Chilly Gonzales ist einer der aufregendsten Musiker unserer Zeit. In Pantoffeln und Bademantel füllt er weltweit Konzertsäle. Seine Klaviermusik changiert zwischen Klassik, Pop und Jazz, seine Haltung ist die eines Rappers. Enya, die Frau mit der Engelsstimme und den unzählbaren Goldenen Platten, mag manche schmunzeln lassen, Chilly Gonzales jedoch ist begeistert von ihren sanften Songs und der mysteriösen Musikerin. Das bringt ihn zu der Frage: Muss Musik immer klug sein oder darf sie auch einfach nur ins Herz gehen?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.02.2021Hach, schön
Chilly Gonzales’ Essay über die New-Age-Queen Enya
Für jeden, der eine ungefähre Ahnung hat, wer Chilly Gonzales ist, ist es erst mal ein Schock. Hat der cleverste Showman des Indie-Pop, der grundsätzlich in Bademantel und Pantoffeln am Flügel sitzt, auch wenn er mit einem Streichquartett auftritt, der mit Daft Punk und Drake Hits aufgenommen hat und dem es einst gelang, das Wort „Minderwertigkeitskomplex“ in einem Rap-Song unterzubringen – hat dieser Mann wirklich ein Buch über Enya geschrieben? Die Königin des New-Age-Bombast-Kitschpop? Fachfrau für Schlaflieder mit einer Überdosis Pathos, zu denen in den Neunzigern zweitklassige deutsche Mittelgewichtsboxer bei ihrem letzten Kampf einliefen, den sie dann sang- und klanglos verloren? Ja, genau das hat er getan.
Und er meint es auch noch ernst: „Wenn ich Enya höre, denke ich, alles wird gut. Ich stelle mir dann vor, ich bin ein Baby und werde von einer irischen Märchenprinzessin in den Schlaf gesungen.“ Aber eins nach dem anderen.
Der junge Chilly Gonzales, der im Berlin der Neunziger als Komplize von Indie-Pop-Oberhipstern wie Feist, Peaches und Jamie Lidell bekannt wurde, war ein begnadeter ironischer Schwindler und Spieler: „You snooze, you lose“. „Enya“ ist so nun etwas wie der Brief zur Verwandlung des 1972 als Jason Charles Beck in Montreal geborenen Musikers. Seit mindestens zehn Jahren führt er ja genau genommen keine smarten Pop-Travestien mehr auf, sondern zart elegische, satiehafte Piano-Schwelgereien. Zuletzt sogar auf einem Weihnachtsalbum mit Coverversionen von „Stille Nacht“ und „O Tannenbaum“. Fahrstuhlmusik mit Geschmack für ein kulturaffines, urbanes Publikum, das ihn schon liebte, als er noch schwitzend rappte, aber froh ist, dass Gonzales-Konzerte jetzt in wohltemperierten Philharmonie-Sälen stattfinden. Klimper, klimper, hach, schön, oh, 22 Uhr, dann gehen wir jetzt aber mal schlafen, gell.
Als er damit begann, 2004 auf seinem bis heute erfolgreichsten Album „Solo Piano“, schien das noch als lässiger Witz gemeint zu sein. Nach dem Motto: „Hört mal, wenn es sein muss, bringe ich euch sogar dazu, seichtes Pianogeklimper supercool zu finden.“ Und so war es ja auch. In „Enya“, das im Grunde auch eine große Autobiografie en miniature ist, bekennt sich der ausgebildete Jazzpianist nun rührend zerknirscht schuldig, seinen eigenen „uncoolen“ Musikgeschmack früh verleugnet und Musik missbraucht zu haben, „um Leute zu beeindrucken, anstatt mit ihnen in Verbindung zu treten“. Womit Enya ins Spiel kommt.
Der Trick ist, dass Gonzales nicht einfach Enya-Fan ist, sondern leidenschaftlicher Popmusik-Analytiker. Man sehe nur seine brillanten „Pop Music Masterclass“-Videos an, in denen er für den WDR seit einiger Zeit in unregelmäßigen Abständen so unterhaltsam wie erhellend den Zauber von Superhits wie Queens „Bohemian Rhapsody“, Billie Eilishs „Bad Guy“ oder Taylor Swifts „Shake It Off“ entschlüsselt. Im Buch geht es etwa in diesem Sinne, mit Schlenkern zu Nina Simone und den Opernsängerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts, um Fluch und Segen von Vibrato im Gesang. Oder um den Mut, Songs mit simplen Melodien „ohne Ego“ zu erfinden – und um die Kunst, solche Songs dann durch Akkordbegleitung in andere Versionen ihrer selbst zu verwandeln, ohne dass sie sich tatsächlich ändern.
Und so ist „Enya“, auch wenn man Enyas Musik hinterher noch immer nicht ertragen kann, der beste Essay über Pop als Musik, Kunst und Ware, der in der jüngeren Vergangenheit erschienen ist. Mit anderen Worten: Der jüngere, coole Chilly Gonzales ist nicht ganz verschwunden aus dem älteren. Als es sein musste, brachte der es fertig, dass man ein Buch über Enya von ihm gut findet.
JENS-CHRISTIAN RABE
Mit ihr wird alles gut: „Ich stelle
mir dann vor, ich bin ein Baby.“
Chilly Gonzales:
Enya. Aus dem Englischen von Sophie Passmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
96 Seiten, 10 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Chilly Gonzales’ Essay über die New-Age-Queen Enya
Für jeden, der eine ungefähre Ahnung hat, wer Chilly Gonzales ist, ist es erst mal ein Schock. Hat der cleverste Showman des Indie-Pop, der grundsätzlich in Bademantel und Pantoffeln am Flügel sitzt, auch wenn er mit einem Streichquartett auftritt, der mit Daft Punk und Drake Hits aufgenommen hat und dem es einst gelang, das Wort „Minderwertigkeitskomplex“ in einem Rap-Song unterzubringen – hat dieser Mann wirklich ein Buch über Enya geschrieben? Die Königin des New-Age-Bombast-Kitschpop? Fachfrau für Schlaflieder mit einer Überdosis Pathos, zu denen in den Neunzigern zweitklassige deutsche Mittelgewichtsboxer bei ihrem letzten Kampf einliefen, den sie dann sang- und klanglos verloren? Ja, genau das hat er getan.
Und er meint es auch noch ernst: „Wenn ich Enya höre, denke ich, alles wird gut. Ich stelle mir dann vor, ich bin ein Baby und werde von einer irischen Märchenprinzessin in den Schlaf gesungen.“ Aber eins nach dem anderen.
Der junge Chilly Gonzales, der im Berlin der Neunziger als Komplize von Indie-Pop-Oberhipstern wie Feist, Peaches und Jamie Lidell bekannt wurde, war ein begnadeter ironischer Schwindler und Spieler: „You snooze, you lose“. „Enya“ ist so nun etwas wie der Brief zur Verwandlung des 1972 als Jason Charles Beck in Montreal geborenen Musikers. Seit mindestens zehn Jahren führt er ja genau genommen keine smarten Pop-Travestien mehr auf, sondern zart elegische, satiehafte Piano-Schwelgereien. Zuletzt sogar auf einem Weihnachtsalbum mit Coverversionen von „Stille Nacht“ und „O Tannenbaum“. Fahrstuhlmusik mit Geschmack für ein kulturaffines, urbanes Publikum, das ihn schon liebte, als er noch schwitzend rappte, aber froh ist, dass Gonzales-Konzerte jetzt in wohltemperierten Philharmonie-Sälen stattfinden. Klimper, klimper, hach, schön, oh, 22 Uhr, dann gehen wir jetzt aber mal schlafen, gell.
Als er damit begann, 2004 auf seinem bis heute erfolgreichsten Album „Solo Piano“, schien das noch als lässiger Witz gemeint zu sein. Nach dem Motto: „Hört mal, wenn es sein muss, bringe ich euch sogar dazu, seichtes Pianogeklimper supercool zu finden.“ Und so war es ja auch. In „Enya“, das im Grunde auch eine große Autobiografie en miniature ist, bekennt sich der ausgebildete Jazzpianist nun rührend zerknirscht schuldig, seinen eigenen „uncoolen“ Musikgeschmack früh verleugnet und Musik missbraucht zu haben, „um Leute zu beeindrucken, anstatt mit ihnen in Verbindung zu treten“. Womit Enya ins Spiel kommt.
Der Trick ist, dass Gonzales nicht einfach Enya-Fan ist, sondern leidenschaftlicher Popmusik-Analytiker. Man sehe nur seine brillanten „Pop Music Masterclass“-Videos an, in denen er für den WDR seit einiger Zeit in unregelmäßigen Abständen so unterhaltsam wie erhellend den Zauber von Superhits wie Queens „Bohemian Rhapsody“, Billie Eilishs „Bad Guy“ oder Taylor Swifts „Shake It Off“ entschlüsselt. Im Buch geht es etwa in diesem Sinne, mit Schlenkern zu Nina Simone und den Opernsängerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts, um Fluch und Segen von Vibrato im Gesang. Oder um den Mut, Songs mit simplen Melodien „ohne Ego“ zu erfinden – und um die Kunst, solche Songs dann durch Akkordbegleitung in andere Versionen ihrer selbst zu verwandeln, ohne dass sie sich tatsächlich ändern.
Und so ist „Enya“, auch wenn man Enyas Musik hinterher noch immer nicht ertragen kann, der beste Essay über Pop als Musik, Kunst und Ware, der in der jüngeren Vergangenheit erschienen ist. Mit anderen Worten: Der jüngere, coole Chilly Gonzales ist nicht ganz verschwunden aus dem älteren. Als es sein musste, brachte der es fertig, dass man ein Buch über Enya von ihm gut findet.
JENS-CHRISTIAN RABE
Mit ihr wird alles gut: „Ich stelle
mir dann vor, ich bin ein Baby.“
Chilly Gonzales:
Enya. Aus dem Englischen von Sophie Passmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
96 Seiten, 10 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit viel Witz und Übermut springt Rezensent Jens-Christian Rabe in seiner Besprechung durch ein Stück Pop-Geschichte, nämlich die von Chilly Gonzales, der sich hier offenbar mindestens so viel mit sich selbst beschäftigt wie mit der Pop-Ikone Enya. Zwar ist der faszinierte Kritiker am Ende weder von Enyas Musik noch Gonzales Konversion vom Rapper zum Seicht-Pianisten überzeugt. Dennoch erklärt er diesen Aufsatz unumwunden zum "besten Essay über Pop als Musik, Kunst und Ware", die er in letzter Zeit gelesen hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Äußerst lesenswertes Büchlein.« Bruno Jaschke Wiener Zeitung 20210306