarische Vorlage – Charles Dickens’ „Christmas Carol“. Und wie bei dessen Antiheld Scrooge ist Cassandras Geldbesessenheit und beiläufige Verachtung ihrer Mitmenschen zur Weihnachtszeit eine treibende Kraft der Story. Cassandra geht etwa indigniert an in Hauseingängen unter Decken frierenden Jugendlichen und Obdachlosenzeitungsverkäufern vorbei und denkt: „Da muss sich der Staat drum kümmern.“
Aber Simmonds löst sich souverän von der Vorlage, indem sie vor dem Hintergrund der Vorweihnachtswochen 2016 und 2017 nicht nur erzählt, wie Cassandra nach einem Kunstfälschungsskandal ihr Vermögen verliert und Sozialstunden ableisten muss, sondern auch die Geschichte ihrer Nichte Nicki, einer frei flottierenden Performancekünstlerin, die eine Affäre mit Billy beginnt, einem jungen Mann aus einer Sozialsiedlung. Dessen kleinkriminellen Freunde werfen einen permanent bedrohlichen Schatten über die Erzählung, in der dann auch deutlich mehr latente und tatsächliche Gewalt im Spiel ist als in früheren Werken. Die Finsternis, die aus Cassandras Nachnamen spricht, durchdringt die Geschichte ebenso wie die zunehmend dunkle Palette der Bilder. Zugleich steckt in der Dynamik zwischen Tante Cassandra und Nichte Nicki auch einiges an – allerdings ebenfalls recht finsterem – komischem Potenzial, das sich unter anderem aus der unterschiedlichen Nutzung von Mobiltelefonen und sozialen Netzwerken ergibt. Nicki soll beim Junggesellenabschied einer Freundin als Mutprobe nach der Telefonnummer eines Mannes an der Bar fragen. Der stellt sich als extrem aggressiv heraus, sodass sie ihm kurzerhand nicht ihre eigene, sondern Cassandras Mobilnummer gibt. Diese erhält, nachdem Nicki sich ihm glücklich entzogen hat, Todesdrohungen und Penisbilder von dem Mann. Ein Freund beruhigt sie, so etwas sei heutzutage „ganz normal“. Nachdem die Tante in Nickis Wäschekorb eine Pistole entdeckt, entspinnt sich eine True-Crime-Story, die an die billig gemachten TV-Polizeidokus erinnert, die Cassandra gern abends sieht.
Posy Simmonds hat als Autorin und Zeichnerin schon immer die genaue Beobachtung und Wiedergabe eines bestimmten Nord-Londoner Milieus ausgezeichnet, einer zwischen Bürgerlichkeit und Bohème-Attitüde oszillierenden chattering class. In „Cassandra Darke“ sind nicht nur die mit Kunst vollgestopften Interieurs von Cassandras Galerie und Wohnung detailliert wiedergegeben, das winterliche London als Ganzes entsteht auf jeder Seite mit einer an Hogarth erinnernden Schärfe und Genauigkeit: Das beginnt bei einem ganzseitigen Wimmelbild, in dem das Gesicht jedes einzelnen Weihnachts-Shoppers auf Piccadilly erkennbar ist, und erstreckt sich bis zu den mit Müllcontainern zugestellten Hinterhöfen der Inner City. Der Kontrast zwischen der engen, niedrigen Einbauküche in der Sozialwohnung von Billys Mutter und der großbürgerlichen Küche einer Künstlerin mit ihren hängenden Gewürzsträußchen zeichnet die soziale Ungleichheit in der britischen Metropole nachvollziehbarer als jeder Essay. „Cassandra Darke“ ist das bisher dunkelste Buch von Posy Simmonds, gerade deshalb aber auch ein mehr als würdiger Nachfolger ihrer früheren Werke.
Posy Simmonds: Cassandra Darke.
Aus dem Englischen von Sven Scheer. Reprodukt, 2019. 96 Seiten, 24 Euro
Gesichter in der Menge: Auf dem Wimmelbild ist jeder einzelne Weihnachts-Shopper erkennbar.
Foto: Reprodukt
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