Produktdetails
- Verlag: Delta / Import
- Seitenzahl: 243
- Englisch
- Abmessung: 205mm
- Gewicht: 197g
- ISBN-13: 9780385333344
- Artikelnr.: 21275242
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2002Verrückt nach Eva
Lebenslügen: Alice McDermott macht Tote zu Tankstellenpächtern
Als Billy Lynch stirbt, versammelt sich seine weitverzweigte Familie zum Leichenschmaus in der Bronx. Billy Lynchs Ehe mit Maeve blieb kinderlos, aber es sind die Schwestern und Vettern gekommen, die Cousinen, Onkel und Tanten, deren Kinder und Kindeskinder. Siebenundvierzig Trauergäste sind es insgesamt. Das Lokal, Maeve hat es ausfindig gemacht, scheint allen ein stimmiger Ort für den Anlaß. Die Erzählerin des Romans - später wird klar, daß es sich um eine Großnichte Billys handelt - beschreibt die Wirkung des Gasthauses auf die Anwesenden so: Es hätte "einen irischen Pub auf dem Lande" abgeben können. Oder, mit den Dialogen eines John Millington Synge, "die Bühnendekoration für ein ländliches irisches Schauspiel".
Alice McDermott ist so gewitzt, gleich zu Beginn ihres Romans "Irischer Abschied" auf die Kulissenhaftigkeit der Handlung aufmerksam zu machen. So wird alle Sehnsucht, die auf den kommenden Seiten die Protagonisten der irischen Diaspora erfaßt, gleichsam in sich gespiegelt. Sie alle wissen um den Tribut der Nostalgie, man reise nicht zurück, dann währt die Liebe zum Land der Herkunft am längsten.
Billy Lynch, der Verstorbene, weihte seine Sehnsucht einem irischen Mädchen. Noch während des Totenmahls kommt die Rede auf jene Eva, die Billy im Sommer 1945 auf Long Island kennenlernte. Alle wissen etwas von dieser Angelegenheit, Billys Schwester Kate erinnert sich am besten. Die Romanze zwischen Billy und Eva dauerte einen Sommer, Eva reiste im Herbst nach Irland zurück. Danach begann Billy, im Schuhgeschäft des Deutschen Holtzman Überstunden zu schieben. Holtzman gewährte ihm einen Vorschuß von fünfhundert Dollar, den Billy nach Irland schickte, um Eva die Rückfahrt nach Amerika zu finanzieren. Kurze Zeit später erreichte ihn die Nachricht, daß Eva mit 26 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben sei. Billy habe ihren Eltern geschrieben, daß sie den Scheck behalten könnten. Er habe mit dem Trinken angefangen, er sei als Alkoholiker gestorben. Er habe nie wieder von Eva gesprochen, sie auch gegenüber seiner Frau Maeve niemals erwähnt. Soweit die gängige Version der Geschichte. Es gibt eine andere, die vertraut einer von Billys Vettern, Dennis, auf dem Heimweg seiner Tochter an. Er gibt ein Geheimnis preis, das er fast vierzig Jahre lang gehütet hat: Eva ist gar nicht gestorben.
Mit der Exposition dieses Romans ist dem Leser der gesamte Handlungsbogen bekannt. Das könnte ein riskantes Unternehmen sein, doch es gelingt Alice McDermott, das Interesse des Lesers mit immer neuen Aspekten zu ködern. Zunächst gilt es, Dennis' Motive für eine solche Lüge zu klären und zu entscheiden, ob sie eine Ungeheuerlichkeit oder ein Segen für Billys Leben darstellte: Ob die nüchterne Wahrheit, daß Eva einen Tom aus Clonmel heiratete und mit Billys Scheck eine Tankstelle eröffnete, schneller zu verschmerzen gewesen wäre als der immerwährende Tod des geliebten Mädchens. Dennis, der sich im Sommer 1945 aus Zuneigung zu seinem Cousin für die Lüge entschieden hatte, deutet an, daß er sich geirrt habe und daß er sich schuldig fühle.
An diesem Punkt gibt sich Dennis' Tochter, die im übrigen namenlos bleibt, als Erzählerin zu erkennen. Sie bündelt die verschiedenen Stimmen, aus denen Billys Geschichte entsteht. Sie berichtet, was ihr der Vater aus seiner und Billys Jugend anvertraut, sie hört den Trauergästen am Abend in Maeves Wohnung zu, und sie steuert in zunehmend engagiertem Maße ihre eigenen Erinnerungen an Billy bei. Doch bald kristallisiert sich eine gültige Version der Ereignisse heraus. Man versteht, daß Billy ein Mann von bescheidenem Lebenswandel war und mit einem Hang zu großen Träumen. Er liebte den Alkohol genauso wie den Verlust seiner großen Liebe. Dem Alkohol blieb er treu. Eine Prise Starrsinn komplettiert das Charakterbild eines charmanten Iren, im Original heißt der Roman ganz treffend "Charming Billy".
Die Halbzeit des Lebens von Billy Lynch, seine doppelte Enttäuschung und der Entschluß für den Alkohol fallen auf das Jahr 1975. Es ist wieder Sommer, die drei Protagonisten, Vater, Tochter und Billy, treffen sich auf Long Island. Billy hat eine Reise nach Irland hinter sich, er hat ein Gelübde gegen den Alkohol abgelegt und es wieder gebrochen, er hat Eva in ihrer Tankstelle wiedergesehen und nichts geklärt. Er ist zum erstenmal wieder an dem Ort, an dem vor dreißig Jahren alles begonnen hatte. Dies ist Billys größter zusammenhängender Auftritt in dem Roman, die Autorin hat ihn so überschwenglich gestaltet, daß man ihre sonstige Zurückhaltung im Umgang mit dem Protagonisten nur gutheißen kann. Billys Augen füllen sich mit Tränen, während er über die verpatzte Geschichte mit Eva lacht, und natürlich zitiert er Liebesgedichte von William Butler Yeats. Der Mann scheint nach einem Urbild geformt, das jeder Amerikaner irischer Abstammung in sich tragen mag, und er wirkt so lebendig wie der Wunsch nach einem solchen Ahnen. Wem der Ire an sich schnuppe ist, dem bleibt immer noch die Schlußfolgerung, daß man an der Größe eines Irrtums auch die Größe des Irrenden ermessen kann.
TANYA LIESKE
Alice McDermott: "Irischer Abschied". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Jendis. Claassen Verlag, München 2001. 334 S., geb., 20,95.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lebenslügen: Alice McDermott macht Tote zu Tankstellenpächtern
Als Billy Lynch stirbt, versammelt sich seine weitverzweigte Familie zum Leichenschmaus in der Bronx. Billy Lynchs Ehe mit Maeve blieb kinderlos, aber es sind die Schwestern und Vettern gekommen, die Cousinen, Onkel und Tanten, deren Kinder und Kindeskinder. Siebenundvierzig Trauergäste sind es insgesamt. Das Lokal, Maeve hat es ausfindig gemacht, scheint allen ein stimmiger Ort für den Anlaß. Die Erzählerin des Romans - später wird klar, daß es sich um eine Großnichte Billys handelt - beschreibt die Wirkung des Gasthauses auf die Anwesenden so: Es hätte "einen irischen Pub auf dem Lande" abgeben können. Oder, mit den Dialogen eines John Millington Synge, "die Bühnendekoration für ein ländliches irisches Schauspiel".
Alice McDermott ist so gewitzt, gleich zu Beginn ihres Romans "Irischer Abschied" auf die Kulissenhaftigkeit der Handlung aufmerksam zu machen. So wird alle Sehnsucht, die auf den kommenden Seiten die Protagonisten der irischen Diaspora erfaßt, gleichsam in sich gespiegelt. Sie alle wissen um den Tribut der Nostalgie, man reise nicht zurück, dann währt die Liebe zum Land der Herkunft am längsten.
Billy Lynch, der Verstorbene, weihte seine Sehnsucht einem irischen Mädchen. Noch während des Totenmahls kommt die Rede auf jene Eva, die Billy im Sommer 1945 auf Long Island kennenlernte. Alle wissen etwas von dieser Angelegenheit, Billys Schwester Kate erinnert sich am besten. Die Romanze zwischen Billy und Eva dauerte einen Sommer, Eva reiste im Herbst nach Irland zurück. Danach begann Billy, im Schuhgeschäft des Deutschen Holtzman Überstunden zu schieben. Holtzman gewährte ihm einen Vorschuß von fünfhundert Dollar, den Billy nach Irland schickte, um Eva die Rückfahrt nach Amerika zu finanzieren. Kurze Zeit später erreichte ihn die Nachricht, daß Eva mit 26 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben sei. Billy habe ihren Eltern geschrieben, daß sie den Scheck behalten könnten. Er habe mit dem Trinken angefangen, er sei als Alkoholiker gestorben. Er habe nie wieder von Eva gesprochen, sie auch gegenüber seiner Frau Maeve niemals erwähnt. Soweit die gängige Version der Geschichte. Es gibt eine andere, die vertraut einer von Billys Vettern, Dennis, auf dem Heimweg seiner Tochter an. Er gibt ein Geheimnis preis, das er fast vierzig Jahre lang gehütet hat: Eva ist gar nicht gestorben.
Mit der Exposition dieses Romans ist dem Leser der gesamte Handlungsbogen bekannt. Das könnte ein riskantes Unternehmen sein, doch es gelingt Alice McDermott, das Interesse des Lesers mit immer neuen Aspekten zu ködern. Zunächst gilt es, Dennis' Motive für eine solche Lüge zu klären und zu entscheiden, ob sie eine Ungeheuerlichkeit oder ein Segen für Billys Leben darstellte: Ob die nüchterne Wahrheit, daß Eva einen Tom aus Clonmel heiratete und mit Billys Scheck eine Tankstelle eröffnete, schneller zu verschmerzen gewesen wäre als der immerwährende Tod des geliebten Mädchens. Dennis, der sich im Sommer 1945 aus Zuneigung zu seinem Cousin für die Lüge entschieden hatte, deutet an, daß er sich geirrt habe und daß er sich schuldig fühle.
An diesem Punkt gibt sich Dennis' Tochter, die im übrigen namenlos bleibt, als Erzählerin zu erkennen. Sie bündelt die verschiedenen Stimmen, aus denen Billys Geschichte entsteht. Sie berichtet, was ihr der Vater aus seiner und Billys Jugend anvertraut, sie hört den Trauergästen am Abend in Maeves Wohnung zu, und sie steuert in zunehmend engagiertem Maße ihre eigenen Erinnerungen an Billy bei. Doch bald kristallisiert sich eine gültige Version der Ereignisse heraus. Man versteht, daß Billy ein Mann von bescheidenem Lebenswandel war und mit einem Hang zu großen Träumen. Er liebte den Alkohol genauso wie den Verlust seiner großen Liebe. Dem Alkohol blieb er treu. Eine Prise Starrsinn komplettiert das Charakterbild eines charmanten Iren, im Original heißt der Roman ganz treffend "Charming Billy".
Die Halbzeit des Lebens von Billy Lynch, seine doppelte Enttäuschung und der Entschluß für den Alkohol fallen auf das Jahr 1975. Es ist wieder Sommer, die drei Protagonisten, Vater, Tochter und Billy, treffen sich auf Long Island. Billy hat eine Reise nach Irland hinter sich, er hat ein Gelübde gegen den Alkohol abgelegt und es wieder gebrochen, er hat Eva in ihrer Tankstelle wiedergesehen und nichts geklärt. Er ist zum erstenmal wieder an dem Ort, an dem vor dreißig Jahren alles begonnen hatte. Dies ist Billys größter zusammenhängender Auftritt in dem Roman, die Autorin hat ihn so überschwenglich gestaltet, daß man ihre sonstige Zurückhaltung im Umgang mit dem Protagonisten nur gutheißen kann. Billys Augen füllen sich mit Tränen, während er über die verpatzte Geschichte mit Eva lacht, und natürlich zitiert er Liebesgedichte von William Butler Yeats. Der Mann scheint nach einem Urbild geformt, das jeder Amerikaner irischer Abstammung in sich tragen mag, und er wirkt so lebendig wie der Wunsch nach einem solchen Ahnen. Wem der Ire an sich schnuppe ist, dem bleibt immer noch die Schlußfolgerung, daß man an der Größe eines Irrtums auch die Größe des Irrenden ermessen kann.
TANYA LIESKE
Alice McDermott: "Irischer Abschied". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Jendis. Claassen Verlag, München 2001. 334 S., geb., 20,95
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