Das Wirtschaftswunderland der 90er Jahre steht mehr denn je im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Droht das bevölkerungsreichste Land der Erde unregierbar zu werden? Steht die Auseinandersetzung zwischen Zentralregierung und Provinzen noch bevor? Oder schafft es das Riesenreich, Sozialismus und Marktwirtschaft, Wirtschaftsfreiheit und politische Diktatur zu vereinen? Ein umfassender und außergewöhnlicher Einblick in Alltag und Hintergründe dieses einzigartigen Landes.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.1996China wird sich ändern
Eine neue Dynastie wirft ihre Schatten voraus
Nicholas D. Kristof, Sheryl WuDunn: China erwacht. Die zwei Gesichter einer Weltmacht. Aus dem Amerikanischen von Esther Mattille und Claudia Wang. ECON Verlag, Düsseldorf 1995. 528 Seiten, 58,- Mark.
"Sie ist ein falscher fremder Teufel", tuschelten Chinesen hinter ihrem Rücken, wenn Sheryl WuDunn sich in China als Amerikanerin zu erkennen gab. Frau WuDunn, eine Amerikanerin chinesischer Abstammung, war mit ihrem Mann Korrespondentin für die New York Times in der Volksrepublik China. Sie fand sich dort "in einer Identitätskrise wie ganz China" und suchte auch nach ihren "Wurzeln". Sie schildert einen Besuch in dem Dorf Taishan, aus dem ihr Großvater stammte, der vor Jahrzehnten in die Vereinigten Staaten ausgewandert war. Die junge Frau fand ihre Verwandten arm, kaum des Lesens und Schreibens kundig. Und sie hörte, daß ihr Großvater seine Frau hatte sitzenlassen, allein mit gefälschten Papieren nach Amerika gegangen war und dort wieder geheiratet hatte. Sie beschreibt den Zwiespalt der Gefühle: Scham, aber auch Erleichterung. Ohne ihren Großvater wäre sie nicht in Amerika, sondern in China geboren, wäre auch sie nicht Korrespondentin der New York Times, sondern wahrscheinlich Bäuerin in dem Dorf Taishan.
Sheryl WuDunn und ihr Mann Nicholas Kristof haben über ihre Arbeit in China ein Buch geschrieben, das auf anrührende Weise persönliche Geschichte, journalistische Erlebnisse und chinesischen Alltag verbindet. Das Ehepaar hatte sich voller Eifer im Jahr 1988 in das Abenteuer China gestürzt, motiviert durch politisches Interesse an den Veränderungen, Frau WuDunn war besonders engagiert auch wegen ihrer Herkunft. Ihr chinesisches Aussehen brachte Frau WuDunn Vor- und Nachteile bei der Arbeit in China. Sie konnte sich unters Volk mischen, ohne wie alle anderen westlichen Ausländer durch Haarfarbe und Gesicht aufzufallen. In Händeln mit den Sicherheitsorganen konnte sie aber auch zeitweise erleben, daß die Polizei sie wie eine Chinesin, das heißt rabiat und brutal, behandelte, bis man herausfand, daß man es mit einer Amerikanerin zu tun hatte.
Was die Autoren erlebt und journalistisch packend niedergeschrieben haben, ist oft erschütternd. Man liest die Geschichte eines Pekingers Ehepaares, dessen behinderter Sohn von der Polizei abgeholt und eingesperrt wird, weil die Asienspiele in der Stadt Peking stattfinden sollten und man glaubte, daß der Anblick von geistig Behinderten den ausländischen Besuchern nicht zugemutet werden konnte. Der Sohn stirbt im Gefängnis, den armen Eltern wird ein geschundener, geschlagener Körper präsentiert. Man liest von Dissidenten und was sie im Gefängnis durchzumachen hatten und natürlich von der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989.
Auch bei der Schilderung der Schreckensgeschichten widerstehen aber Kristof und WuDunn der Versuchung, platte Urteile zu fällen, grob auf die bösen Chinesen einzuhauen. Immer wird erklärt, werden Zusammenhänge dargelegt. Eine bösartige Verleumdung Chinas, die das chinesische Außenministerium den beiden ständig vorgeworfen hat, ist dieses Buch nicht. Die Autoren bemühen sich im Gegenteil auch, die positiven Seiten der chinesischen Entwicklung aufzuzeigen: die besseren Lebensbedingungen und materielle Versorgung, die Mobilität, die persönlichen Freiheiten, die zugenommen haben, wie mehr Wahl bei Beruf und Arbeitsplatz, und die Möglichkeiten, ins Ausland zu reisen, für die Bauern die Aufhebung des Bannes, lebenslang ans Dorf gebunden zu sein.
Zu Recht warnen die Autoren davor, den Fortschritt in China als bedeutungslos abzutun, nur weil er in unseren Augen einseitig auf die Wirtschaft beschränkt ist. In einem armen Bergdorf kann eine neue Fabrik, in der die ländliche Bevölkerung Arbeit findet, eine Bedeutung haben, die der einer neuen Freiheit gleichkommt. Ein paar hundert Yuan mehr im Jahr bedeuten auf dem Land, daß auch arme Familien in ein Krankenhaus gehen können, daß Mutter und Kind die Geburt überleben und daß die Kindersterblichkeit zurückgeht.
Auf die Frage, ob es eine Formel für moralischen Ausgleich gibt, die Errungenschaften des Systems gegen seine Gewalttaten aufzurechnen, wissen auch Kristof und WuDunn keine Antwort. Trotz der Gewalttaten, die die Autoren gesehen und über die sie geschrieben haben, trotz der Einblicke in Korruption und Willkürherrschaft, die sie hatten, kommen sie zu einem positiven Ausblick. China werde sich ändern. Die neue Dynastie werfe ihre Schatten voraus. Sie habe die Konturen von Satellitenschüsseln, von schräger Rockmusik und von neuen Privatschulen. Diese Analyse von zwei China-Kennern, denen nun niemand den Vorwurf machen kann, sie verteidigten die chinesische Regierung, läßt hoffen und setzt ein solides Gegengewicht zu der derzeitigen Neigung, in China nur Negatives zu sehen. PETRA KOLONKO
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine neue Dynastie wirft ihre Schatten voraus
Nicholas D. Kristof, Sheryl WuDunn: China erwacht. Die zwei Gesichter einer Weltmacht. Aus dem Amerikanischen von Esther Mattille und Claudia Wang. ECON Verlag, Düsseldorf 1995. 528 Seiten, 58,- Mark.
"Sie ist ein falscher fremder Teufel", tuschelten Chinesen hinter ihrem Rücken, wenn Sheryl WuDunn sich in China als Amerikanerin zu erkennen gab. Frau WuDunn, eine Amerikanerin chinesischer Abstammung, war mit ihrem Mann Korrespondentin für die New York Times in der Volksrepublik China. Sie fand sich dort "in einer Identitätskrise wie ganz China" und suchte auch nach ihren "Wurzeln". Sie schildert einen Besuch in dem Dorf Taishan, aus dem ihr Großvater stammte, der vor Jahrzehnten in die Vereinigten Staaten ausgewandert war. Die junge Frau fand ihre Verwandten arm, kaum des Lesens und Schreibens kundig. Und sie hörte, daß ihr Großvater seine Frau hatte sitzenlassen, allein mit gefälschten Papieren nach Amerika gegangen war und dort wieder geheiratet hatte. Sie beschreibt den Zwiespalt der Gefühle: Scham, aber auch Erleichterung. Ohne ihren Großvater wäre sie nicht in Amerika, sondern in China geboren, wäre auch sie nicht Korrespondentin der New York Times, sondern wahrscheinlich Bäuerin in dem Dorf Taishan.
Sheryl WuDunn und ihr Mann Nicholas Kristof haben über ihre Arbeit in China ein Buch geschrieben, das auf anrührende Weise persönliche Geschichte, journalistische Erlebnisse und chinesischen Alltag verbindet. Das Ehepaar hatte sich voller Eifer im Jahr 1988 in das Abenteuer China gestürzt, motiviert durch politisches Interesse an den Veränderungen, Frau WuDunn war besonders engagiert auch wegen ihrer Herkunft. Ihr chinesisches Aussehen brachte Frau WuDunn Vor- und Nachteile bei der Arbeit in China. Sie konnte sich unters Volk mischen, ohne wie alle anderen westlichen Ausländer durch Haarfarbe und Gesicht aufzufallen. In Händeln mit den Sicherheitsorganen konnte sie aber auch zeitweise erleben, daß die Polizei sie wie eine Chinesin, das heißt rabiat und brutal, behandelte, bis man herausfand, daß man es mit einer Amerikanerin zu tun hatte.
Was die Autoren erlebt und journalistisch packend niedergeschrieben haben, ist oft erschütternd. Man liest die Geschichte eines Pekingers Ehepaares, dessen behinderter Sohn von der Polizei abgeholt und eingesperrt wird, weil die Asienspiele in der Stadt Peking stattfinden sollten und man glaubte, daß der Anblick von geistig Behinderten den ausländischen Besuchern nicht zugemutet werden konnte. Der Sohn stirbt im Gefängnis, den armen Eltern wird ein geschundener, geschlagener Körper präsentiert. Man liest von Dissidenten und was sie im Gefängnis durchzumachen hatten und natürlich von der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989.
Auch bei der Schilderung der Schreckensgeschichten widerstehen aber Kristof und WuDunn der Versuchung, platte Urteile zu fällen, grob auf die bösen Chinesen einzuhauen. Immer wird erklärt, werden Zusammenhänge dargelegt. Eine bösartige Verleumdung Chinas, die das chinesische Außenministerium den beiden ständig vorgeworfen hat, ist dieses Buch nicht. Die Autoren bemühen sich im Gegenteil auch, die positiven Seiten der chinesischen Entwicklung aufzuzeigen: die besseren Lebensbedingungen und materielle Versorgung, die Mobilität, die persönlichen Freiheiten, die zugenommen haben, wie mehr Wahl bei Beruf und Arbeitsplatz, und die Möglichkeiten, ins Ausland zu reisen, für die Bauern die Aufhebung des Bannes, lebenslang ans Dorf gebunden zu sein.
Zu Recht warnen die Autoren davor, den Fortschritt in China als bedeutungslos abzutun, nur weil er in unseren Augen einseitig auf die Wirtschaft beschränkt ist. In einem armen Bergdorf kann eine neue Fabrik, in der die ländliche Bevölkerung Arbeit findet, eine Bedeutung haben, die der einer neuen Freiheit gleichkommt. Ein paar hundert Yuan mehr im Jahr bedeuten auf dem Land, daß auch arme Familien in ein Krankenhaus gehen können, daß Mutter und Kind die Geburt überleben und daß die Kindersterblichkeit zurückgeht.
Auf die Frage, ob es eine Formel für moralischen Ausgleich gibt, die Errungenschaften des Systems gegen seine Gewalttaten aufzurechnen, wissen auch Kristof und WuDunn keine Antwort. Trotz der Gewalttaten, die die Autoren gesehen und über die sie geschrieben haben, trotz der Einblicke in Korruption und Willkürherrschaft, die sie hatten, kommen sie zu einem positiven Ausblick. China werde sich ändern. Die neue Dynastie werfe ihre Schatten voraus. Sie habe die Konturen von Satellitenschüsseln, von schräger Rockmusik und von neuen Privatschulen. Diese Analyse von zwei China-Kennern, denen nun niemand den Vorwurf machen kann, sie verteidigten die chinesische Regierung, läßt hoffen und setzt ein solides Gegengewicht zu der derzeitigen Neigung, in China nur Negatives zu sehen. PETRA KOLONKO
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main