Celine - 16 Jahre alt, intelligent, respektlos, phantasievoll und unausstehlich - hadert mit sich, mit ihren Eltern, mit der Schule und mit unerwünschten Verehrern, genaugenommen mit der ganzen Welt. Dabei will sie doch gar nicht viel, nur akzeptiert werden, wie sie ist, und das Chaos begreifen, das die Erwachsenen um sie herum veranstalten. Und ausgerechnet sie fordern von ihr Reife. Doch eines steht fest: so reif wie die Erwachsenen möchte Celine nie werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.1996Schwindende Fluchtwege
Unausstehlich liebenswert - eine Jugend in Amerika
Schulaufgaben gehören zu den Schattenseiten im Leben Heranwachsender. Besonders, wenn eine Nachbesserung ansteht, wie im Fall der sechzehnjährigen Celine. Sie wird von ihrem Lehrer nicht zu Unrecht verdächtigt, ihre Arbeit in den Werbepausen von "Miami Vice" verfaßt zu haben. Eigentlich könnte sich die Schülerin dennoch glücklich schätzen. Immerhin darf sie sich über eine Ikone unter den Adoleszenzromanen, den "Fänger im Roggen", Gedanken machen. An dieser Aufgabe erkennt man den liberal gesinnten Lehrer, der sich nicht darum schert, was mancherorts in den Vereinigten Staaten bereits auf dem Index steht, und sich darüber hinaus bemüht, im Unterricht an die schwierige Lebensphase seiner Zöglinge anzuknüpfen, also Lebensnähe herzustellen. Doch Celine ist es peinlich, die offenkundigen Identifikationsbestrebungen ihres Erziehers mit dem Helden des Romans, Holden Caulfield, mitzuerleben. Lakonisch stellt sie fest, Mr. Carruthers sei Holden Caulfield, obgleich doch eher Pickel als welke, absackende Haut unter traurigen blauen Augen zu adoleszenten Problemen paßten. Doch daß fortgeschrittenes Lebensalter nicht gleichbedeutend mit Reife ist,weiß Celine längst. Mit einer gewissen Lebenserfahrung gelingt es ihr, eine verzweifelte Lehrerin in ihrem Liebeskummer zu trösten oder als Stichwortgeberin für eine aus gleichen Gründen verzagende, nach Worten ringende Nachbarin aufzutreten. Daß der Liebeskummer beider Frauen demselben Mann gilt und dieser wiederum auch Celine nicht gleichgültig ist, ist nur eine der vielen generationsübergreifenden Verstrickungen in diesem Roman.
Celine selbst erinnert in ihrer Altklugheit, Neugier und ihrem Witz an Holden Caulfields kleine Schwester Phoebe. Während ihre Altersgenossinnen ständig mit ihrem Aussehen beschäftigt sind, betrachtet sie den dafür erforderlichen Aufwand als Zeitverschwendung. Die in ihren künstlerischen Ambitionen glaubwürdig geschilderte junge Frau beobachtet lieber das Spiel von Kugel und Pfanne im Schultergelenk ihrer Stiefmutter oder verleiht sich in einem Selbstporträt versuchsweise monsterhafte Züge. Als Scheidungskind hat Celine schon einiges erlebt und muß sich nun mit ihrer nur sechs Jahre älteren Stiefmutter Catherine in einer Dachwohnung in Chicago arrangieren. Ihr Vater hält Vorträge in Europa, die leibliche Mutter ist nach Südamerika verschwunden, nachdem sie wieder einmal festgestellt hat, "so könne sie nicht mehr weiterleben". Daß damit auch sie selbst gemeint ist, mag sich die sonst so wache Celine nicht recht eingestehen. Zu dieser bitteren Erkenntnis verhilft ihr schließlich Jakob, der sechsjährige Sohn der sich gerade von ihrem Mann trennenden Nachbarin. Umgekehrt klärt Celine ihn darüber auf, daß Leute, die kommen, um ihre Sachen zu holen, wie es sein Vater gerade tut, "auf einem Umweg zu ihrem Anwalt sind". Während einer Woche finden die beiden zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen, in der die Rollen des Beschützers und Beschützten keineswegs festgelegt sind. Gemeinsam verbringen sie manche Stunde im Großstadtappartement und zappen auf der Suche nach Erkenntnis durch die Welt des Fernsehens. Zwar, so erläutert Celine dem naiven Zuschauer Jakob, soll man dem Medium durchaus skeptisch begegnen, doch als Informationsquelle und Deutungslieferant sei es unerläßlich, zumal die ständig herumeilenden Eltern kaum gefragt werden können.
So setzt es manchen Hieb auf den modernen Erziehungsalltag und die zweifelhaften Umtriebe einer modernen "Patchworkfamilie". Von eindeutigen Schuldzuweisungen kann in diesem Roman allerdings kaum die Rede sein; ebensowenig läßt sich der Autor als puritanisch gesinnter Familienideologe festmachen.
Celine ist in vielerlei Hinsicht eine außergewöhnliche Figur, die den Leser durch ihre unbedingte Zuwendung zum Leben einnimmt. Kein Zweifel, Brock Cole entwirft mit seiner clownesken Protagonistin ein Gegenbild zu all jenen männlichen, aber auch weiblichen Romanhelden, die der Versuchung anheimfallen, in Seelenkummer zu versinken. Bleibt zu hoffen, daß die heimkehrenden Erwachsenen irgendwann nicht nur das Problem der Reife erkennen, das Celine so umreißt: "Die Anzahl der Fluchtwege wird immer kleiner." Die daraus folgenden Auseinandersetzungen bergen nämlich auch Chancen.
Schade, daß der Autor erst nach einigen Dutzend Seiten seine erzählerische Begabung entfaltet; bedauerlich auch die nicht nur zu Beginn schwache Übersetzung. Nachfolgende Auflagen, die dem Roman dennoch zu wünschen sind, sollten unbedingt sorgfältiger lektoriert werden.
MYRIAM MIELES.
Brock Cole: "Celine oder Welche Farbe hat das Leben". Aus dem Englischen übersetzt von Sybil Gräfin Schönfeldt. Hanser Verlag, München 1996. 222 S., geb., 25,- DM. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unausstehlich liebenswert - eine Jugend in Amerika
Schulaufgaben gehören zu den Schattenseiten im Leben Heranwachsender. Besonders, wenn eine Nachbesserung ansteht, wie im Fall der sechzehnjährigen Celine. Sie wird von ihrem Lehrer nicht zu Unrecht verdächtigt, ihre Arbeit in den Werbepausen von "Miami Vice" verfaßt zu haben. Eigentlich könnte sich die Schülerin dennoch glücklich schätzen. Immerhin darf sie sich über eine Ikone unter den Adoleszenzromanen, den "Fänger im Roggen", Gedanken machen. An dieser Aufgabe erkennt man den liberal gesinnten Lehrer, der sich nicht darum schert, was mancherorts in den Vereinigten Staaten bereits auf dem Index steht, und sich darüber hinaus bemüht, im Unterricht an die schwierige Lebensphase seiner Zöglinge anzuknüpfen, also Lebensnähe herzustellen. Doch Celine ist es peinlich, die offenkundigen Identifikationsbestrebungen ihres Erziehers mit dem Helden des Romans, Holden Caulfield, mitzuerleben. Lakonisch stellt sie fest, Mr. Carruthers sei Holden Caulfield, obgleich doch eher Pickel als welke, absackende Haut unter traurigen blauen Augen zu adoleszenten Problemen paßten. Doch daß fortgeschrittenes Lebensalter nicht gleichbedeutend mit Reife ist,weiß Celine längst. Mit einer gewissen Lebenserfahrung gelingt es ihr, eine verzweifelte Lehrerin in ihrem Liebeskummer zu trösten oder als Stichwortgeberin für eine aus gleichen Gründen verzagende, nach Worten ringende Nachbarin aufzutreten. Daß der Liebeskummer beider Frauen demselben Mann gilt und dieser wiederum auch Celine nicht gleichgültig ist, ist nur eine der vielen generationsübergreifenden Verstrickungen in diesem Roman.
Celine selbst erinnert in ihrer Altklugheit, Neugier und ihrem Witz an Holden Caulfields kleine Schwester Phoebe. Während ihre Altersgenossinnen ständig mit ihrem Aussehen beschäftigt sind, betrachtet sie den dafür erforderlichen Aufwand als Zeitverschwendung. Die in ihren künstlerischen Ambitionen glaubwürdig geschilderte junge Frau beobachtet lieber das Spiel von Kugel und Pfanne im Schultergelenk ihrer Stiefmutter oder verleiht sich in einem Selbstporträt versuchsweise monsterhafte Züge. Als Scheidungskind hat Celine schon einiges erlebt und muß sich nun mit ihrer nur sechs Jahre älteren Stiefmutter Catherine in einer Dachwohnung in Chicago arrangieren. Ihr Vater hält Vorträge in Europa, die leibliche Mutter ist nach Südamerika verschwunden, nachdem sie wieder einmal festgestellt hat, "so könne sie nicht mehr weiterleben". Daß damit auch sie selbst gemeint ist, mag sich die sonst so wache Celine nicht recht eingestehen. Zu dieser bitteren Erkenntnis verhilft ihr schließlich Jakob, der sechsjährige Sohn der sich gerade von ihrem Mann trennenden Nachbarin. Umgekehrt klärt Celine ihn darüber auf, daß Leute, die kommen, um ihre Sachen zu holen, wie es sein Vater gerade tut, "auf einem Umweg zu ihrem Anwalt sind". Während einer Woche finden die beiden zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen, in der die Rollen des Beschützers und Beschützten keineswegs festgelegt sind. Gemeinsam verbringen sie manche Stunde im Großstadtappartement und zappen auf der Suche nach Erkenntnis durch die Welt des Fernsehens. Zwar, so erläutert Celine dem naiven Zuschauer Jakob, soll man dem Medium durchaus skeptisch begegnen, doch als Informationsquelle und Deutungslieferant sei es unerläßlich, zumal die ständig herumeilenden Eltern kaum gefragt werden können.
So setzt es manchen Hieb auf den modernen Erziehungsalltag und die zweifelhaften Umtriebe einer modernen "Patchworkfamilie". Von eindeutigen Schuldzuweisungen kann in diesem Roman allerdings kaum die Rede sein; ebensowenig läßt sich der Autor als puritanisch gesinnter Familienideologe festmachen.
Celine ist in vielerlei Hinsicht eine außergewöhnliche Figur, die den Leser durch ihre unbedingte Zuwendung zum Leben einnimmt. Kein Zweifel, Brock Cole entwirft mit seiner clownesken Protagonistin ein Gegenbild zu all jenen männlichen, aber auch weiblichen Romanhelden, die der Versuchung anheimfallen, in Seelenkummer zu versinken. Bleibt zu hoffen, daß die heimkehrenden Erwachsenen irgendwann nicht nur das Problem der Reife erkennen, das Celine so umreißt: "Die Anzahl der Fluchtwege wird immer kleiner." Die daraus folgenden Auseinandersetzungen bergen nämlich auch Chancen.
Schade, daß der Autor erst nach einigen Dutzend Seiten seine erzählerische Begabung entfaltet; bedauerlich auch die nicht nur zu Beginn schwache Übersetzung. Nachfolgende Auflagen, die dem Roman dennoch zu wünschen sind, sollten unbedingt sorgfältiger lektoriert werden.
MYRIAM MIELES.
Brock Cole: "Celine oder Welche Farbe hat das Leben". Aus dem Englischen übersetzt von Sybil Gräfin Schönfeldt. Hanser Verlag, München 1996. 222 S., geb., 25,- DM. Ab 14 J.
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