Wir befinden uns im Jahr 2064. Die Welt ist durch einen Zaun geteilt: hier Fortschritt und Demokratie, dort Rückschritt, Diktatur und religiöser Fanatismus. Doch das Wohlstandsreich will verteidigt sein, Prävention ist angesagt wie noch nie. Dies ist die Aufgabe der beiden Ashcroft-Männer Max Schwarzwald und Chen Wu, Partner - aber alles andere als Freunde.
Freiheit, Gleichheit, Sicherheit: Jakob Arjouni versucht sich an einem Science-fiction-Krimi / Von Thomas Wagner
Da ist die Sache mit der Fischsuppe. Aus einem solchen Gericht hätte etwas werden können, selbst im deutschen Nobelrestaurant "Chez Max" in Paris, das eigentlich nur der Tarnung dient. Leider spielt die Fischsuppe nur eine untergeordnete Rolle. Denn der für seine Kayankaya-Krimis wie für seine Fähigkeit, Spannung und Humor zu mischen, hochgelobte Autor Jakob Arjouni hat es sich partout in den Kopf gesetzt, einen politisch-provokativen Roman schreiben zu wollen, der obendrein so witzig sein will, daß er zugleich als Persiflage seiner selbst gelesen werden kann. Da muß es schon einen Bezug zum 11. September geben, und um weniger als eine neue Weltordnung darf es auch nicht gehen. Also läßt Arjouni seine Geschichte in einer nicht allzu fernen Zukunft spielen, genauer im Jahr 2064, dem Jahr, in dem, zu allem Überfluß, der Autor selbst, 1964 in Frankfurt geboren, hundert würde.
Schon das erste Kapitel ist recht zäh und voller Klischees, über die man kaum lachen kann. Da gibt es, wir befinden uns schließlich in der Zukunft, etwa das "neueste Eurosecurity-Einsatzmobil", das nicht nur wie ein "riesiger tropischer Käfer" aussieht, sondern auch noch auf den schönen Namen "BoWaLu" getauft wurde, was, weil es fahren, schwimmen und fliegen kann, soviel heißt wie Boden, Wasser, Luft. Gut, gut, das erinnert an doofe Zukunftsbedrohungsszenarienschnulzen,aber deshalb muß man so einen Quatsch ja nicht gleich wiederholen. Und irgendwo zwischen seinem Luxusrestaurant und einer Welt voll von allerlei technischem Schnickschnack treibt sich nun Max Schwarzwald herum, ein "Ashcroft-Mann", so genannt nach dem ehemaligen amerikanischen Justizminister und so etwas wie der Garant der bestehenden Ordnung, weil er - wie in Spielbergs "Minority Report" - Verbrecher überführt und unschädlich macht, noch ehe sie ihre Verbrechen begangen haben. Schon nach dem 11. September, wird man belehrt, sei dies der "entscheidende theoretische Neuansatz zur Sicherung von Freiheit und Demokratie" gewesen, und noch immer stünde Ashcrofts im kleinen Kreis um den amerikanischen Präsidenten geäußerter Satz "an den Wänden jeder zweiten Ashcroft-Büro-Toilette: Let's crush the motherfuckers before they crush us".
Nachdem Max seine Unfähigkeit als Präventivspitzel dadurch bewiesen hat, daß er ausgerechnet seinen Freund Leon, einen produktionsgehemmten Maler, wegen Rauchens und Drogen verraten hat, wird man langatmig über die Welt im Jahr 2064 aufgeklärt. Um es kurz zu machen: Die zivilisierte Welt, das sind Europa und China, genauer, die "euro-chinesische Konföderation, die den von Krieg und Terroristenjagd ausgepumpten, hochverschuldeten USA erst sämtliche Kredite strich und bald darauf in der Lage war, Nordamerika quasi aufzukaufen". Amerika gehört zwar noch zur westlichen Zivilisation, doch ist es zum bedeutungslosen Versorgerland herabgesunken, als habe irgendwer den guten alten Morgentau-Plan aus der Schublade gezogen.
Damit das "einst mächtigste Land der Welt" nicht ganz in Vergessenheit gerät, wurden in Europa und China Organisationen, Bauwerke oder Dinge nach ehemals berühmten Amerikanern benannt. So gibt es eine Robert-de-Niro-Hängebrücke und ein Kurt-Cobain-Kinderferienlager und eine Mundspülung, die Paris Hilton heißt. Der südliche Teil der Welt indes liegt hinter einem unüberwindbaren Zaun, der "einen Großteil potentieller Feinde unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft ein für allemal" wegsperrt - die konsequente Umsetzung der Ashcroftschen Gedanken. Zur Stimmidentifikation sprechen die Agenten: "Liberté, Egalité, Sécurité", doch über alles, was jenseits der eurasischen Festung geschieht, darf nicht gesprochen werden. Armut und Hoffnungslosigkeit sind ein bei Gefängnisstrafe verbotenes Thema.
Leider erfährt der Leser so gut wie nichts von all den Menschen, die diese Welt bewohnen. Alles dreht sich um Max und seine Eifersucht auf Chen, seinen Partner im Distrikt. Chens Gebaren nervt, nicht nur seinen Kollegen Max. Denn Chen ist ein Meister der großen Sprüche, überheblich, vorlaut, ein Kotzbrocken von unerschütterlichem Selbstbewußtsein. Aber er ist erfolgreich, "Super-Chen" eben, das Gegenteil von Max, der stillen Kraft. Und weil Chen es nicht bleibenlassen kann, verbal "ständig Terror zu veranstalten", muß er ein Terrorist sein - und eliminiert werden. So einfach und praktisch ist das Weltbild eines Ashcroft-Manns.
Für den Roman aber bedeutet das: Nur wenn Chen redet, kommt Stimmung auf; nur wenn er agiert, bekommt die Geschichte Tempo. Zu perfekt sind die Rollen verteilt: auf der einen Seite der erfolgreiche Chen, der brillante, witzige, sarkastische Asiate mit einer durchaus attraktiven Freundin, auf der anderen der melancholische Europäer Max, dem sein Restaurant mehr am Herzen liegt als sein Spitzeldienst, der nur vorgibt, ein Frauenheld zu sein, und sich notgedrungen an seinen "Sexomaten" hält.
Arjouni erzählt die Geschichte von Max Schwarzwald schnörkellos und geradlinig. Wie schon in "Hausaufgaben" setzt er auf eine Versuchsanordnung. Doch gerät das Ganze im Bemühen, möglichst locker und unangestrengt daherzukommen, allzu oberflächlich. Alles wirkt ausgedacht und zurechtgebogen. Für eine Persiflage sind die Witze zu schlecht und Arjounis Sprache zu eindimensional. Es fehlt einfach die nötige Portion Wahnsinn, eine Überdosis Verrücktheit à la Pynchon oder eine Dosis Melancholie wie in Philip K. Dicks "Blade Runner", um die Sache mit der düsteren Zukunft im Überwachungsstaat auf die Spitze zu treiben. So bleibt der Roman ein flaches, nur ein wenig in die Zukunft verlängertes Abziehbild unserer Gegenwart, ein gutgemeintes Konstrukt, das weder Beklemmung aufkommen läßt noch wirklich zu erheitern vermag.
Bleibt die Sache mit der Fischsuppe. Ganz nett, aber am Ende doch so harmlos und angestrengt wie das ganze Buch. Als Alexi, einer der Kellner im "Chez Max", fragt: "Chef, warum noch mal heißt unsere Fischsuppe Günter?" antwortet Max: "Das ist der Vorname eines deutschen Nobelpreisträgers für Literatur. Das Rezept ist von ihm." - ",Für Literatur', sagte Alexi gähnend. Seine Haare waren vom Schlaf noch ganz verstrubbelt. ,Irgendwie schade, daß er dann wegen 'nem Suppenrezept in Erinnerung bleibt.' ,Bleibt er ja nicht.' Alexi überlegte. Er war ein netter Kerl, aber nicht der Hellste. ,Aber immerhin fragt jemand danach', sagte er schließlich."
Jakob Arjouni: "Chez Max". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 222 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jakob Arjounis Zukunftsvision eines "faschistischen Disneyland-Europas" im Jahr 2064 gefällt dem Rezensenten Kai Wiegandt aufgrund ihrer Aktualität und ihrer kritischen Seitenhiebe auf gegenwärtige politische Entwicklungen. Dass Arjouni dabei seinem Protagonisten und gedankenlosen Mitläufer Max Schwarzwald ausgerechnet einen deutschen Namen verpasst, interpretiert der Rezensent als Hinweis darauf, dass gerade die in der Vergangenheitsbewältigung versierten Deutschen dazu neigen könnten, im "ultrakorrekt daherkommenden Euro-Totalitarismus" Zuflucht zu suchen. Arjounis politischer Ehrgeiz sei zwar lobenswert, an der literarischen Qualität hat der Rezensent jedoch so seine Zweifel: Schwarzwald mangele es an Vielschichtigkeit und dadurch an Glaubwürdigkeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der viel zu früh verstorbene Frankfurter Schriftsteller Jakob Arjouni war ein Spezialist für Helden in Schwierigkeiten.«