Younes wird 1930 in Algerien geboren und wird als Jugendlicher von einer schrecklichen Familientragödie eingeholt. Khadra erzählt von Jonas chaotischen Lebenslauf, der das erschütternde Schicksal der Bewohner des kolonialen Algeriens in eindrucksvollen Bildern wiedererzählt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2010Wenn die Hunde Trauer tragen
Sarg oder Koffer: Yasmina Khadra wendet sich in seinem neuen Roman der eigenen Heimat Algerien zu
Die Chance zum Glück kommt nicht zweimal: Wer sie nicht erfasst, wird das Unglück nicht mehr los. So könnte man die jüngsten Bücher dieses Meistererzählers zeitgenössischer Weltkrisenherde umschreiben. Das Unheil kann einmalig kommen als Katastrophe oder als lebenslänglicher Schmerz, Reue, Nostalgie oder "Nostalgérie", wie in diesem Buch. Nach dem Nahen Osten mit "Die Attentäterin", dem Irak mit "Die Sirenen von Bagdad" und Afghanistan mit "Die Schwalben von Kabul" wendet der algerische Autor sich diesmal dem eigenen Land zu. Da es hier aber nicht um einen plötzlich ausbrechenden Konflikt geht, sondern um eine über Jahrzehnte sich hinziehende Entgleisung, musste Khadra seine Erzähltechnik vom politischen Thriller auf Epochendarstellung umstellen, mit gemischtem Erfolg.
Im Algerien des entlegenen Bauerndorfs, wo zu Beginn des Buchs ein Familienvater auf einem Steinhaufen hockt und in die kurze Glückserwartung seines reifen Kornfelds staunt, sitzt die Idee von der politischen Unabhängigkeit noch nicht einmal in den Köpfen der Menschen. Das Elend folgt so sicher auf das flüchtige Glück wie die Müdigkeit auf die Knochenarbeit - und beide sind gottgewollt. Wenn es den kleinen Younes also mit seinen Eltern vom Dorf in ein Elendsviertel der Küstenstadt Oran verschlägt, ist das Unheil zunächst ein Schicksalsschlag. Politisch wird es erst, wenn der Kleine bei seinem Onkel landet, einem angesehenen Apotheker, der Gandura und Turban mit einem westlichen Anzug vertauscht hat und mit einer Algerienfranzösin verheiratet ist. Bei ihm gehen manchmal weither gereiste Leute ein und aus, Araber und Berber, die zigarettenrauchend von einem "anderen" Algerien sprechen.
Younes, aus dem in der Adoptivfamilie und in der französischen Schule ein Jonas geworden ist, wird sich zwischen dem "einen" und dem "anderen" Algerien aufreiben. Er ist noch ein Kind, wenn im fernen Europa der Zweite Weltkrieg ausbricht. In der gespannten Lage wird aber sein Onkel verhaftet und kommt gebrochen aus dem Verhör zurück, weil er unter der Folter seine Freunde verraten hat. Die Familie übersiedelt vom stolzen Oran ins Europäerstädtchen Río Salado, wo Einheimische allenfalls als Dienstpersonal im Stadtbild erscheinen und als "faule Araber" beschimpft werden. Dennoch wächst Younes, alias Jonas, mit seinen jüdischen, französischen, spanischen Kameraden in eine dauerhafte Freundschaft hinein und übernimmt nach dem Tod seines Onkels selbst die Apotheke. Eher unfreiwillig gerät er dann in den Unabhängigkeitskrieg hinein. "Du tust mir leid", empört sich ein Unabhängigkeitskämpfer, "man muss schon ein kläglicher Wicht sein, um den Hauch der Geschichte so wenig zu spüren." Was der junge Mann dann sehr deutlich zu spüren bekommt, ist die Vereinsamung nach dem Triumph der Unabhängigkeit seines Landes Algerien. "Sarg oder Koffer", hieß die Alternative für die Fremden, auch wenn sie seit Generationen da lebten. Ein trotz brutaler Kolonialherrschaft lebendig gebliebener Traum des Zusammenlebens ging zu Ende. Besonders schmerzlich wurde die Sache für Younes, weil auch eine uneingelöste Liebe zur Jugendfreundin Émilie davon betroffen war. Zur Ruhe kommt diese Liebe zwischen dem Araberkind Younes und der jüdisch verheirateten Französin Émilie erst ein halbes Jahrhundert später an deren Grab in Südfrankreich.
Mit der Melancholie dieser in die Romanhandlung eingeflochtenen Liebesgeschichte beweist der Autor aufs Neue seine Meisterschaft, politische Kontexte in persönlichen Schicksalen aufleuchten zu lassen. Weniger gut beherrscht er den Panoramablick des Epochenromans. Wo das Kriegsgrollen der deutschen Panzer in Nordfrankreich oder die Freudenrufe über die alliierte Landung in Nordafrika die französisch-algerische Alltagsroutine dumpf erschüttern sollte, entstehen konstruierte Klischees. Khadra meistert vorzüglich, was er im Fokus hat. Im Aufzoomen hingegen zeigt er sich hilflos. So muss man eine mühsam vorankommende erste Romanhälfte ertragen, bevor mit dem Unabhängigkeitskrieg das Geschehen in Fahrt kommt und die Figuren Profil gewinnen. Mit der knappen Beschreibung der hinter den Gartentoren verwirrt herumlaufenden Hunde etwa vermag der Autor das ganze Drama der nach der Unabhängigkeit überstürzt aus Algerien abgereisten Franzosen deutlich zu machen.
Schon für ihre Trauer behilft er sich aber wieder mit dem bloßen Mithören der Tresengespräche. "Wir führen hier ein heimatloses Leben", jammern nach einigen geleerten Weinflaschen die Freunde. "Und ich führe drüben ein Leben ohne Freunde", antwortet der angereiste Younes. Die Zechgesellen sind Greise: "Wer achtzig ist, hat die Zukunft hinter sich." In der Zerrissenheit dieser Generation hält Khadras Roman inne. Regina Keil-Sagawe hat ihn sorgfältig und treffsicher übersetzt. Was der Tag im Halbschatten der Geschichte der Nacht sonst noch schuldet, müssen wir uns selbst ausdenken.
JOSEPH HANIMANN
Yasmina Khadra: "Die Schuld des Tages an die Nacht". Roman. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Ullstein Verlag, Berlin 2010. 414 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sarg oder Koffer: Yasmina Khadra wendet sich in seinem neuen Roman der eigenen Heimat Algerien zu
Die Chance zum Glück kommt nicht zweimal: Wer sie nicht erfasst, wird das Unglück nicht mehr los. So könnte man die jüngsten Bücher dieses Meistererzählers zeitgenössischer Weltkrisenherde umschreiben. Das Unheil kann einmalig kommen als Katastrophe oder als lebenslänglicher Schmerz, Reue, Nostalgie oder "Nostalgérie", wie in diesem Buch. Nach dem Nahen Osten mit "Die Attentäterin", dem Irak mit "Die Sirenen von Bagdad" und Afghanistan mit "Die Schwalben von Kabul" wendet der algerische Autor sich diesmal dem eigenen Land zu. Da es hier aber nicht um einen plötzlich ausbrechenden Konflikt geht, sondern um eine über Jahrzehnte sich hinziehende Entgleisung, musste Khadra seine Erzähltechnik vom politischen Thriller auf Epochendarstellung umstellen, mit gemischtem Erfolg.
Im Algerien des entlegenen Bauerndorfs, wo zu Beginn des Buchs ein Familienvater auf einem Steinhaufen hockt und in die kurze Glückserwartung seines reifen Kornfelds staunt, sitzt die Idee von der politischen Unabhängigkeit noch nicht einmal in den Köpfen der Menschen. Das Elend folgt so sicher auf das flüchtige Glück wie die Müdigkeit auf die Knochenarbeit - und beide sind gottgewollt. Wenn es den kleinen Younes also mit seinen Eltern vom Dorf in ein Elendsviertel der Küstenstadt Oran verschlägt, ist das Unheil zunächst ein Schicksalsschlag. Politisch wird es erst, wenn der Kleine bei seinem Onkel landet, einem angesehenen Apotheker, der Gandura und Turban mit einem westlichen Anzug vertauscht hat und mit einer Algerienfranzösin verheiratet ist. Bei ihm gehen manchmal weither gereiste Leute ein und aus, Araber und Berber, die zigarettenrauchend von einem "anderen" Algerien sprechen.
Younes, aus dem in der Adoptivfamilie und in der französischen Schule ein Jonas geworden ist, wird sich zwischen dem "einen" und dem "anderen" Algerien aufreiben. Er ist noch ein Kind, wenn im fernen Europa der Zweite Weltkrieg ausbricht. In der gespannten Lage wird aber sein Onkel verhaftet und kommt gebrochen aus dem Verhör zurück, weil er unter der Folter seine Freunde verraten hat. Die Familie übersiedelt vom stolzen Oran ins Europäerstädtchen Río Salado, wo Einheimische allenfalls als Dienstpersonal im Stadtbild erscheinen und als "faule Araber" beschimpft werden. Dennoch wächst Younes, alias Jonas, mit seinen jüdischen, französischen, spanischen Kameraden in eine dauerhafte Freundschaft hinein und übernimmt nach dem Tod seines Onkels selbst die Apotheke. Eher unfreiwillig gerät er dann in den Unabhängigkeitskrieg hinein. "Du tust mir leid", empört sich ein Unabhängigkeitskämpfer, "man muss schon ein kläglicher Wicht sein, um den Hauch der Geschichte so wenig zu spüren." Was der junge Mann dann sehr deutlich zu spüren bekommt, ist die Vereinsamung nach dem Triumph der Unabhängigkeit seines Landes Algerien. "Sarg oder Koffer", hieß die Alternative für die Fremden, auch wenn sie seit Generationen da lebten. Ein trotz brutaler Kolonialherrschaft lebendig gebliebener Traum des Zusammenlebens ging zu Ende. Besonders schmerzlich wurde die Sache für Younes, weil auch eine uneingelöste Liebe zur Jugendfreundin Émilie davon betroffen war. Zur Ruhe kommt diese Liebe zwischen dem Araberkind Younes und der jüdisch verheirateten Französin Émilie erst ein halbes Jahrhundert später an deren Grab in Südfrankreich.
Mit der Melancholie dieser in die Romanhandlung eingeflochtenen Liebesgeschichte beweist der Autor aufs Neue seine Meisterschaft, politische Kontexte in persönlichen Schicksalen aufleuchten zu lassen. Weniger gut beherrscht er den Panoramablick des Epochenromans. Wo das Kriegsgrollen der deutschen Panzer in Nordfrankreich oder die Freudenrufe über die alliierte Landung in Nordafrika die französisch-algerische Alltagsroutine dumpf erschüttern sollte, entstehen konstruierte Klischees. Khadra meistert vorzüglich, was er im Fokus hat. Im Aufzoomen hingegen zeigt er sich hilflos. So muss man eine mühsam vorankommende erste Romanhälfte ertragen, bevor mit dem Unabhängigkeitskrieg das Geschehen in Fahrt kommt und die Figuren Profil gewinnen. Mit der knappen Beschreibung der hinter den Gartentoren verwirrt herumlaufenden Hunde etwa vermag der Autor das ganze Drama der nach der Unabhängigkeit überstürzt aus Algerien abgereisten Franzosen deutlich zu machen.
Schon für ihre Trauer behilft er sich aber wieder mit dem bloßen Mithören der Tresengespräche. "Wir führen hier ein heimatloses Leben", jammern nach einigen geleerten Weinflaschen die Freunde. "Und ich führe drüben ein Leben ohne Freunde", antwortet der angereiste Younes. Die Zechgesellen sind Greise: "Wer achtzig ist, hat die Zukunft hinter sich." In der Zerrissenheit dieser Generation hält Khadras Roman inne. Regina Keil-Sagawe hat ihn sorgfältig und treffsicher übersetzt. Was der Tag im Halbschatten der Geschichte der Nacht sonst noch schuldet, müssen wir uns selbst ausdenken.
JOSEPH HANIMANN
Yasmina Khadra: "Die Schuld des Tages an die Nacht". Roman. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Ullstein Verlag, Berlin 2010. 414 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main