Produktdetails
- Verlag: BELIN EDUCATION
- ISBN-13: 9791035834142
- Artikelnr.: 71797174
»David Foenkinos riskiert alles und schafft ein großartiges literarisches Monument für die Malerin Charlotte Salomon.« Elle
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Chance vertan, urteilt Tilman Krause über David Foenkinos Annäherung an die in Auschwitz ermordete Berliner Malerin Charlotte Salomon. Was jemand wie Patrick Modiano aus dem Stoff dieser Lebensgeschichte gemacht hätte, kann Krause nur vermuten. Besser als Foenkinos Buch wäre es allemal geworden, meint er. Dem berührenden Schicksal Salomons kann sich Foenkino nämlich nicht anders als über Betroffenheitsverse und peinliche emotionale Vereinnahmung nähern, erläutert Krause die Unbedarftheit des Autors. Naives Sofageplapper statt sprachliche Kunst, schimpft der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2015Ein Hauch von 1943
Wie liest man eine Erzählung, die im Konzentrationslager endet? David Foenkinos hat einen Roman über die Künstlerin Charlotte Salomon geschrieben
Dafür, dass es immer noch ziemlich viele kunstinteressierte Menschen gibt, die Charlotte Salomon nicht kennen, findet sich eigentlich nur eine Erklärung. Salomons Werk besteht aus mehr als tausend Zeichnungen und Gouachen, die meisten davon gehören zu einem einzigen Zyklus. Um sie zu sehen, muss man - zurzeit sind sie allerdings in Salzburg in einer Ausstellung zu sehen - nach Amsterdam reisen, ins Jüdische Museum. Oder eines der teuren und dicken Bücher kaufen, in denen sie abgebildet sind. Vor gut dreißig Jahren erschien ein beeindruckender Prachtband im Verlag Kiepenheuer & Witsch mit 769 Bildern, ein nächster im Prestel-Verlag 2007. Beide sind längst vergriffen. Beschränkt ist auch die Dauer der Ausstellungen, Opern- oder Tanzaufführungen, die Salomon gewidmet waren. Kurzum: Die Künstlerin schuf ein Werk, das sich nur schwer vervielfältigen lässt. Und das ist im Medienzeitalter fast schon ein Ausschlusskriterium.
Nun ist ein Roman erschienen, der das ändern könnte. Wie die meisten Romane ist auch dieser bilderlos, Buchstaben lassen sich schnell und günstig vermehren. Noch dazu heißt der Autor David Foenkinos, ein französischer Schriftsteller, der für "Charlotte" bereits den Prix Goncourt des lycéens erhielt, der von Schülern vergeben wird. Foenkinos' Bücher waren sagenhafte Bestseller. "Nathalie küsst" von 2009, eine Geschichte, die er selbst mit Audrey Tautou in der Hauptrolle verfilmte, verkaufte sich allein in Frankreich mehr als eine Million mal. Foenkinos kann also als Meister der Vervielfältigung gelten, als kaum zu übertreffender Impresario seiner Werke. Allerdings: Seinen Büchern eilt der Ruf voraus, leicht zu sein, unbeschwert, verspielt, dabei auch klug, aber eben keine schwere Kost.
Sein jüngster Roman "Charlotte" stellt Leser vor eine unangenehme Frage. Wie liest man nämlich eine Erzählung, die im Konzentrationslager endet? Über eine Person noch dazu, die nicht fiktiv ist, sondern wirklich lebte und 1943 in Auschwitz umgebracht wurde? Da war sie, die 1917 in Berlin geborene Künstlerin Charlotte Salomon, sechsundzwanzig Jahre alt und im fünften Monat schwanger. Dieses Ende ist der dunkle Magnet dieses Buchs, jedes Wort, jede Zeile steht in seinem Sog, von Anfang an. Die traurigen Ereignisse in Salomons Leben werden noch trauriger, weil es diesen Mord geben wird. Die schönen, lustigen, feierlichen, mondänen, zärtlichen sind auch traurig, deswegen.
Für den Autor stellt sich die Frage natürlich noch viel drängender. Wie lässt sich der Respekt wahren in einer solchen Erzählform? Wie viel darf ausgeschmückt oder erfunden werden? Die erste Antwort, die Foenkinos darauf gibt, sieht jeder, der das Buch aufschlägt und vielleicht einen Schreck bekommt. Was dem Leser ins Auge springt, sieht so aus:
Der Text ist nicht in Blocksatz verfasst.
Sondern in Flattersatz.
Es gibt fast nur Hauptsätze.
Jeder erhält eine Zeile.
Mit vielen Absätzen.
So werden Gedichte gesetzt.
In einzelnen Strophen.
Das kann man, im ersten Augenblick, für eine Anmaßung halten. Was glaubt er, wer er ist, Shakespeare? Aber es ist eben kein Hochmut, auch keine Attitüde, sondern der Versuch, sich Salomons Werk zu nähern, eine literarische und formale Entsprechung dafür zu finden, wie sie malte. Ein "Singespiel" nannte sie ihren Bildzyklus, der Titel lautet "Leben? Oder Theater?". Entstanden ist es in nur zwei Jahren, in einer rastlosen Produktion zwischen 1940 und 1942. Salomon lebte in Südfrankreich, sie war auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, die sie als Jüdin verfolgten. Mit allen Sinnen, zum Teil nur in der Vorstellung, schuf sie ein Gesamtkunstwerk. Das Singspiel ist ein Vorläufer der Operette, ein Musikstück mit Strophen und Akten. Salomon schrieb Texte zu ihren Bildern, zum Teil mitten hinein, und vermerkte, welche Musik dazu gespielt werden sollte. Die Geschichte ist ihre eigene. Die Namen aber änderte sie.
Die operettenhafte Form hat sich Foenkinos zum Vorbild genommen, wenn auch er in Strophen erzählt und die Geschichte in neun Teile gliedert. Bei Salomon wie bei Foenkinos beginnt es mit dem Selbstmord der Tante Charlotte, nach der die Künstlerin benannt wurde, der Schwester der Mutter. "Die Geschichte wiederholte sich", schreibt Foenkinos, "unaufhörlich wie der Refrain eines Totengesangs". Denn umbringen werden sich auch noch Charlottes Mutter und weitere Familienmitglieder. Als die Großmutter sich im Exil in Südfrankreich aus dem Fenster stürzt, im Jahr 1940, fällt Charlotte einen Entschluss. "Sie sah", schreibt nun die Künstlerin in ihrem Singspiel, "sich vor die Frage gestellt, sich das Leben zu nehmen oder etwas ganz Verrückt-Besonderes zu tun". Wenige Seiten darauf folgt das Schlussbild ihres Stücks, das sie vor dem leuchtend blauen Mittelmeer im Badeanzug zeigt, von hinten, einen Pinsel in der Hand, ein noch leeres Bild auf dem Schoß. Wie in einem Loop beginnt damit die Geschichte von vorne: Denn die junge Künstlerin, die sich im französischen Exil abbildet, in Villefranche-sur-Mer, wird nun eben ihr Singspiel verfassen, das Verrückt-Besondere, das mit dem Selbstmord der Tante beginnt.
Der Schluss von Charlotte Salomons Singspiel ließe sich fast ein Happy End nennen. Der Vorhang fällt in dem Moment, als sie die Kraft findet, sich aus dem "Kreis der Strohhalmsucher", wie sie die Geflohenen und Verzweifelten in Frankreich nennt, herauszuziehen, das "Leben zu nehmen". Trotz aller Schrecken, trotz der Selbstmorde, des Antisemitismus und des NS-Terrors handelt dieser Zyklus von Liebe: Die unendliche Liebe zu ihrer Mutter, mit der sie, winzig klein, zu Beginn in einem riesigen Bett liegt. Der Liebe zu der gefeierten Opernsängerin, die ihr Vater in zweiter Ehe heiratet und der die Welt zu Füßen liegt, bis sie als Jüdin Auftrittsverbot erhält. Und vor allem die Liebe zu dem viel älteren Musikpädagogen Alfred Wolfsohn, in der Geschichte genannt Amadeus Daberlohn. Er wird ihr erster Geliebter. Er ist aber vor allem ihr Zeuge. Denn Daberlohn ist unzuverlässig, launisch, ein wenig verrückt. Aber er ist derjenige, der ihre Kunst am meisten verehrt. "Mögest du nie vergessen", sagt er auf einem von Salomons Bildern, "dass ich an dich glaube". Foenkinos übernimmt diesen Satz.
Im Roman kann es kein Happy End geben. Aber bis Foenkinos den Punkt erreicht, an dem er über das hinausgehen muss, was Salomon in ihrem autobiographischen Stück erzählt, versucht er, ihr so treu wie möglich zu bleiben. Dabei entwickelt die stilistische Entscheidung für den eigentümlichen Textsatz ihre Qualitäten. Die Erzählung hat durch ihn einen eigenen Rhythmus, sie jagt durch die Zeiten, von Hauptsatz zu Hauptsatz, im Präsens.
Die Künstlerin wie der Schriftsteller schaffen mit der Geschichte das Gegenteil des traditionell erzählten Romans. Dieser vertieft sich in das Gefühlsleben seiner Helden, deren Gefühle und Gedanken die Handlung vorgeben. Salomon und Foenkinos rasen aber weiter, ihr Strom fließt reißend wie der von Moritatensängern. Charlotte Salomons Stärke, ihr Genie, liegt darin, die größten Umbrüche in einem einzigen Bild fassen zu können. Bei ihren besten Gemälden ist es so, als ob die Großen der Moderne aus lauter Zuneigung zu diesem begabten jungen Geschöpf einfach mithalfen, ein bisschen van Gogh, ein wenig Munch oder Matisse, der deutsche Expressionismus, dazu das Glitzern eines Opernabends, das Tempo des Kinos.
Foenkinos findet immer wieder einzelne Sätze, die alles sagen und keinen weiteren brauchen. Ein Beispiel: Als Charlottes Mutter über den Selbstmord der Schwester fast wahnsinnig wird, was niemand in der Familie wahrnimmt, bringt Foenkinos ihr Alleinsein, die einsame Trauer, mit einer Beobachtung auf den Punkt. Charlottes Mutter hat einen Menschen verloren, wie eine Witwe oder eine Waise. Aber: "Wie sagt man, wenn man seine Schwester verloren hat? Es gibt gar kein Wort, man sagt gar nichts."
Eine zweite Tugend besitzt die Erzählweise in Strophen außerdem. Sie sieht aus wie ein Gedicht, und jeder Seite haftet damit etwas Fiktives an. Tatsachenberichte stehen im Blocksatz, etwa die Biographie, die 1997 die amerikanische Historikerin Mary Lowenthal Felstiner veröffentlichte und die leider nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Sie trägt den Titel "To Paint Her Life. Charlotte Salomon in the Nazi Era".
Foenkinos will aber eben nicht nur Salomons Leben erzählen, sondern dem Geschriebenen die Schönheit verleihen, die Salomons Bilder auszeichnen. Dafür muss er die Sprache ausschöpfen. Die Form ist eine Respektbekundung, mit der deutlich wird, dass der Erzähler nicht beansprucht, die wahre Geschichte zu kennen. Und sie ist eine Spiegelung der Mittel, zu denen Salomon griff.
Es gibt auch Passagen, die verrutschen. Foenkinos etwa schildert, wie er die Geschichte recherchiert, nach Südfrankreich fährt, um den Ort zu sehen, wo Salomon Unterschlupf fand. Die einstige Villa einer amerikanischen Mäzenin wurde jedoch abgerissen, eine Luxusvilla errichtet. Die heutige Besitzerin weist den Schriftsteller unfreundlich ab. "Doch immerhin", schreibt er, "ließ diese Frau mich einen Hauch von 1943 spüren." Leben wie die von Charlotte Salomon oder auch Anne Frank ziehen häufig die Überidentifikation der Bewunderer nach sich. Einen solchen vermessenen Satz, so wünscht man sich, hätte jedoch ein Lektor streichen müssen.
Niemand wird behaupten, dass dieser Roman wie Salomons Malerei ein Jahrhundertwerk ist. Auch Foenkinos läge es fern, das zu beanspruchen. Er stellt sich in den Dienst, er versucht nicht zu konkurrieren. Es ist aber die beste Erzählung über das Leben der Künstlerin, die wir haben. Man wünscht diesem Buch Glück. Möge es sich, so oft es nur geht, vervielfältigen.
JULIA VOSS
David Foenkinos: "Charlotte". Roman. DVA, 240 Seiten, 17,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie liest man eine Erzählung, die im Konzentrationslager endet? David Foenkinos hat einen Roman über die Künstlerin Charlotte Salomon geschrieben
Dafür, dass es immer noch ziemlich viele kunstinteressierte Menschen gibt, die Charlotte Salomon nicht kennen, findet sich eigentlich nur eine Erklärung. Salomons Werk besteht aus mehr als tausend Zeichnungen und Gouachen, die meisten davon gehören zu einem einzigen Zyklus. Um sie zu sehen, muss man - zurzeit sind sie allerdings in Salzburg in einer Ausstellung zu sehen - nach Amsterdam reisen, ins Jüdische Museum. Oder eines der teuren und dicken Bücher kaufen, in denen sie abgebildet sind. Vor gut dreißig Jahren erschien ein beeindruckender Prachtband im Verlag Kiepenheuer & Witsch mit 769 Bildern, ein nächster im Prestel-Verlag 2007. Beide sind längst vergriffen. Beschränkt ist auch die Dauer der Ausstellungen, Opern- oder Tanzaufführungen, die Salomon gewidmet waren. Kurzum: Die Künstlerin schuf ein Werk, das sich nur schwer vervielfältigen lässt. Und das ist im Medienzeitalter fast schon ein Ausschlusskriterium.
Nun ist ein Roman erschienen, der das ändern könnte. Wie die meisten Romane ist auch dieser bilderlos, Buchstaben lassen sich schnell und günstig vermehren. Noch dazu heißt der Autor David Foenkinos, ein französischer Schriftsteller, der für "Charlotte" bereits den Prix Goncourt des lycéens erhielt, der von Schülern vergeben wird. Foenkinos' Bücher waren sagenhafte Bestseller. "Nathalie küsst" von 2009, eine Geschichte, die er selbst mit Audrey Tautou in der Hauptrolle verfilmte, verkaufte sich allein in Frankreich mehr als eine Million mal. Foenkinos kann also als Meister der Vervielfältigung gelten, als kaum zu übertreffender Impresario seiner Werke. Allerdings: Seinen Büchern eilt der Ruf voraus, leicht zu sein, unbeschwert, verspielt, dabei auch klug, aber eben keine schwere Kost.
Sein jüngster Roman "Charlotte" stellt Leser vor eine unangenehme Frage. Wie liest man nämlich eine Erzählung, die im Konzentrationslager endet? Über eine Person noch dazu, die nicht fiktiv ist, sondern wirklich lebte und 1943 in Auschwitz umgebracht wurde? Da war sie, die 1917 in Berlin geborene Künstlerin Charlotte Salomon, sechsundzwanzig Jahre alt und im fünften Monat schwanger. Dieses Ende ist der dunkle Magnet dieses Buchs, jedes Wort, jede Zeile steht in seinem Sog, von Anfang an. Die traurigen Ereignisse in Salomons Leben werden noch trauriger, weil es diesen Mord geben wird. Die schönen, lustigen, feierlichen, mondänen, zärtlichen sind auch traurig, deswegen.
Für den Autor stellt sich die Frage natürlich noch viel drängender. Wie lässt sich der Respekt wahren in einer solchen Erzählform? Wie viel darf ausgeschmückt oder erfunden werden? Die erste Antwort, die Foenkinos darauf gibt, sieht jeder, der das Buch aufschlägt und vielleicht einen Schreck bekommt. Was dem Leser ins Auge springt, sieht so aus:
Der Text ist nicht in Blocksatz verfasst.
Sondern in Flattersatz.
Es gibt fast nur Hauptsätze.
Jeder erhält eine Zeile.
Mit vielen Absätzen.
So werden Gedichte gesetzt.
In einzelnen Strophen.
Das kann man, im ersten Augenblick, für eine Anmaßung halten. Was glaubt er, wer er ist, Shakespeare? Aber es ist eben kein Hochmut, auch keine Attitüde, sondern der Versuch, sich Salomons Werk zu nähern, eine literarische und formale Entsprechung dafür zu finden, wie sie malte. Ein "Singespiel" nannte sie ihren Bildzyklus, der Titel lautet "Leben? Oder Theater?". Entstanden ist es in nur zwei Jahren, in einer rastlosen Produktion zwischen 1940 und 1942. Salomon lebte in Südfrankreich, sie war auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, die sie als Jüdin verfolgten. Mit allen Sinnen, zum Teil nur in der Vorstellung, schuf sie ein Gesamtkunstwerk. Das Singspiel ist ein Vorläufer der Operette, ein Musikstück mit Strophen und Akten. Salomon schrieb Texte zu ihren Bildern, zum Teil mitten hinein, und vermerkte, welche Musik dazu gespielt werden sollte. Die Geschichte ist ihre eigene. Die Namen aber änderte sie.
Die operettenhafte Form hat sich Foenkinos zum Vorbild genommen, wenn auch er in Strophen erzählt und die Geschichte in neun Teile gliedert. Bei Salomon wie bei Foenkinos beginnt es mit dem Selbstmord der Tante Charlotte, nach der die Künstlerin benannt wurde, der Schwester der Mutter. "Die Geschichte wiederholte sich", schreibt Foenkinos, "unaufhörlich wie der Refrain eines Totengesangs". Denn umbringen werden sich auch noch Charlottes Mutter und weitere Familienmitglieder. Als die Großmutter sich im Exil in Südfrankreich aus dem Fenster stürzt, im Jahr 1940, fällt Charlotte einen Entschluss. "Sie sah", schreibt nun die Künstlerin in ihrem Singspiel, "sich vor die Frage gestellt, sich das Leben zu nehmen oder etwas ganz Verrückt-Besonderes zu tun". Wenige Seiten darauf folgt das Schlussbild ihres Stücks, das sie vor dem leuchtend blauen Mittelmeer im Badeanzug zeigt, von hinten, einen Pinsel in der Hand, ein noch leeres Bild auf dem Schoß. Wie in einem Loop beginnt damit die Geschichte von vorne: Denn die junge Künstlerin, die sich im französischen Exil abbildet, in Villefranche-sur-Mer, wird nun eben ihr Singspiel verfassen, das Verrückt-Besondere, das mit dem Selbstmord der Tante beginnt.
Der Schluss von Charlotte Salomons Singspiel ließe sich fast ein Happy End nennen. Der Vorhang fällt in dem Moment, als sie die Kraft findet, sich aus dem "Kreis der Strohhalmsucher", wie sie die Geflohenen und Verzweifelten in Frankreich nennt, herauszuziehen, das "Leben zu nehmen". Trotz aller Schrecken, trotz der Selbstmorde, des Antisemitismus und des NS-Terrors handelt dieser Zyklus von Liebe: Die unendliche Liebe zu ihrer Mutter, mit der sie, winzig klein, zu Beginn in einem riesigen Bett liegt. Der Liebe zu der gefeierten Opernsängerin, die ihr Vater in zweiter Ehe heiratet und der die Welt zu Füßen liegt, bis sie als Jüdin Auftrittsverbot erhält. Und vor allem die Liebe zu dem viel älteren Musikpädagogen Alfred Wolfsohn, in der Geschichte genannt Amadeus Daberlohn. Er wird ihr erster Geliebter. Er ist aber vor allem ihr Zeuge. Denn Daberlohn ist unzuverlässig, launisch, ein wenig verrückt. Aber er ist derjenige, der ihre Kunst am meisten verehrt. "Mögest du nie vergessen", sagt er auf einem von Salomons Bildern, "dass ich an dich glaube". Foenkinos übernimmt diesen Satz.
Im Roman kann es kein Happy End geben. Aber bis Foenkinos den Punkt erreicht, an dem er über das hinausgehen muss, was Salomon in ihrem autobiographischen Stück erzählt, versucht er, ihr so treu wie möglich zu bleiben. Dabei entwickelt die stilistische Entscheidung für den eigentümlichen Textsatz ihre Qualitäten. Die Erzählung hat durch ihn einen eigenen Rhythmus, sie jagt durch die Zeiten, von Hauptsatz zu Hauptsatz, im Präsens.
Die Künstlerin wie der Schriftsteller schaffen mit der Geschichte das Gegenteil des traditionell erzählten Romans. Dieser vertieft sich in das Gefühlsleben seiner Helden, deren Gefühle und Gedanken die Handlung vorgeben. Salomon und Foenkinos rasen aber weiter, ihr Strom fließt reißend wie der von Moritatensängern. Charlotte Salomons Stärke, ihr Genie, liegt darin, die größten Umbrüche in einem einzigen Bild fassen zu können. Bei ihren besten Gemälden ist es so, als ob die Großen der Moderne aus lauter Zuneigung zu diesem begabten jungen Geschöpf einfach mithalfen, ein bisschen van Gogh, ein wenig Munch oder Matisse, der deutsche Expressionismus, dazu das Glitzern eines Opernabends, das Tempo des Kinos.
Foenkinos findet immer wieder einzelne Sätze, die alles sagen und keinen weiteren brauchen. Ein Beispiel: Als Charlottes Mutter über den Selbstmord der Schwester fast wahnsinnig wird, was niemand in der Familie wahrnimmt, bringt Foenkinos ihr Alleinsein, die einsame Trauer, mit einer Beobachtung auf den Punkt. Charlottes Mutter hat einen Menschen verloren, wie eine Witwe oder eine Waise. Aber: "Wie sagt man, wenn man seine Schwester verloren hat? Es gibt gar kein Wort, man sagt gar nichts."
Eine zweite Tugend besitzt die Erzählweise in Strophen außerdem. Sie sieht aus wie ein Gedicht, und jeder Seite haftet damit etwas Fiktives an. Tatsachenberichte stehen im Blocksatz, etwa die Biographie, die 1997 die amerikanische Historikerin Mary Lowenthal Felstiner veröffentlichte und die leider nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Sie trägt den Titel "To Paint Her Life. Charlotte Salomon in the Nazi Era".
Foenkinos will aber eben nicht nur Salomons Leben erzählen, sondern dem Geschriebenen die Schönheit verleihen, die Salomons Bilder auszeichnen. Dafür muss er die Sprache ausschöpfen. Die Form ist eine Respektbekundung, mit der deutlich wird, dass der Erzähler nicht beansprucht, die wahre Geschichte zu kennen. Und sie ist eine Spiegelung der Mittel, zu denen Salomon griff.
Es gibt auch Passagen, die verrutschen. Foenkinos etwa schildert, wie er die Geschichte recherchiert, nach Südfrankreich fährt, um den Ort zu sehen, wo Salomon Unterschlupf fand. Die einstige Villa einer amerikanischen Mäzenin wurde jedoch abgerissen, eine Luxusvilla errichtet. Die heutige Besitzerin weist den Schriftsteller unfreundlich ab. "Doch immerhin", schreibt er, "ließ diese Frau mich einen Hauch von 1943 spüren." Leben wie die von Charlotte Salomon oder auch Anne Frank ziehen häufig die Überidentifikation der Bewunderer nach sich. Einen solchen vermessenen Satz, so wünscht man sich, hätte jedoch ein Lektor streichen müssen.
Niemand wird behaupten, dass dieser Roman wie Salomons Malerei ein Jahrhundertwerk ist. Auch Foenkinos läge es fern, das zu beanspruchen. Er stellt sich in den Dienst, er versucht nicht zu konkurrieren. Es ist aber die beste Erzählung über das Leben der Künstlerin, die wir haben. Man wünscht diesem Buch Glück. Möge es sich, so oft es nur geht, vervielfältigen.
JULIA VOSS
David Foenkinos: "Charlotte". Roman. DVA, 240 Seiten, 17,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.01.2016Kalkulierter Kitsch
David Foenkinos’ Roman über die jüdische Malerin Charlotte Salomon
Charlotte Salomon aus Berlin-Charlottenburg, von Beruf Zeichnerin, 26 Jahre alt und im fünften Monat schwanger, verhaftet am 12. September 1943 in Villefranche-sur-Mer (Provence), wurde am 7. Oktober nach Auschwitz deportiert, wo sie vermutlich unmittelbar nach der Ankunft ermordet wurde. Hinterlassen hat sie ein beispielloses künstlerisches Werk von so bestechender Originalität, menschlicher Reife und formaler Komplexität, dass es zahlreiche Künstler anderer Sparten zu selbständigen Interpretationen auf Bühne, Leinwand und Papier inspiriert hat, zuletzt bei den Salzburger Festspielen 2014 zur von Luc Bondy aufgeführten Oper des Komponisten Marc-André Dalbavie und der das Libretto besorgenden Schriftstellerin Barbara Honigmann.
Und wenn je ein modernes Gesamtkunstwerk sämtliche Gattungsgrenzen der Malerei zu Literatur und Musik, zu Theater, Tanz und Film in Bild und Schrift souverän überschritten hat – als Herausforderung für den Museumsbetrieb und für die akademische Kunstgeschichte, die sich dem noch kaum zu stellen wagte –, dann sind es jene rund achthundert mit Gouache bemalten und beschrifteten Blätter, die Charlotte Salomon im letzten Jahr ihres Lebens schuf, um sie in numerischer Folge zum geschlossenen Konvolut unter dem Titel „Leben? Oder Theater? Ein Singespiel“ zu bündeln und so der Nachwelt zu hinterlassen.
Wiederentdeckt in der Nachkriegszeit, ist dieses Werk seit einem halben Jahrhundert publiziert und durchaus präsent: Verwahrt im Amsterdamer Jüdischen Museum war es in zahllosen Einzel- und Wanderausstellungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte rund um den Globus zu sehen. Ergänzt um eine Tonspur mit Liedern und Musikstücken, die von der Künstlerin selbst ausgewählt waren, steht es längst vollständig auch im Netz (www.jhm.nl/collectie/thema's/charlotte-salomon).
Die komplexen Rezeptionsvorgaben, die das Werk der Charlotte Salomon selbst transportiert, sind nur dadurch zu unterlaufen, dass man ihm kraft Unterbietung Gewalt antut. Dies gelingt dem französischen Bestsellerautor David Foenkinos, der auch in Deutschland durch leichtfüßige Unterhaltungsromane bekannt geworden ist. Seine Romanfiguren sind meist wie besessen von ihren Neigungen und Neurosen, so wie Hector, der von manischer Sammelleidenschaft heimgesuchte Held des Romans „Das erotische Potential meiner Frau“ (2015). Als Hector seine Brigitte einmal beim Fensterputzen beobachtet, versetzt ihn dies in solche Erregung, dass er die Leichtbekleidete von nun an heimlich bei jenem Tun filmt und mit den Videos eine Sammlung anlegt.
Mit dem Ausruf „Charlotte, mon obsession“ meldet sich Foenkinos in seinem Roman über das Leben der Charlotte Salomon jetzt selbst zu Wort, um der Titelfigur wie ein Paparazzo nachzustellen. Schamlos ist dies aus gleich mehreren Gründen: Erstens tut der Autor dabei so, als wäre Charlotte Salomon seine persönliche Entdeckung, ein Mädchen, das sich auf seinen Vornamen reduzieren und an die Hand eines ihm zur Sprache verhelfenden auktorialen Erzählers nehmen ließe. Zweitens hat sich Foenkinos offenbar fleißig der über seine Heldin längst reichlich vorhandenen internationalen Literatur bedient, tut dabei aber so, als sei die auch durch Erinnerungen von Zeitzeugen sowie in Dokumentarfilmen vollständig rekonstruierte Biografie das Ergebnis langwieriger eigener Recherchen.
Und drittens hat er ein Werk der Autofiktion zu Kitsch verrührt, welcher vermeintlich authentische Gefühle und Sinnesregungen wiederzugeben vorgibt, wohingegen die Künstlerin selbst sich noch artistisch quasi verdoppelt hatte, insofern sie gegenüber ihrer Lebensgeschichte und dem mit fiktiven Namen versehenen biografischen Personal die entrückte Position einer anonymen Erzählerin einnahm.
Sämtliche Kunstmittel einer reflektierten Distanznahme – von Ironie und Selbstironie über Lakonie, Sarkasmus, Scherz und Satire bis hin zur Karikatur, Kolportage und Persiflage – werden bei Foenkinos wieder zurückgenommen. Damit fällt der Roman weit hinter den im Werk der Künstlerin selbst erheischten Grad der Reflexion zurück, um das Kunstwerk bloß noch nachzuerzählen, als hätte er es mit einem bebilderten Tagebuch aus Charlottes Kindheit und Jugend zu tun. Von dem originellem Werk der Künstlerin bleibt bei Foenkinos nur süßlicher und sentimentaler Schmock zurück, der allenfalls noch jene Leser erreichen kann, die von dieser Malerin noch nie etwas gehört oder gesehen haben, oder aber solche, die sich durch pseudoromantische Kitschmotive von schönen, gebildeten, leidenschaftlichen, aber unglücklichen Jüdinnen – je unglücklicher, desto besser – kitzeln lassen.
Schamlos ist aber auch, dass Foenkinos, beginnend mit dem Anfangssatz des Romans („An einem Grabstein lernt Charlotte ihren Namen lesen“), seiner Heldin als ererbtes Schicksal eine Art Todesverfallenheit zuschreibt. Dem Vernichtungstod in Auschwitz wird damit eine Schicksalshaftigkeit unterstellt, die ihre Vorgeschichte in der familiären Häufung weiblicher Suizide gefunden haben soll: „Die Erblast war zu schwer. Das Übel zehrte den Stammbaum mitsamt den Wurzeln auf.“ Das ist unerhört und geradezu widerlich.
Doch auch damit nicht genug, weitet Foenkinos die literarische Verfolgung seiner Heldin von Berlins „Charlottenviertel“, alias Charlottenburg, mit dem Savignyplatz im Zentrum – die Welt kennt dieses Berlin aus Bob Fosses „Cabaret“ mit Liza Minelli – über die Provence hinaus tatsächlich bis nach Auschwitz aus und folgt dem nackten Opfer mit voyeuristischem Grausen noch bis unter die Dusche der Gaskammer.
Mit einem eitlen „Bonjour, Madame, ich bin Schriftsteller“, sucht Fionkinos sich in Berlin und in der Provence Zugang zu einstigen Schauplätzen des Lebens seiner Angebeteten zu verschaffen. Scheinheilig beklagt er sich dann auch noch darüber, dass ihm, der in fremden Behausungen nichts zu suchen hat, die Tür vor der zudringlichen Nase zugeschlagen wird. Und als Tiefpunkte der Unterformung – im augenfälligen Kontrast zur ästhetischen Überformung, die das durch einen souveränen Akt künstlerischer Selbstfindung, Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung in große Kunst verwandelte Leben in Charlotte Salomons Werk gefunden hat – sind da noch Foenkinos stereotyp gereihte Hauptsätze: Von der ersten bis zur letzten Seite füllen sie jeweils eine Zeile, um das gespreizte Fake eines vermeintlichen Prosagedichts zu erzeugen, die vage Anmutung eines Gebets, ja eines wie aus einem Guss gebildeten Epitaphs.
Seltsam, dass dieser Roman in Frankreich, wo er 2014 erschien, sowohl mit dem angesehenen Prix Renaudot wie mit dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet wurde, der vom Erziehungsministerium mitvergeben wird und Bücher prämiert, durch deren Lektüre die Schüler an herausragenden Beispielen mit der französischen Gegenwartsliteratur vertraut gemacht werden sollen.
VOLKER BREIDECKER
Mit ungehemmter Zudringlichkeit
verfolgt der Autor seine Heldin
bis ins Vernichtungslager
David Foenkinos: Charlotte. Roman. Aus dem Französischen von Christian Kolb. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
240 Seiten, 17,99 Euro. E-Book 13,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
David Foenkinos’ Roman über die jüdische Malerin Charlotte Salomon
Charlotte Salomon aus Berlin-Charlottenburg, von Beruf Zeichnerin, 26 Jahre alt und im fünften Monat schwanger, verhaftet am 12. September 1943 in Villefranche-sur-Mer (Provence), wurde am 7. Oktober nach Auschwitz deportiert, wo sie vermutlich unmittelbar nach der Ankunft ermordet wurde. Hinterlassen hat sie ein beispielloses künstlerisches Werk von so bestechender Originalität, menschlicher Reife und formaler Komplexität, dass es zahlreiche Künstler anderer Sparten zu selbständigen Interpretationen auf Bühne, Leinwand und Papier inspiriert hat, zuletzt bei den Salzburger Festspielen 2014 zur von Luc Bondy aufgeführten Oper des Komponisten Marc-André Dalbavie und der das Libretto besorgenden Schriftstellerin Barbara Honigmann.
Und wenn je ein modernes Gesamtkunstwerk sämtliche Gattungsgrenzen der Malerei zu Literatur und Musik, zu Theater, Tanz und Film in Bild und Schrift souverän überschritten hat – als Herausforderung für den Museumsbetrieb und für die akademische Kunstgeschichte, die sich dem noch kaum zu stellen wagte –, dann sind es jene rund achthundert mit Gouache bemalten und beschrifteten Blätter, die Charlotte Salomon im letzten Jahr ihres Lebens schuf, um sie in numerischer Folge zum geschlossenen Konvolut unter dem Titel „Leben? Oder Theater? Ein Singespiel“ zu bündeln und so der Nachwelt zu hinterlassen.
Wiederentdeckt in der Nachkriegszeit, ist dieses Werk seit einem halben Jahrhundert publiziert und durchaus präsent: Verwahrt im Amsterdamer Jüdischen Museum war es in zahllosen Einzel- und Wanderausstellungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte rund um den Globus zu sehen. Ergänzt um eine Tonspur mit Liedern und Musikstücken, die von der Künstlerin selbst ausgewählt waren, steht es längst vollständig auch im Netz (www.jhm.nl/collectie/thema's/charlotte-salomon).
Die komplexen Rezeptionsvorgaben, die das Werk der Charlotte Salomon selbst transportiert, sind nur dadurch zu unterlaufen, dass man ihm kraft Unterbietung Gewalt antut. Dies gelingt dem französischen Bestsellerautor David Foenkinos, der auch in Deutschland durch leichtfüßige Unterhaltungsromane bekannt geworden ist. Seine Romanfiguren sind meist wie besessen von ihren Neigungen und Neurosen, so wie Hector, der von manischer Sammelleidenschaft heimgesuchte Held des Romans „Das erotische Potential meiner Frau“ (2015). Als Hector seine Brigitte einmal beim Fensterputzen beobachtet, versetzt ihn dies in solche Erregung, dass er die Leichtbekleidete von nun an heimlich bei jenem Tun filmt und mit den Videos eine Sammlung anlegt.
Mit dem Ausruf „Charlotte, mon obsession“ meldet sich Foenkinos in seinem Roman über das Leben der Charlotte Salomon jetzt selbst zu Wort, um der Titelfigur wie ein Paparazzo nachzustellen. Schamlos ist dies aus gleich mehreren Gründen: Erstens tut der Autor dabei so, als wäre Charlotte Salomon seine persönliche Entdeckung, ein Mädchen, das sich auf seinen Vornamen reduzieren und an die Hand eines ihm zur Sprache verhelfenden auktorialen Erzählers nehmen ließe. Zweitens hat sich Foenkinos offenbar fleißig der über seine Heldin längst reichlich vorhandenen internationalen Literatur bedient, tut dabei aber so, als sei die auch durch Erinnerungen von Zeitzeugen sowie in Dokumentarfilmen vollständig rekonstruierte Biografie das Ergebnis langwieriger eigener Recherchen.
Und drittens hat er ein Werk der Autofiktion zu Kitsch verrührt, welcher vermeintlich authentische Gefühle und Sinnesregungen wiederzugeben vorgibt, wohingegen die Künstlerin selbst sich noch artistisch quasi verdoppelt hatte, insofern sie gegenüber ihrer Lebensgeschichte und dem mit fiktiven Namen versehenen biografischen Personal die entrückte Position einer anonymen Erzählerin einnahm.
Sämtliche Kunstmittel einer reflektierten Distanznahme – von Ironie und Selbstironie über Lakonie, Sarkasmus, Scherz und Satire bis hin zur Karikatur, Kolportage und Persiflage – werden bei Foenkinos wieder zurückgenommen. Damit fällt der Roman weit hinter den im Werk der Künstlerin selbst erheischten Grad der Reflexion zurück, um das Kunstwerk bloß noch nachzuerzählen, als hätte er es mit einem bebilderten Tagebuch aus Charlottes Kindheit und Jugend zu tun. Von dem originellem Werk der Künstlerin bleibt bei Foenkinos nur süßlicher und sentimentaler Schmock zurück, der allenfalls noch jene Leser erreichen kann, die von dieser Malerin noch nie etwas gehört oder gesehen haben, oder aber solche, die sich durch pseudoromantische Kitschmotive von schönen, gebildeten, leidenschaftlichen, aber unglücklichen Jüdinnen – je unglücklicher, desto besser – kitzeln lassen.
Schamlos ist aber auch, dass Foenkinos, beginnend mit dem Anfangssatz des Romans („An einem Grabstein lernt Charlotte ihren Namen lesen“), seiner Heldin als ererbtes Schicksal eine Art Todesverfallenheit zuschreibt. Dem Vernichtungstod in Auschwitz wird damit eine Schicksalshaftigkeit unterstellt, die ihre Vorgeschichte in der familiären Häufung weiblicher Suizide gefunden haben soll: „Die Erblast war zu schwer. Das Übel zehrte den Stammbaum mitsamt den Wurzeln auf.“ Das ist unerhört und geradezu widerlich.
Doch auch damit nicht genug, weitet Foenkinos die literarische Verfolgung seiner Heldin von Berlins „Charlottenviertel“, alias Charlottenburg, mit dem Savignyplatz im Zentrum – die Welt kennt dieses Berlin aus Bob Fosses „Cabaret“ mit Liza Minelli – über die Provence hinaus tatsächlich bis nach Auschwitz aus und folgt dem nackten Opfer mit voyeuristischem Grausen noch bis unter die Dusche der Gaskammer.
Mit einem eitlen „Bonjour, Madame, ich bin Schriftsteller“, sucht Fionkinos sich in Berlin und in der Provence Zugang zu einstigen Schauplätzen des Lebens seiner Angebeteten zu verschaffen. Scheinheilig beklagt er sich dann auch noch darüber, dass ihm, der in fremden Behausungen nichts zu suchen hat, die Tür vor der zudringlichen Nase zugeschlagen wird. Und als Tiefpunkte der Unterformung – im augenfälligen Kontrast zur ästhetischen Überformung, die das durch einen souveränen Akt künstlerischer Selbstfindung, Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung in große Kunst verwandelte Leben in Charlotte Salomons Werk gefunden hat – sind da noch Foenkinos stereotyp gereihte Hauptsätze: Von der ersten bis zur letzten Seite füllen sie jeweils eine Zeile, um das gespreizte Fake eines vermeintlichen Prosagedichts zu erzeugen, die vage Anmutung eines Gebets, ja eines wie aus einem Guss gebildeten Epitaphs.
Seltsam, dass dieser Roman in Frankreich, wo er 2014 erschien, sowohl mit dem angesehenen Prix Renaudot wie mit dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet wurde, der vom Erziehungsministerium mitvergeben wird und Bücher prämiert, durch deren Lektüre die Schüler an herausragenden Beispielen mit der französischen Gegenwartsliteratur vertraut gemacht werden sollen.
VOLKER BREIDECKER
Mit ungehemmter Zudringlichkeit
verfolgt der Autor seine Heldin
bis ins Vernichtungslager
David Foenkinos: Charlotte. Roman. Aus dem Französischen von Christian Kolb. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
240 Seiten, 17,99 Euro. E-Book 13,99 Euro.
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