Im April 1945, kurz vor dem Einmarsch britischer Truppen, geriet in Celle ein Zug mit KZ-Häftlingen in einen amerikanischen Bombenangriff. Viele Häftlinge kamen dabei ums Leben, weitere wurden später im Verlauf von Hetzjagden und Massakern ermordet. 1947 machten die Briten einigen Direkttätern aus Celle den Prozess. Auf breiter Quellengrundlage untersucht Bernhard Strebel die dramatischen Ereignisse erstmals systematisch und nimmt dabei auch die Vor- und Nachgeschichten in den Blick. Bisherige Darstellungen korrigiert er in zentralen Punkten und zum Teil grundlegend. Die Studie wirft neues Licht auf das dunkelste Kapitel der Celler Stadtgeschichte und liefert einen Beitrag zur Erforschung der NS-Verbrechen in der Endphase des Zweiten Weltkrieges.
Celles dunkelstes Kapitel: Hetzjagd auf KZ-HäftlingeHistoriker analysiert die Folgen eines Bombenangriffs 1945Auch wenn die Aktenlage äußerst lückenhaft ist und es kaum noch auskunftsbereite Zeitzeugen gibt - was der hannoversche Historiker Bernhard Strebel jetzt über die tragischen Folgen eines Bombenangriffs der US-Luftwaffe am 8. April 1945 auf den Celler Güterbahnhof herausgefunden hat, ist einzigartig in der Landesgeschichte und mit dem Begriff "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" eher zurückhaltend beschrieben. Die in drei Wellen abgeworfenen Bomben trafen einen in Celle haltenden Zug, der etwa 3420 KZ-Häftlinge aus Salzgitter in Richtung Norden transportierte. In den überfüllten Güterwaggons starben mindestens 200, eventuell sogar 500 Häftlinge. Außerdem kamen 38 Angehörige der Wachmannschaft und 122 Zivilisten aus Celle ums Leben. Die verletzten Häftlinge blieben weitgehend unversorgt, etwa 30 von ihnen wurden im Pferdestall einer Celler Kaserne eingesperrt.Was sich nach dem Bombenangriff ereignete, wird in Celle mit dem Stichwort "Hasenjagd" umschrieben. Überlebende aus dem zerstörten Zug flüchteten in Richtung Westen und versteckten sich dort in den Wäldern. Einige Zwangsarbeiter warfen ihre gestreifte Häftlingskleidung weg und schlüpften in Anzüge, die sie in zerbombten Häusern fanden oder die sie von Cellern erbettelten. Die Wehrmacht und die Celler Polizei wollten die Flucht der KZ-Häftlinge unbedingt verhindern obwohl der Krieg längst seine allerletzte Phase erreicht hatte. Angehörige des Volkssturms und der Hitlerjugend, Polizisten, Soldaten, Feuerwehrmänner sowie Celler Bürger nahmen zum Teil freiwillig die Verfolgung auf und trieben Flüchtige zusammen. Hemmungslos wurde dabei auf wehrlose Menschen geschossen, in einigen Fällen aus nächster Nähe und auch auf Sterbende. Strebel schreibt: "Die Zahl der bei Hetzjagden und Massakern getöteten Häftlinge betrug mindestens 170." Bis zu 2500 marschfähige Häftlinge wurden am 9. April 1945 von der SS nach Bergen-Belsen getrieben, wo viele von ihnen im überfüllten KZ starben.So grausam die Ereignisse in den letzten Kriegstagen in Celle waren, so unzureichend blieb die juristische Aufarbeitung der verübten Straftaten. Die Befehlsgeber wurden nie angeklagt. Nur 13 "Direkttäter", schreibt Strebel, mussten sich vor einem britischen Gericht, im sogenannten Celle Massacre Trial, verantworten. Sieben Angeklagte erklärten sich für schuldig. Im Mai 1948 ging der Prozess zu Ende mit vielen Freisprüchen, zwei Todesurteilen und einer Haftstrafe von zehn Jahren Dauer. Die Todesurteile wurden kurze Zeit später in Haftstrafen umgewandelt. Anfang der fünfziger Jahre schon konnten alle verurteilten Täter die Gefängnisse verlassen. Spätere Versuche, weitere Beteiligte an der Hetzjagd vor Gericht zu stellen, schlugen fehl, weil Belastungszeugen nicht zu ermitteln waren und in Celle eine Mauer des Schweigens aufgebaut wurde.Klaus von der Brelie, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 2.1.2009