Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.12.2014Paris
blinzelt
Wieder da: Modianos
„Catherine, die kleine Tänzerin“
Wer eine Brille trägt wie Catherine und ihr Papa, müsste es eigentlich genauso machen wie die beiden, die ihre Brillen immer dann abnehmen, wenn ihnen die Konturen der Welt zu hart erscheinen. Denn das Flirren zwischen Traum und Wirklichkeit, das ist genau die richtige rezeptive Stimmung, um Patrick Modiano zu lesen, dessen Bücher stets einen Ausgleich herstellen von Innen und Außen, einen Zustand der Osmose. Catherines Papa liebt diesen Zustand, das Ungefähre, und man darf getrost sagen Dubiose. Da ist es eine hübsche Pointe, dass er ausgerechnet den französischen Namen Certitude, also Gewissheit angenommen hat. Ursprünglich trug er einen unaussprechlichen osteuropäischen Namen, und zeitweilig hatte er sich Albert genannt, da arbeitete er noch im Casino de Paris, wo er Catherines Mama kennenlernte.
Nach und nach zieht Modiano seiner von Sempé wunderbar duftig illustrierten Vater-Tochter-Geschichte den Boden unter den Füßen weg, ohne die Abgründe, die sich darunter auftun, auszuleuchten. Stattdessen lässt er die Dinge in der Schwebe – wie damals Certitude, als er im Cabaret die Tänzerinnen auf die Bühne trug, wie überhaupt Tänzer es tun, im Buch Sehnsuchtsgestalten der Anti-Gravitation, Catherine etwa und ihre Mama, die zurückgegangen ist nach Amerika, aus Heimweh, aber auch aus einem anderen, nicht näher benannten Grund. Was für ein Grund das gewesen sein könnte, ahnt der Leser, wenn er erfährt, dass Papa einen Kompagnon in seine Spedition aufnehmen musste, einen Mann, der ihm einmal aus einer „üblen Klemme“ geholfen hat. Die nächtlichen Lastwagen auf dem Hof verheißen nichts Gutes, ebenso wenig wie die Kisten mit Porzellan-Tänzerinnen, die beim Transport zerbrochen sind. Nach Feierabend klebt Certitude die Figuren wieder zusammen. Bricolage, das ist das Element dieses im Geschäft wie in der Liebe wenig soliden Mannes, dessen Maxime lautet: „Na, Leben, wie wär’s mit uns zweien?“
Einmal trägt Certitude seine Catherine durch die Avenue Trudaine. „Hab keine Angst, Catherine“, sagt er. „Ich lasse dich nicht fallen. . . Ich habe inzwischen Fortschritte gemacht . . .“ Zusammen tanzen sie durch die Straßen von Paris und blinzeln dem nächsten Abenteuer zu – über den Rand ihrer Brillen hinweg. Und nur wir Leser wissen, dass es in Wahrheit das kleine Mädchen ist, das ihren Papa durchs Leben trägt.
CHRISTOPHER SCHMIDT
Patrick Modiano, Jean-Jacques Sempé: Catherine, die kleine Tänzerin. Aus dem Französischen von Ingrid Altrichter. Diogenes2014. 80 S., 14,90 Euro.
„Wir gehen nach Amerika, meine Tochter und ich. Und du wirst sehen, Catherine . . . Wir werden in Amerika sehr glücklich sein.“ Illustration aus Patrick Modiano, Jean-Jacques Sempé: Catherine, die kleine Tänzerin
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blinzelt
Wieder da: Modianos
„Catherine, die kleine Tänzerin“
Wer eine Brille trägt wie Catherine und ihr Papa, müsste es eigentlich genauso machen wie die beiden, die ihre Brillen immer dann abnehmen, wenn ihnen die Konturen der Welt zu hart erscheinen. Denn das Flirren zwischen Traum und Wirklichkeit, das ist genau die richtige rezeptive Stimmung, um Patrick Modiano zu lesen, dessen Bücher stets einen Ausgleich herstellen von Innen und Außen, einen Zustand der Osmose. Catherines Papa liebt diesen Zustand, das Ungefähre, und man darf getrost sagen Dubiose. Da ist es eine hübsche Pointe, dass er ausgerechnet den französischen Namen Certitude, also Gewissheit angenommen hat. Ursprünglich trug er einen unaussprechlichen osteuropäischen Namen, und zeitweilig hatte er sich Albert genannt, da arbeitete er noch im Casino de Paris, wo er Catherines Mama kennenlernte.
Nach und nach zieht Modiano seiner von Sempé wunderbar duftig illustrierten Vater-Tochter-Geschichte den Boden unter den Füßen weg, ohne die Abgründe, die sich darunter auftun, auszuleuchten. Stattdessen lässt er die Dinge in der Schwebe – wie damals Certitude, als er im Cabaret die Tänzerinnen auf die Bühne trug, wie überhaupt Tänzer es tun, im Buch Sehnsuchtsgestalten der Anti-Gravitation, Catherine etwa und ihre Mama, die zurückgegangen ist nach Amerika, aus Heimweh, aber auch aus einem anderen, nicht näher benannten Grund. Was für ein Grund das gewesen sein könnte, ahnt der Leser, wenn er erfährt, dass Papa einen Kompagnon in seine Spedition aufnehmen musste, einen Mann, der ihm einmal aus einer „üblen Klemme“ geholfen hat. Die nächtlichen Lastwagen auf dem Hof verheißen nichts Gutes, ebenso wenig wie die Kisten mit Porzellan-Tänzerinnen, die beim Transport zerbrochen sind. Nach Feierabend klebt Certitude die Figuren wieder zusammen. Bricolage, das ist das Element dieses im Geschäft wie in der Liebe wenig soliden Mannes, dessen Maxime lautet: „Na, Leben, wie wär’s mit uns zweien?“
Einmal trägt Certitude seine Catherine durch die Avenue Trudaine. „Hab keine Angst, Catherine“, sagt er. „Ich lasse dich nicht fallen. . . Ich habe inzwischen Fortschritte gemacht . . .“ Zusammen tanzen sie durch die Straßen von Paris und blinzeln dem nächsten Abenteuer zu – über den Rand ihrer Brillen hinweg. Und nur wir Leser wissen, dass es in Wahrheit das kleine Mädchen ist, das ihren Papa durchs Leben trägt.
CHRISTOPHER SCHMIDT
Patrick Modiano, Jean-Jacques Sempé: Catherine, die kleine Tänzerin. Aus dem Französischen von Ingrid Altrichter. Diogenes2014. 80 S., 14,90 Euro.
„Wir gehen nach Amerika, meine Tochter und ich. Und du wirst sehen, Catherine . . . Wir werden in Amerika sehr glücklich sein.“ Illustration aus Patrick Modiano, Jean-Jacques Sempé: Catherine, die kleine Tänzerin
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