Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.05.2014Flugzeug im Esszimmer
Ein Bildband über die Gestalterin Charlotte Perriand
Dass auch Möbel auf Diät gesetzt werden können, hat Charlotte Perriand bewiesen. 1926 entwarf die Französin für den Pariser Salon des artistes décorateurs ein Wohnzimmer, für das sie sich offenbar zum Ziel gesetzt hatte, so viele Schmuckelemente, unterschiedliche Muster, Stoffe und Formen wie möglich unterzubringen. Optisch ließ das die Messekoje explodieren. Nur zwei Jahre später gestaltete Perriand für den selben Salon dann ein Esszimmer, dem sie ein Radikalkur in puncto Form und Material verordnet hatte: Die Stühle scheinen auf Zehenspitzen zu balancieren, so schlank sind ihre gebogenen Stahlrohrbeine, der Tisch ist kaum mehr als eine dünne Linie, und auch sonst muss das Auge suchen, um an den spiegelglatten Oberflächen irgendwo hängen zu bleiben. Das silberglänzende Metall dürfte für damalige Betrachter in etwa so heimelig gewirkt haben wie ein Besuch im Krankenhaus.
„Ein Esszimmer für das Zeitalter der Flugzeuge, kurzen Haare, kurzen Röcke, Jazz und Cocktails“, schrieb ein damaliger Kritiker begeistert und verfasste damit einen Steckbrief für die Entwerferin gleich mit. Denn Charlotte Perriand (1903-1999) trug nicht nur einen der glamourösesten Kurzhaarschnitte überhaupt, sie begeisterte sich auch für die Erfindungen ihrer Zeit – vor allem, wenn sie Geschwindigkeit versprachen: Citroëns, Flugzeuge, neue Fahrräder. Und sie liebte das Reisen. Ihrer Mutter, die wie der Vater in Paris als Schneider arbeitete, schrieb sie, da war sie noch keine 20 Jahre alt: „Ich bin wie gemacht für das Reisen. Ich vergöttere es über alles, das Unerwartete.“
Kein Wunder, dass ein solches Leben auch Erstaunliches hervorbringt. Charlotte Perriands Werk entwickelte sich, nicht zuletzt durch ihre Reisen, die sie schon früh in die Sowjetunion, nach Japan und Brasilien führten, zu einem der spannendsten und vielseitigsten Beiträge in der Design- und Architektgeschichte des 20. Jahrhunderts. Der breiten Öffentlichkeit jedoch ist Perriands Bedeutung erst in den vergangenen Jahren durch Ausstellungen und Publikationen langsam bewusst geworden. Architektur und Design sind nach wie vor eine Männerdomäne, gerade in vorderster Reihe. Auch wohlverdienten Ruhm muss sich eine Frau dort hart erkämpfen.
Umso wichtiger, dass Jacques Barsac mit seinem dreiteiligen Werkverzeichnis über Charlotte Perriand, dessen erster Band (1903-1940) gerade erschienen ist, nun die besten Argumente liefert, warum wir es hier mit einer Großmeisterin des Gestaltens zu tun haben. Die englischsprachige Publikation mit berauschend schönem Bildmaterial von Barsac, der Perriand bei ihrer Autobiografie „A Life of Creation“ (2002) half, seitdem drei Bücher über sie verfasste und für das Werkverzeichnis den kompletten Nachlass aufgearbeitet hat, zeigt aber auch, warum Perriands Ansätze nichts an Aktualität verloren haben: ihre Arbeit mit neuen Materialen und klaren Formen. Ihr Wunsch, von regional traditioneller Architektur zu lernen. Aber auch ihr Vorsatz, kostengünstig zu entwerfen, und nur das, was wirklich notwendig ist. Nicht zu vergessen ihrDurchdringen des Raums. Gerade das hat ja der Pariserin die immer wichtiger werdende Fähigkeit gegeben, auf kleiner Fläche viel Platz zu schaffen. Der leidenschaftlichen Skifahrerin, die ihre ersten Lebensjahre beim Onkel auf dem Land verbracht hat, gelang das in mondänen Winterchalets genauso wie bei der kostengünstigen 14-Quadratmeter-Klause zum Wohnen.
Der Grund, warum Charlotte Perriand Jahrzehnte lang kaum als eigenständige Entwerferin wahrgenommen wurde, hat übrigens einen Namen: Le Corbusier. Zehn Jahre lang arbeitete sie als Büropartnerin mit ihm und seinem Cousin Pierre Jeanneret in der Rue de Sèvres. Sie war dort für Möbel und Ausstattung verantwortlich und goss die Moderne-Wünsche der beiden Architekten in Stuhl- und Sesselformat. Die Einrichtung der Villa La Roche stammt genauso von ihr wie die eingebauten Möbel der Villa Savoye. Damit entwarf Charlotte Perriand – sicherlich mit Einfluss ihrer Büropartner – das, was heute als Designikone gilt und dementsprechend teuer verkauft wird. Doch die mondäne Chaiselongue wurde als LC4 weltbekannt, der quadratische Sessel als LC2, der gepolsterte Stuhl als LC7. Le Corbusier hatte nach dem Krieg, als es zur Wiederauflage der Entwürfe kam, Perriands und Jeannerets Namen einfach gestrichen. Fürs Foto mag der Meister Charlotte Perriand die Gloriole gegönnt haben, wirklich strahlen aber durfte nur er.
LAURA WEISSMÜLLER
Jacques Barsac: Charlotte Perriand. Complete Works. Volume 1: 1903–1940. Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2014. 512 Seiten, 120 Euro.
Die anhaltende Verkanntheit
dieser Großmeisterin des Designs
hat einen Namen: Le Corbusier
Perriands Esszimmer stammt von 1928. Im selben Jahr drückte Jeanneret, ihr Büro- und Lebenspartner, auf den Auslöser. Sie selbst fotografierte 1933 das abgebildete Fundstück.
Fotos (von oben im Uhrzeigersinn): Photograph Rep/AChP;Pierre Jeanneret/AChP; AChP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Bildband über die Gestalterin Charlotte Perriand
Dass auch Möbel auf Diät gesetzt werden können, hat Charlotte Perriand bewiesen. 1926 entwarf die Französin für den Pariser Salon des artistes décorateurs ein Wohnzimmer, für das sie sich offenbar zum Ziel gesetzt hatte, so viele Schmuckelemente, unterschiedliche Muster, Stoffe und Formen wie möglich unterzubringen. Optisch ließ das die Messekoje explodieren. Nur zwei Jahre später gestaltete Perriand für den selben Salon dann ein Esszimmer, dem sie ein Radikalkur in puncto Form und Material verordnet hatte: Die Stühle scheinen auf Zehenspitzen zu balancieren, so schlank sind ihre gebogenen Stahlrohrbeine, der Tisch ist kaum mehr als eine dünne Linie, und auch sonst muss das Auge suchen, um an den spiegelglatten Oberflächen irgendwo hängen zu bleiben. Das silberglänzende Metall dürfte für damalige Betrachter in etwa so heimelig gewirkt haben wie ein Besuch im Krankenhaus.
„Ein Esszimmer für das Zeitalter der Flugzeuge, kurzen Haare, kurzen Röcke, Jazz und Cocktails“, schrieb ein damaliger Kritiker begeistert und verfasste damit einen Steckbrief für die Entwerferin gleich mit. Denn Charlotte Perriand (1903-1999) trug nicht nur einen der glamourösesten Kurzhaarschnitte überhaupt, sie begeisterte sich auch für die Erfindungen ihrer Zeit – vor allem, wenn sie Geschwindigkeit versprachen: Citroëns, Flugzeuge, neue Fahrräder. Und sie liebte das Reisen. Ihrer Mutter, die wie der Vater in Paris als Schneider arbeitete, schrieb sie, da war sie noch keine 20 Jahre alt: „Ich bin wie gemacht für das Reisen. Ich vergöttere es über alles, das Unerwartete.“
Kein Wunder, dass ein solches Leben auch Erstaunliches hervorbringt. Charlotte Perriands Werk entwickelte sich, nicht zuletzt durch ihre Reisen, die sie schon früh in die Sowjetunion, nach Japan und Brasilien führten, zu einem der spannendsten und vielseitigsten Beiträge in der Design- und Architektgeschichte des 20. Jahrhunderts. Der breiten Öffentlichkeit jedoch ist Perriands Bedeutung erst in den vergangenen Jahren durch Ausstellungen und Publikationen langsam bewusst geworden. Architektur und Design sind nach wie vor eine Männerdomäne, gerade in vorderster Reihe. Auch wohlverdienten Ruhm muss sich eine Frau dort hart erkämpfen.
Umso wichtiger, dass Jacques Barsac mit seinem dreiteiligen Werkverzeichnis über Charlotte Perriand, dessen erster Band (1903-1940) gerade erschienen ist, nun die besten Argumente liefert, warum wir es hier mit einer Großmeisterin des Gestaltens zu tun haben. Die englischsprachige Publikation mit berauschend schönem Bildmaterial von Barsac, der Perriand bei ihrer Autobiografie „A Life of Creation“ (2002) half, seitdem drei Bücher über sie verfasste und für das Werkverzeichnis den kompletten Nachlass aufgearbeitet hat, zeigt aber auch, warum Perriands Ansätze nichts an Aktualität verloren haben: ihre Arbeit mit neuen Materialen und klaren Formen. Ihr Wunsch, von regional traditioneller Architektur zu lernen. Aber auch ihr Vorsatz, kostengünstig zu entwerfen, und nur das, was wirklich notwendig ist. Nicht zu vergessen ihrDurchdringen des Raums. Gerade das hat ja der Pariserin die immer wichtiger werdende Fähigkeit gegeben, auf kleiner Fläche viel Platz zu schaffen. Der leidenschaftlichen Skifahrerin, die ihre ersten Lebensjahre beim Onkel auf dem Land verbracht hat, gelang das in mondänen Winterchalets genauso wie bei der kostengünstigen 14-Quadratmeter-Klause zum Wohnen.
Der Grund, warum Charlotte Perriand Jahrzehnte lang kaum als eigenständige Entwerferin wahrgenommen wurde, hat übrigens einen Namen: Le Corbusier. Zehn Jahre lang arbeitete sie als Büropartnerin mit ihm und seinem Cousin Pierre Jeanneret in der Rue de Sèvres. Sie war dort für Möbel und Ausstattung verantwortlich und goss die Moderne-Wünsche der beiden Architekten in Stuhl- und Sesselformat. Die Einrichtung der Villa La Roche stammt genauso von ihr wie die eingebauten Möbel der Villa Savoye. Damit entwarf Charlotte Perriand – sicherlich mit Einfluss ihrer Büropartner – das, was heute als Designikone gilt und dementsprechend teuer verkauft wird. Doch die mondäne Chaiselongue wurde als LC4 weltbekannt, der quadratische Sessel als LC2, der gepolsterte Stuhl als LC7. Le Corbusier hatte nach dem Krieg, als es zur Wiederauflage der Entwürfe kam, Perriands und Jeannerets Namen einfach gestrichen. Fürs Foto mag der Meister Charlotte Perriand die Gloriole gegönnt haben, wirklich strahlen aber durfte nur er.
LAURA WEISSMÜLLER
Jacques Barsac: Charlotte Perriand. Complete Works. Volume 1: 1903–1940. Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2014. 512 Seiten, 120 Euro.
Die anhaltende Verkanntheit
dieser Großmeisterin des Designs
hat einen Namen: Le Corbusier
Perriands Esszimmer stammt von 1928. Im selben Jahr drückte Jeanneret, ihr Büro- und Lebenspartner, auf den Auslöser. Sie selbst fotografierte 1933 das abgebildete Fundstück.
Fotos (von oben im Uhrzeigersinn): Photograph Rep/AChP;Pierre Jeanneret/AChP; AChP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de