Der Bericht einer abenteuerlichen Flucht voller Schrecken und Komik
Teffy (1872-1952) war die berühmteste Satirikerin des Zarenreichs. Sie verkehrte in den exklusivsten Salons und saß mit Rasputin an einem Tisch. 1918 brach sie aus dem hungernden Moskau zu einer Lesereise nach Kiew auf. In Wirklichkeit jedoch floh sie wie andere Aristokraten, Künstler und gutbetuchte Bürger vor den Bolschewiki. Es wird eine Reise voller Gefahren für Leib und Leben und ein Abschied für immer.
Eine grandiose Trouvaille in deutscher Erstübersetzung.
Teffy (1872-1952) war die berühmteste Satirikerin des Zarenreichs. Sie verkehrte in den exklusivsten Salons und saß mit Rasputin an einem Tisch. 1918 brach sie aus dem hungernden Moskau zu einer Lesereise nach Kiew auf. In Wirklichkeit jedoch floh sie wie andere Aristokraten, Künstler und gutbetuchte Bürger vor den Bolschewiki. Es wird eine Reise voller Gefahren für Leib und Leben und ein Abschied für immer.
Eine grandiose Trouvaille in deutscher Erstübersetzung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2014Muss man im Krieg zum Friseur?
Das Memoir der russischen Satirikerin Teffy macht aus dem Terror der Bolschewiki einen grotesken Witz. Und beantwortet dabei die Frage, die heute so aktuell ist wie schon vor einhundert Jahren: Wie lebt man im Krieg?
Gestern war das Leben normal. Kinder sind in die Schule gegangen, Studenten zu Vorlesungen, glückliche Ehepaare ins Theater, unglückliche Frauen und Männer zu ihren Geliebten. Und dann kam der Krieg. Überall Krieg. Das sieht man jeden Tag im Fernsehen, liest es in den Zeitungen, hört es im Radio. Dazu, wie ferngelenkt, immer die gleiche Betroffenheitspose: Ja, alles ganz schrecklich, ja, einfach nur furchtbar, das denken und schreiben und sagen dann alle. Und trotzdem kann man es überhaupt nicht begreifen, wie es ist, in einem Krieg leben zu müssen; wie es sich anfühlt, wenn das eigene Leben so radikal, so plötzlich verrutscht.
Durch Gewalt anderer entstellt und verschoben ist auch das Leben von Nadeshda "Teffy" Lochwizkaja, das sie in ihrem Memoir "Champagner aus Teetassen" beschreibt. Ihre Geschichte beginnt mit dem brutalen, einfachen Satz: "Mein Petersburger Dasein war liquidiert." Es ist Krieg, und "jeder, der kann, geht in die Ukraine". "Jeder" sind nicht die russischen Soldaten, die sich blöderweise verirren und seit Monaten schon die Ostukraine zerstören. Es sind Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller. Denn es ist 1918. Der Zar ist entmachtet. Die Bolschewiki haben Petersburg eingenommen, erschießen auf offener Straße Menschen, weil sie "verdächtig" sind oder "konterrevolutionär" oder einfach nur einen schönen Pelzmantel tragen, nach dem sich irgendein böses bolschewistisches Herz immer schon sehnte. Es gibt kein Essen, keinen Alkohol, die Geschäfte sind leer.
Mitten in diesem Chaos lebt Nadeshda "Teffy" Lochwizkaja. Sie ist die russische Dorothy Parker, die bekannteste Satirikerin ihres Landes. Und sie beschließt zu gehen, nur auf eine kurze Lesereise in die Ukraine, nur für einige Wochen. Sie wird von dieser Reise nicht zurückkehren.
Die außergewöhnliche, adlige Nadeshda Lochwizkaja wird 1872 in Petersburg geboren. Ihre Biographie ein Klischee: höhere Ausbildung, höhere Hochzeit, Umzug aufs Landgut, drei Kinder - das normale Leben einer normalen russischen Adligen. Doch dann verlässt Lochwizkaja ihren Mann und die Kinder und zieht mit 28 Jahren alleine nach St. Petersburg, um Schriftstellerin zu werden. Sie erfindet das Pseudonym "Teffy" und beerdigt mit den fünf Buchstaben alles Vergangene. Über ihren Ex-Mann, über ihre Kinder wird sie nie ein Wort schreiben. Das Leben als Ehefrau und Mutter ist vorbei.
In Petersburg wird Teffy als Schriftstellerin so erfolgreich, dass ein Parfum nach ihr benannt und in ganz Russland Konfekt mit ihrem Konterfei verkauft wird. Sie ist schön und begehrt, und das weiß sie auch. Einmal sagt sie zu einer Freundin: "Ich könnte einer Frau den Mann stehlen, aber nie ein Buch!"
Doch bald gibt es kaum noch fremde Männer zum Stehlen, weil es kaum Empfänge mehr gibt, keinen Champagner, keine Salons. Der rote Terror ist in das Land eingezogen. Ihr Impresario überredet Teffy zu einer Lesereise, die eigentlich eine Flucht ist, das aber begreift die Schriftstellerin erst viel später. Kurz vor dieser Reise beginnt Teffys außergewöhnliches, kluges Memoir. Außergewöhnlich und klug, weil "Champagner aus Teetassen" aus dem Krieg immer wieder einen grotesken Witz macht. Die Grausamkeiten kommen so unerwartet wie die Pointen. Doch über den Krieg kann niemand lachen. Außer Teffy vielleicht. Deshalb versteckt sie in ihren schnellen, brillanten Dialogen die eigentliche Tragik immer wieder in Komik. So wie im kurzen Gespräch mit ihrem Impresario darüber, wie und wer es geschafft hat, etwas über die Grenze zu schmuggeln:
"Haben Sie gehört? Die Prokins haben ihr gesamtes Vermögen rübergebracht. Sie haben es um ihre Großmutter gewickelt."
"Und warum wurde die Großmutter nicht durchsucht?"
"Wo denken Sie hin! Sie ist eine so unangenehme Person. Wer würde das wagen!"
Mit drei Bekannten und ihrem Impresario fährt Teffy in Richtung Kiew. Die Ukraine ist damals seit kurzer Zeit autonom. Zuerst wird die Rote Armee das eigene Land zerstören, im eigenen Volk herummorden, bevor sie später auch Kiew besetzt. Das ahnt Teffy aber noch nicht. Auch weiß sie nicht, dass ihre Reise nicht wie geplant verlaufen wird. Und das, obwohl die Schriftstellerin zuvor sogar einen bolschewistischen Kommissar mit ihrem Charme bestochen hatte, der aber kein Mensch war, "sondern eine Nase in Stiefeln. Eine riesige Nase auf zwei Beinen. In einem Bein saß vermutlich das Herz, im anderen fand die Verdauung statt."
Ihre starken, immer leicht schiefen, literarischen Beobachtungen sind der Grund, warum man fast jeden Satz aus diesem Memoir sofort zitieren will, auswendig lernen, Freunden aufsagen. Doch dazu bleibt keine Zeit, weil man nicht aufhören kann weiterzulesen.
Und mit jeder Seite rücken die Grausamkeiten des Bürgerkriegs näher an Teffy heran. Sie aber erlebt den Schrecken nicht mehr als Schrecken, sondern als Alltag: "Tote! Verwundete! Wie sehr wir uns an diese Worte gewöhnt hatten. Sie entsetzten niemanden mehr, niemand rief: ,Wie schrecklich! Was für ein Unglück!'"
Mit sehr vielen Bestechungsgeldern und noch mehr Glück kommt Teffy schließlich in die Ukraine. Und auf einmal wird das Leben wieder normal, doch das normale Leben ist Teffy - nach allem, was sie erlebte - zuerst irrsinnig fremd. Selbst eine einfache Tafel Schokolade schafft es, die Satirikerin zu überraschen: "Wie erstaunlich das Leben sein kann: Da spaziert jemand die Straße entlang, hat Lust auf Schokolade, geht in einen Laden. Ist das nicht komisch?"
In Kiew ist Teffys Leben eine riesige Party, denn dort ist halb Petersburg. Sie schreibt, geht ins Theater und tanzt. Bis dann die Kanonen vor der Stadt donnern. Teffy flieht weiter nach Odessa, wo wieder die Kiewer Party herrscht, weil wieder halb Petersburg da ist. Und nicht nur halb Petersburg, mittlerweile fliehen Russen aus allen Städten nach Odessa. Weil man Künstler bei Ausreisegenehmigungen bevorzugt, werden Kindermädchen Balletttänzerinnen, Handwerker Opernsänger und Köche Schauspieler. "Das russische Volk ist wahrhaft talentiert!"
Doch auch in Odessa endet die Party sehr bald. Auf den Straßen sind Lenins Spione unterwegs, die Stadt leert sich langsam. Dass die Bolschewiki und andere brutale Banditentruppen vor Odessa stehen, erklärt Teffy nur beiläufig, weil Gewalt für sie mittlerweile etwas Gewöhnliches ist. Selten erwähnt sie die Verbrechen und Morde, beschreibt lieber den besonderen Alltag. So wie eine kleine Szene vor dem Friseursalon, aus dem eine Bekannte herausstürmt:
"Unerhört! Ich warte seit drei Stunden. Alle Friseursalons sind überfüllt. Haben Sie sich schon ondulieren lassen?", fragt sie.
"Nein", antwortet Teffy und die Bekannte darauf: "Worauf warten Sie noch? Die Bolschewiki rücken an, wir müssen weg. Wollen Sie etwa unfrisiert abreisen?"
Statt zum Friseur geht sie zu Bekannten, die die Schriftstellerin sofort ausfragen, wohin sie denn fliehen wird.
"Nirgendwohin. Ich bleibe in Odessa."
"Man wird Sie aufhängen."
"Das wäre allerdings recht trostlos."
Doch Teffy gelingen nicht nur solche grotesken und scharfen Dialoge, sie schafft es auch, Odessa zu verlassen, weiter zu reisen, noch mehr tragisch-komische Anekdoten zu erzählen - über die Flucht, über den Krieg, über sich selbst. Bis zum abrupten Ende des Memoirs, bei dem die Satirikerin ihren Witz schließlich doch verliert.
Teffys Flüchtlingsgeschichte, die 1931 auf Russisch erschien und erst jetzt auf Deutsch, ist heute noch immer so aktuell wie damals, weil "Champagner aus Teetassen" die wichtige Frage beantwortet, wie das Leben durch einen Krieg einfach verrutscht, wie sich dabei die Worte "normal" und "schrecklich" verschieben, weil Ausnahme zum Alltag wird und Alltag zur Ausnahme.
Ganz zu Anfang ihrer Erinnerungen vergleicht Teffy ihr Leben im Bürgerkrieg mit dem russischen Märchen vom bösen Drachen Gorynitsch, dem jedes Jahr vierundzwanzig Kinder geopfert werden müssen. "Man fragt sich vielleicht, wie die Menschen in diesem Märchen einfach weiterleben konnten, da sie doch wussten, dass Gorynitsch ihre besten Kinder auffressen würde." Und dann schreibt sie: "Der Mensch kann überall leben; ich habe selbst gesehen, wie ein Todeskandidat, den Matrosen zur Erschießung aufs Eis schleppten, über die Pfütze sprang, um keine nassen Füße zu bekommen. Er wollte diese letzten Schritte seines Lebens mit dem größtmöglichen Komfort zurücklegen. Genauso waren wir." Genauso war das Leben im Krieg. Und wahrscheinlich hat sich bis heute daran nichts geändert.
ANNA PRIZKAU
Teffy: "Champagner aus Teetassen". Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Aufbau, 285 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Memoir der russischen Satirikerin Teffy macht aus dem Terror der Bolschewiki einen grotesken Witz. Und beantwortet dabei die Frage, die heute so aktuell ist wie schon vor einhundert Jahren: Wie lebt man im Krieg?
Gestern war das Leben normal. Kinder sind in die Schule gegangen, Studenten zu Vorlesungen, glückliche Ehepaare ins Theater, unglückliche Frauen und Männer zu ihren Geliebten. Und dann kam der Krieg. Überall Krieg. Das sieht man jeden Tag im Fernsehen, liest es in den Zeitungen, hört es im Radio. Dazu, wie ferngelenkt, immer die gleiche Betroffenheitspose: Ja, alles ganz schrecklich, ja, einfach nur furchtbar, das denken und schreiben und sagen dann alle. Und trotzdem kann man es überhaupt nicht begreifen, wie es ist, in einem Krieg leben zu müssen; wie es sich anfühlt, wenn das eigene Leben so radikal, so plötzlich verrutscht.
Durch Gewalt anderer entstellt und verschoben ist auch das Leben von Nadeshda "Teffy" Lochwizkaja, das sie in ihrem Memoir "Champagner aus Teetassen" beschreibt. Ihre Geschichte beginnt mit dem brutalen, einfachen Satz: "Mein Petersburger Dasein war liquidiert." Es ist Krieg, und "jeder, der kann, geht in die Ukraine". "Jeder" sind nicht die russischen Soldaten, die sich blöderweise verirren und seit Monaten schon die Ostukraine zerstören. Es sind Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller. Denn es ist 1918. Der Zar ist entmachtet. Die Bolschewiki haben Petersburg eingenommen, erschießen auf offener Straße Menschen, weil sie "verdächtig" sind oder "konterrevolutionär" oder einfach nur einen schönen Pelzmantel tragen, nach dem sich irgendein böses bolschewistisches Herz immer schon sehnte. Es gibt kein Essen, keinen Alkohol, die Geschäfte sind leer.
Mitten in diesem Chaos lebt Nadeshda "Teffy" Lochwizkaja. Sie ist die russische Dorothy Parker, die bekannteste Satirikerin ihres Landes. Und sie beschließt zu gehen, nur auf eine kurze Lesereise in die Ukraine, nur für einige Wochen. Sie wird von dieser Reise nicht zurückkehren.
Die außergewöhnliche, adlige Nadeshda Lochwizkaja wird 1872 in Petersburg geboren. Ihre Biographie ein Klischee: höhere Ausbildung, höhere Hochzeit, Umzug aufs Landgut, drei Kinder - das normale Leben einer normalen russischen Adligen. Doch dann verlässt Lochwizkaja ihren Mann und die Kinder und zieht mit 28 Jahren alleine nach St. Petersburg, um Schriftstellerin zu werden. Sie erfindet das Pseudonym "Teffy" und beerdigt mit den fünf Buchstaben alles Vergangene. Über ihren Ex-Mann, über ihre Kinder wird sie nie ein Wort schreiben. Das Leben als Ehefrau und Mutter ist vorbei.
In Petersburg wird Teffy als Schriftstellerin so erfolgreich, dass ein Parfum nach ihr benannt und in ganz Russland Konfekt mit ihrem Konterfei verkauft wird. Sie ist schön und begehrt, und das weiß sie auch. Einmal sagt sie zu einer Freundin: "Ich könnte einer Frau den Mann stehlen, aber nie ein Buch!"
Doch bald gibt es kaum noch fremde Männer zum Stehlen, weil es kaum Empfänge mehr gibt, keinen Champagner, keine Salons. Der rote Terror ist in das Land eingezogen. Ihr Impresario überredet Teffy zu einer Lesereise, die eigentlich eine Flucht ist, das aber begreift die Schriftstellerin erst viel später. Kurz vor dieser Reise beginnt Teffys außergewöhnliches, kluges Memoir. Außergewöhnlich und klug, weil "Champagner aus Teetassen" aus dem Krieg immer wieder einen grotesken Witz macht. Die Grausamkeiten kommen so unerwartet wie die Pointen. Doch über den Krieg kann niemand lachen. Außer Teffy vielleicht. Deshalb versteckt sie in ihren schnellen, brillanten Dialogen die eigentliche Tragik immer wieder in Komik. So wie im kurzen Gespräch mit ihrem Impresario darüber, wie und wer es geschafft hat, etwas über die Grenze zu schmuggeln:
"Haben Sie gehört? Die Prokins haben ihr gesamtes Vermögen rübergebracht. Sie haben es um ihre Großmutter gewickelt."
"Und warum wurde die Großmutter nicht durchsucht?"
"Wo denken Sie hin! Sie ist eine so unangenehme Person. Wer würde das wagen!"
Mit drei Bekannten und ihrem Impresario fährt Teffy in Richtung Kiew. Die Ukraine ist damals seit kurzer Zeit autonom. Zuerst wird die Rote Armee das eigene Land zerstören, im eigenen Volk herummorden, bevor sie später auch Kiew besetzt. Das ahnt Teffy aber noch nicht. Auch weiß sie nicht, dass ihre Reise nicht wie geplant verlaufen wird. Und das, obwohl die Schriftstellerin zuvor sogar einen bolschewistischen Kommissar mit ihrem Charme bestochen hatte, der aber kein Mensch war, "sondern eine Nase in Stiefeln. Eine riesige Nase auf zwei Beinen. In einem Bein saß vermutlich das Herz, im anderen fand die Verdauung statt."
Ihre starken, immer leicht schiefen, literarischen Beobachtungen sind der Grund, warum man fast jeden Satz aus diesem Memoir sofort zitieren will, auswendig lernen, Freunden aufsagen. Doch dazu bleibt keine Zeit, weil man nicht aufhören kann weiterzulesen.
Und mit jeder Seite rücken die Grausamkeiten des Bürgerkriegs näher an Teffy heran. Sie aber erlebt den Schrecken nicht mehr als Schrecken, sondern als Alltag: "Tote! Verwundete! Wie sehr wir uns an diese Worte gewöhnt hatten. Sie entsetzten niemanden mehr, niemand rief: ,Wie schrecklich! Was für ein Unglück!'"
Mit sehr vielen Bestechungsgeldern und noch mehr Glück kommt Teffy schließlich in die Ukraine. Und auf einmal wird das Leben wieder normal, doch das normale Leben ist Teffy - nach allem, was sie erlebte - zuerst irrsinnig fremd. Selbst eine einfache Tafel Schokolade schafft es, die Satirikerin zu überraschen: "Wie erstaunlich das Leben sein kann: Da spaziert jemand die Straße entlang, hat Lust auf Schokolade, geht in einen Laden. Ist das nicht komisch?"
In Kiew ist Teffys Leben eine riesige Party, denn dort ist halb Petersburg. Sie schreibt, geht ins Theater und tanzt. Bis dann die Kanonen vor der Stadt donnern. Teffy flieht weiter nach Odessa, wo wieder die Kiewer Party herrscht, weil wieder halb Petersburg da ist. Und nicht nur halb Petersburg, mittlerweile fliehen Russen aus allen Städten nach Odessa. Weil man Künstler bei Ausreisegenehmigungen bevorzugt, werden Kindermädchen Balletttänzerinnen, Handwerker Opernsänger und Köche Schauspieler. "Das russische Volk ist wahrhaft talentiert!"
Doch auch in Odessa endet die Party sehr bald. Auf den Straßen sind Lenins Spione unterwegs, die Stadt leert sich langsam. Dass die Bolschewiki und andere brutale Banditentruppen vor Odessa stehen, erklärt Teffy nur beiläufig, weil Gewalt für sie mittlerweile etwas Gewöhnliches ist. Selten erwähnt sie die Verbrechen und Morde, beschreibt lieber den besonderen Alltag. So wie eine kleine Szene vor dem Friseursalon, aus dem eine Bekannte herausstürmt:
"Unerhört! Ich warte seit drei Stunden. Alle Friseursalons sind überfüllt. Haben Sie sich schon ondulieren lassen?", fragt sie.
"Nein", antwortet Teffy und die Bekannte darauf: "Worauf warten Sie noch? Die Bolschewiki rücken an, wir müssen weg. Wollen Sie etwa unfrisiert abreisen?"
Statt zum Friseur geht sie zu Bekannten, die die Schriftstellerin sofort ausfragen, wohin sie denn fliehen wird.
"Nirgendwohin. Ich bleibe in Odessa."
"Man wird Sie aufhängen."
"Das wäre allerdings recht trostlos."
Doch Teffy gelingen nicht nur solche grotesken und scharfen Dialoge, sie schafft es auch, Odessa zu verlassen, weiter zu reisen, noch mehr tragisch-komische Anekdoten zu erzählen - über die Flucht, über den Krieg, über sich selbst. Bis zum abrupten Ende des Memoirs, bei dem die Satirikerin ihren Witz schließlich doch verliert.
Teffys Flüchtlingsgeschichte, die 1931 auf Russisch erschien und erst jetzt auf Deutsch, ist heute noch immer so aktuell wie damals, weil "Champagner aus Teetassen" die wichtige Frage beantwortet, wie das Leben durch einen Krieg einfach verrutscht, wie sich dabei die Worte "normal" und "schrecklich" verschieben, weil Ausnahme zum Alltag wird und Alltag zur Ausnahme.
Ganz zu Anfang ihrer Erinnerungen vergleicht Teffy ihr Leben im Bürgerkrieg mit dem russischen Märchen vom bösen Drachen Gorynitsch, dem jedes Jahr vierundzwanzig Kinder geopfert werden müssen. "Man fragt sich vielleicht, wie die Menschen in diesem Märchen einfach weiterleben konnten, da sie doch wussten, dass Gorynitsch ihre besten Kinder auffressen würde." Und dann schreibt sie: "Der Mensch kann überall leben; ich habe selbst gesehen, wie ein Todeskandidat, den Matrosen zur Erschießung aufs Eis schleppten, über die Pfütze sprang, um keine nassen Füße zu bekommen. Er wollte diese letzten Schritte seines Lebens mit dem größtmöglichen Komfort zurücklegen. Genauso waren wir." Genauso war das Leben im Krieg. Und wahrscheinlich hat sich bis heute daran nichts geändert.
ANNA PRIZKAU
Teffy: "Champagner aus Teetassen". Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Aufbau, 285 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die Geschichte der Schauspielerin Nadeshda Alexandrowna Lochwitzkaja, alias Teffy, über ihre unfreiwillige Reise durch Russland und die Ukraine im Jahr 1919, liest Cornelia Geissler mit Gewinn. Das liegt am Scharfsinn und am Humor der Autorin, die hier über ihren Fall aus der Sicherheit bürgerlichen Komforts in die ungemütliche Wirklichkeit des Bürgerkriegs berichtet. Geissler gefällt die Lebendigkeit der Schilderungen und Dialoge und die Schärfe der Perspektive, die auch 90 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung offenbar nichts an Faszination eingebüßt haben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"[...] eine lesenswerte Entdeckung [...] " Karla Hielscher Karla Hielscher Deutschlandfunk 20150925