Jean-François Champollion ist eine der schillerndsten Figuren der europäischen Wissenschaftsgeschichte. Seine Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen steht für die triumphalen Erfolge der Philologie im 19. Jahrhundert. Die oft wiederholte Erzählung des Geniestreichs vergisst aber gern die erkenntnistheoretischen Bedingungen und die ideologischen Kämpfe, in denen dieser sich in Zeiten der Restauration bewährt und durchsetzt. Das Buch erzählt daher Einiges von dem, was die große Geschichte der Entzifferung erst ermöglicht - erkenntnistheoretisch, politisch und materiell. Champollions neues Verständnis des ägyptischen Altertums gehört dabei zum Anspruch der europäischen Moderne, Welt und Humanität im Sinne einer großen Fortschrittsgeschichte zu erfassen und in den europäische Metropolen zu zentrieren, und legt dabei gerade aufgrund seines Erfolges den Blick auf den Preis dieses Anspruchs frei: Die beschädigte Welt selbst stellt sich darin quer. Auch wenn er jetzt seinen fatalen Siegeszug erst richtig antritt, ist der imperiale Universalismus Europas doch von Anfang an auch in der Selbstwahrnehmung - jedenfalls seiner klugen Köpfe - vergiftet. Champollions Brief an den ägyptischen Vizekönig Mehmet Ali Pascha aus dem Jahr 1829, in dem er eine Reglementierung der Ausgrabungen fordert, ist in dieser Hinsicht aufschlussreich und hat in seiner historischen Komplexität wenig an Aktualität verloren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2013Ägypter verstehen
Die Entzifferung der Hieroglyphen durch Jean-François Champollion in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts war eines der ersten großen europäischen Wissenschaftsprojekte - und eine nicht zu unterschätzende Ernüchterung: Die lange gehegten, gern mit dem Versprechen uralter Weisheiten verknüpften Vorstellungen vom ganz anderen Schriftsystem der alten Ägypter lösten sich auf - die Texte waren schlicht zu lesen. Die Ägyptologie machte sich an eine belegbare Geschichte des Nillands und ließ eine Faszinationsgeschichte hinter sich zurück, der sie sich doch auch verdankte. Nicht alle wollten da folgen. Der Potsdamer Literaturwissenschaftler und Romanist Markus Messling lässt in seinem Bändchen über "Champollions Hieroglyphen" noch einmal die Auseinandersetzung zwischen Champollion und Gustav Seyferth Revue passieren. In ihr übernahm der Deutsche den Part des Gelehrten, der zwar einiges richtig vermuten mochte, aber im Ganzen immer noch von alten Spekulationen über die Hieroglyphen in Bann geschlagen war, mit welchen die moderne Philologie aufräumte. Messling schildert den Hintergrund dieser Debatte, das diplomatisch-wissenschaftliche Netzwerk der versuchten und gelingenden Allianzen, und führt an Champollion das aufklärerische Sendungsbewusstsein der neuen Wissenschaft vor, die Ägypten als "ersten Lehrer der Zivilisation" und Ursprungsort der europäischen Schriften ansah. Man ahnt, welcher gelehrte Wälzer daraus hätte werden können - und ist erst recht davon eingenommen, wie elegant der Autor mit knappem Raum auszukommen weiß. (Markus Messling: "Champollions Hieroglyphen". Philologie und Weltaneignung. Kadmos Kulturverlag, Berlin 2012. 160 S., geb., 19,90 [Euro].) hmay
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Entzifferung der Hieroglyphen durch Jean-François Champollion in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts war eines der ersten großen europäischen Wissenschaftsprojekte - und eine nicht zu unterschätzende Ernüchterung: Die lange gehegten, gern mit dem Versprechen uralter Weisheiten verknüpften Vorstellungen vom ganz anderen Schriftsystem der alten Ägypter lösten sich auf - die Texte waren schlicht zu lesen. Die Ägyptologie machte sich an eine belegbare Geschichte des Nillands und ließ eine Faszinationsgeschichte hinter sich zurück, der sie sich doch auch verdankte. Nicht alle wollten da folgen. Der Potsdamer Literaturwissenschaftler und Romanist Markus Messling lässt in seinem Bändchen über "Champollions Hieroglyphen" noch einmal die Auseinandersetzung zwischen Champollion und Gustav Seyferth Revue passieren. In ihr übernahm der Deutsche den Part des Gelehrten, der zwar einiges richtig vermuten mochte, aber im Ganzen immer noch von alten Spekulationen über die Hieroglyphen in Bann geschlagen war, mit welchen die moderne Philologie aufräumte. Messling schildert den Hintergrund dieser Debatte, das diplomatisch-wissenschaftliche Netzwerk der versuchten und gelingenden Allianzen, und führt an Champollion das aufklärerische Sendungsbewusstsein der neuen Wissenschaft vor, die Ägypten als "ersten Lehrer der Zivilisation" und Ursprungsort der europäischen Schriften ansah. Man ahnt, welcher gelehrte Wälzer daraus hätte werden können - und ist erst recht davon eingenommen, wie elegant der Autor mit knappem Raum auszukommen weiß. (Markus Messling: "Champollions Hieroglyphen". Philologie und Weltaneignung. Kadmos Kulturverlag, Berlin 2012. 160 S., geb., 19,90 [Euro].) hmay
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