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Charlotte Salomon - 1917 in Berlin geboren, 1939 nach Südfrankreich emigriert, 1943 in Auschwitz ermordet - hat ein außergewöhnliches Werk hinterlassen: Leben? oder Theater? Kunst und Literatur, Film und Musik sind in diesem 1940 bis 1942 im französischen Exil entstandenen Zyklus spielerisch miteinander verwoben. In Bildern und Texten von eigenwilliger Kraft setzt Charlotte Salomon die Lebensgeschichte einer jungen Frau im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre in Szene, die nach der Pogromnacht ins Exil geht. Sie erzählt von der zunehmenden Verfolgung der Juden, von Liebes- und…mehr

Produktbeschreibung
Charlotte Salomon - 1917 in Berlin geboren, 1939 nach Südfrankreich emigriert, 1943 in Auschwitz ermordet - hat ein außergewöhnliches Werk hinterlassen: Leben? oder Theater? Kunst und Literatur, Film und Musik sind in diesem 1940 bis 1942 im französischen Exil entstandenen Zyklus spielerisch miteinander verwoben. In Bildern und Texten von eigenwilliger Kraft setzt Charlotte Salomon die Lebensgeschichte einer jungen Frau im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre in Szene, die nach der Pogromnacht ins Exil geht. Sie erzählt von der zunehmenden Verfolgung der Juden, von Liebes- und Familienbeziehungen, die alles andere als einfach sind, unsentimental, selbstironisch oft noch da, wo es eigentlich bodenlos wird.
Astrid Schmetterling stellt Leben und Werk der Künstlerin vor. Sie zeigt, wie Charlotte Salomon in ihrer kühnen Vermischung unterschiedlicher Genres eine visuelle Sprache fand, mit der sie ihrem Leben zwischen verschiedenen Identitäten und Orten, als jüdische Frau im Exil, auf einzigartige Weise Ausdruck zu verleihen vermochte. Dem Essay sind 16 Farbabbildungen aus dem Zyklus Leben? oder Theater? vorausgestellt.
Autorenporträt
Astrid Schmetterling, geboren 1962 in Durban/Südafrika, aufgewachsen in Deutschland, Studium der Kunstgeschichte und Literatur in Jerusalem und London, lehrt Kunstgeschichte und Kunsttheorie am Goldsmiths College, University of London.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2002

Es war einmal eine Liebe
Im Bildertagebuch der Berliner Jüdin Charlotte Salomon setzt nicht die Phantasie, sondern die Zeit der Erzählung ein Ende

Das letzte Bild sollte der Eintritt in ein neues Leben sein. Es zeigt eine junge Frau, die am Meer sitzt und malt. "Leben oder Theater" steht auf ihrem schmalen Rücken geschrieben. Das Fragezeichen dazu bildet die Frau mit ihrem Körper selbst. Das Blatt, das sie mit einem Pinsel bemalt, besteht nur aus einem Rand, durch den das blaue Meer scheint. Die junge Frau auf dem Bild hat gerade ihr Testament geschrieben, oder vielmehr gemalt. Es ist das letzte Blatt aus einem umfassenden Zyklus von 1325 Bild- und Text-Gouachen, die die ins südfranzösische Exil geflohene Berliner Jüdin Charlotte Salomon zwischen 1940 und 1942 in strenger Klausur und in einem einzigen Schaffensprozeß verfaßt hat.

"Leben oder Theater? Ein Dreifarben Singespiel" hat Charlotte Salomon ihr Gesamtkunstwerk genannt, das auf den Grundfarben Blau, Rot und Gelb basiert. 769 Blätter hat sie für ihre gleichermaßen fiktive wie autobiografische Lebensgeschichte ausgewählt und als Bildertagebuch zusammengefaßt. Darin erzählt die junge Frau ihr Leben. Ein Leben, dessen Freiräume immer geringer wurden, gezeichnet vom privaten Glück und Unglück einer großbürgerlichen assimilierten Berliner Familie vor dem Hintergrund der existenzvernichtenden Judenverfolgung unter den Nationalsozialisten.

Charlotte Salomon wird in ihrer Bilderwelt zu Charlotte Kann und erzählt die eigene Lebensgeschichte in der dritten Person. Das ermöglichte ihr zum einen eine ironische Distanz zu sich selbst und gleichzeitig eine leidenschaftliche Identifikation mit den Menschen, die sie liebte. "Ich saß da am Meer und sah tief hinein in die Herzen der Menschen ich war meine Mutter meine Großmutter ja alle Personen die vorkommen in meinem Stück war ich selbst. Alle Wege lernte ich gehen", schreibt sie. Ihre Bildergeschichte beginnt mit dem Selbstmord der Tante 1913. Eine junge Frau geht in den Schlachtensee, bis das Wasser sich über ihr blutrot färbt.

Charlotte hieß die Tante, und nach ihr sollte auch sie Charlotte heißen. Ihre Kindheit war geprägt vom bürgerlichen Glück einer assimilierten Familie, die großen Wert auf Bildung, Musik und Reisen legte. In der Wielandstraße in Charlottenburg befand sich die Wohnung von Albert Salomon, einem bekannten Chirurgen und Universitätsprofessor. In ihren Bildern erinnert sich Charlotte an den blauen Salon mit dem Flügel, das grüne Herrenzimmer, an Kindergeburtstage und an den Weihnachtsbaum.

1926 wird das kindliche Glück durch den Selbstmord der Mutter zerstört. Dem noch nicht neunjährigen Mädchen erzählt man, die Mutter sei an einer Grippe gestorben. Erst in Südfrankreich, nach dem Selbstmord der Großmutter 1939, erfährt sie die Wahrheit. Auch die Urgroßmutter, ein Bruder und ein Neffe der Großmutter hatten sich umgebracht. "1 2 3 4 5 6e Warst du denn eine Hexe. Jetzt sind wir nur noch drei", schreibt die Künstlerin später auf eine Gouache. Drei, das waren sie, der Vater und der Großvater. Doch 1930 heiratete ihr Vater die berühmte Altistin Paula Lindberg, die im "Singespiel" zu Paulinka Bimbam wird. Zu ihr fühlt sich das Mädchen ganz besonders hingezogen, ebenso wie zu ihrem Korrepetitor, dem Musikphilosophen Alfred Wolfsohn, der zu Amadeus Daberlohn, dem Förderer und Geliebten wird. Wolfsohn glaubt an das malerische Talent des unsicheren Mädchens. Die Gespräche und die Liebe zu Daberlohn nehmen den ganzen Hauptteil des Singespiels ein. Daberlohn erzählt dem Mädchen von Orpheus' Suche in der Unterwelt, ohne die er nicht zu sich selbst und zur Geliebten gefunden hätte.

Das Hereinbrechen des Nationalsozialismus in das Privatleben ändert die bisher kindlich-märchenhafte Bildsprache. Die Striche werden expressiver, hektischer. Die Räume werden eng, es gibt fast nur noch Innenansichten. Das Berufsverbot trifft beide Eltern hart. Der Vater geht in das Jüdische Krankenhaus im Wedding, Paula Lindberg wird zur Mitgründerin des Jüdischen Kulturbundes. Nach der Pogromnacht vom November 1938 und der kurzfristigen Internierung des Vaters in Sachsenhausen beschließt die Familie die Flucht. Charlotte wird zu den Großeltern nach Villefranche bei Nizza geschickt, wo sie die vermögende Amerikanerin Ottilie Moore in ihre Villa aufnimmt.

Nach dem Selbstmord der Großmutter wird Charlotte Salomon "vor die Frage gestellt, sich das Leben zu nehmen oder etwas ganz verrückt Besonderes zu unternehmen". Sie erzählt ihr Leben noch einmal, um sich ihres Daseins zu vergewissern. Dazu zieht sie sich in den kleinen Ort St. Jean Cap Ferrat hoch über dem Meer zurück, um in einer kleinen Pension ihre Arbeit zu beginnen. Als die erzählte Zeit die Erzählzeit eingeholt hat, findet Charlotte Salomon den Weg aus ihrer Unterwelt hinaus ins Freie. Es war eine innere Befreiung, die ihr das Weiterleben erst möglich gemacht hat.

Das "Singespiel", das sich im Charlotte-Salomon-Archiv des Jüdischen Historischen Museums in Amsterdam befindet, wurde lange Zeit als Holocaust-Kunst abgetan. Erst 1961 hat das Museum die Gouachen zum ersten Mal ausgestellt. Oft wurde Charlotte Salomons Bildertagebuch mit dem Tagebuch der Anne Frank verglichen. Doch war die Malerin kein Kind, aus dem vielleicht eine große Schriftstellerin geworden wäre. Als sie ihr Werk verfaßte, war Salomon im vollen Bewußtsein sowohl ihrer künstlerischen Mittel als auch der existentiellen Dringlichkeit ihres Anliegens. Schließlich geht es in "Leben oder Theater" auch um Leben oder Tod. Erst die Ausstellung in der Royal Academy of Art 1998 in London hat das Gesamtkunstwerk der Charlotte Salomon rehabilitiert.

Die Kunsthistorikerin Astrid Schmetterling beschäftigt sich im Zusammenhang mit weiblicher Ästhetik seit den 90er Jahren mit dem Werk der Charlotte Salomon. Schmetterling unterrichtet Kunstgeschichte und Kunsttheorie am Goldsmiths College der University of London. Sie hat viele Gespräche mit Überlebenden und Verwandten der Charlotte Salomon geführt. So hat sie noch die Stiefmutter Charlotte Salomons, Paula Salomon-Lindberg, in Amsterdam besucht, die dort im April 2000 im Alter von 102 Jahren verstorben ist. Aus ihren Forschungen und Gesprächen ist nun im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp das Buch entstanden "Charlotte Salomon 1917-1943. Bilder eines Lebens".

Darin zeigt Schmetterling, wie die junge Künstlerin ganz bewußt narrative Techniken des Films verwendet hat, um mittels Rückblenden, Nahaufnahmen und Totalen verschiedene Perspektiven auf dasselbe Geschehen zuzulassen. Durch cartoonartige Reduktionen habe sie nicht nur die Schranken zwischen Bild und Schrift, sondern auch zwischen hoher Kunst und populärer Kunst aufgehoben, so Schmetterling. Salomons Stil war an der europäischen Moderne geschult, von Matisse über Modigliani bis Gauguin und van Gogh. Schmetterling betont, wie sehr Salomons Ästhetik auch von Ironie geprägt war. In den Regieanweisungen zu ihrem Spiel kombiniert sie Opern und Operetten mit Schlagern und Kirchenliedern. Der Auftritt Daberlohns wird mit Bizets "Auf in den Kampf, Torero" eingeleitet. Mit der musikalischen Untertitelung gelingt es Salomon, bestimmte Stimmungen hervorzurufen. "Der Mensch sitzt am Meer", schreibt sie, "er malt. Eine Melodie kommt ihm plötzlich in den Sinn. Indem er sie zu summen beginnt, merkt er, daß die Melodie genau auf das, was er zu Papier bringen will, paßt." Die Gastwirte sollten später sagen, die junge Frau habe die ganze Zeit gesungen, aber kaum gegessen und geschlafen.

Als habe die junge Künstlerin nach der Vollendung ihres Werkes keine Kraft mehr gehabt, ein Leben auf der Flucht und in wechselnden Verstecken zu führen, ist sie in Villefranche geblieben. Die Heirat mit Alexander Nagler, einem Freund von Ottilie Moore, sollte den beiden zum Verhängnis werden. Nagler, ein österreichischer Jude, besaß einen gefälschten Arierausweis. Auf die Mitteilung der Behörden, er könne keine Jüdin heiraten, gab er seine Identität preis. Aufgrund ihrer offiziellen Registrierung als Juden wurden die beiden am 24. September 1943 verhaftet und über Nizza nach Drancy und von dort nach Auschwitz deportiert. Kurz zuvor gab Charlotte Salomon das "Singespiel" bei ihrem Arzt in Verwahrung mit den Worten "Passen Sie gut darauf auf. C'est toute ma vie". Nach dem Krieg wurde das Werk Salomons Eltern zugeführt, die in einem Versteck in Holland überlebt hatten. Ihre übrigen Gemälde und Zeichnungen sind verlorengegangen.

Als Charlotte Salomons neues Leben im Oktober 1943 unmittelbar nach der Ankunft im Lager in der Gaskammer endete, war sie 26 Jahre alt und im vierten Monat schwanger. Alexander Nagler wurde drei Monate später ermordet. "Es kommt nicht darauf an, daß das Leben uns liebt", ließ Charlotte Salomon ihren geliebten Orpheus Daberlohn sagen, "sondern daß wir das Leben lieben."

ANTJE SCHMELCHER

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

In ihrer ausführlichen und detailreichen Rezension setzt sich Gisela von Wysocki mit dem Essay Astrid Schmetterlings über Charlotte Salomons Werk "Leben? oder Theater?" auseinander. Wysocki urteilt, das zwischen 1940 und 1942 entstandene Werk Salomons sei ein "genialisches Mixtum Compositum von Text, Zeichnung und Musik" und ein "großes Gedächtniswerk", das mit seiner "schichtenreichen, synästhetischen Anlage die Züge einer Partitur" trägt. Bis heute habe, so die Rezensentin, die Scheu vor dem Schicksal der 1943 in Auschwitz ermordeten Künstlerin die Kenntnisnahme ihres Werkes geradezu verboten. Zu Recht beurteile jetzt Schmetterling in ihrem Essay das Werk als eine "fiktionalisierte Autobiografie" und als "Textblätter" des "dramatisierten Lebens". Damit treffe sie angemessen "die Entscheidung für den ästhetischen Binnenraum der Bilder". Schmetterling vermag mit ihrer Fokussierung der jüdischen Herkunft und der Lebensbedingungen der Familie Salomon zur Zeit der Weimarer Republik sich dem "beschleunigten Reifungsprozess der Künstlerin und Kulturanalytikerin" zu nähern, lobt Wysocki. Der Essay Schmetterlings thematisiere "Vergeblichkeit der jüdischen Assimilationsbemühungen, die erfolglosen Phantasien der Dazugehörigkeit", so die Rezensentin und schließt mit der Empfehlung: "ein ästhetisches Ereignis, das um fehlende Antworten kreist".

© Perlentaucher Medien GmbH
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