Siebenmal Fühlen ist besser als hundertmal Denken, weiß man in China. Während im Westen der Kopf regieren will, entscheidet im Osten weit freimütiger der Bauch. Freude, Wut, Trauer, Angst, Liebe, Hass und Begehren: In China bilden diese sieben Grundgefühle die sozial akzeptierte Grundlage des menschlichen Verhaltens.In 14 Episoden und ungewöhnlichen Begegnungen spürt der Journalist und Asienkenner Marcus Hernig dem Fühlen der Menschen nach. Nichts entgeht dem genauen Beobachter. Ungeschönt, aber voller Humor und mit großer Empathie erzählt er von ihrem Miteinander, ihrem Glück, ihrem Leid. Schnell wähnt sich hier der Leser in ihrer Mitte.Ein sehr persönliches Porträt der chinesischen Gesellschaft. Und ein Kultur(ver)führer für alle, die das Reich der Mitte von seiner anderen Seite kennenlernen wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2015Dieser Bauch gibt uns doch sehr zu denken
Wir Deutschen sind viel zu kompliziert: Marcus Hernig weiß, wie man zum Chinesenversteher werden kann.
Viele Deutsche, die einmal in China waren, finden, dass es eine Kluft gibt zwischen dem, was man in den deutschen Medien über das Land lesen kann, und ihrer eigenen Erfahrung dort. Woran liegt das? Auch die Schreibenden haben ja meistens die Erfahrung Chinas gemacht, und eine willentliche Verzerrung der Realität durch die deutschen Medien anzunehmen, wie das etwa chinesische Politiker gern tun, würde einen Grad an Verschwörungsfähigkeit voraussetzen, der den meisten Journalisten ganz fremd ist. Kann es sein, dass dem China-Expertentum generell etwas entgeht, das sich nur dem an Vergegenständlichungen gar nicht interessierten Amateur erschließt?
Die Antwort, die der Autor Marcus Hernig in seinem Buch "Chinas Bauch" gibt, ist so verblüffend wie bestechend: Wer eine Ahnung von China bekommen will, sollte nicht bloß auf Ideen achten, sondern auf Gefühle. "Warum der Westen weniger denken muss, um den Osten besser zu verstehen", heißt es im Untertitel pointiert. In der Tat sind die Abstraktionen, mit denen man etwa die Politik beschreibt, zwar unverzichtbar, doch häufig suggerieren sie ein Bescheidwissen zu früh, weil auch die gleichen Begriffe in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich aufgefasst werden können.
So dienen sie oft bloß der Abgrenzung und der Bestätigung schon zuvor gefasster Urteile. Abstraktionen der Kultur oder der Philosophie wiederum, die das "andere" oder "Fremde" in China dingfest zu machen suchen, geraten rasch zum Klischee und eignen sich dann bestens für Instrumentalisierungen aller Art. So konzentriert sich Marcus Hernig lieber auf den "Bauch", und das hat in der Direktheit seiner Schilderungen eine Frische und Plausibilität, die das Buch in der Fülle der Chinakennerliteratur auffällig macht. Hernig orientiert sich am Kanon der sieben Gefühle, die das konfuzianische "Buch der Riten" im vierten vorchristlichen Jahrhundert aufstellt: Freude, Wut, Trauer, Angst, Liebe, Hass und Gier. Die einzelnen Gemütszustände handelt er nicht diskursiv ab, er nähert sich ihnen eher von der Seite her, indem er erzählt, und zwar nicht nur eigene Erlebnisse, sondern genauso historische Ereignisse und was sich im Internet tut.
Am besten gelingt das gleich im Eingangskapitel "Freude". Hernig schafft es zu zeigen, dass das Glück eines Essens auf dem Lande, das er da schildert, aus nichts anderem kommt als den knackig frischen Bohnen, dem rauchigem groben Tofu und dem kleinen, zarten, aber festen Pak-Choi-Gemüse - und aus keinerlei weiteren psychologischen oder ambientebedingten Zutaten. Diese "Freuden der Bauern" seien in der Sprache des World Happiness Report eher als die flüchtigen "affektiven Freuden" des Alltags einzuordnen denn als "evaluatorische Freuden", die die Zufriedenheit über ein geglücktes Leben und dessen Umfeld im Ganzen ausdrücken: "Wer chinesisches Glück empfinden will, muss bereit sein, dieses immer wieder neu zu suchen - dauerhaft wird es sich nie einstellen."
Dies illustriert auch die Anekdote vom Bauern Li, der durch Abtretung seiner Landnutzungsrechte an eine Ölgesellschaft zu Reichtum gekommen war. Mit Sohn und Enkel suchte er einen BMW-Laden in der nächsten großen Stadt auf. Mit dem, was ihm der Händler über die Autos und ihre Technik sagte, konnte er nichts anfangen, aber als der Verkäufer bemerkte, dass die Sitze des 7er aus Ochsenleder seien und dass man für einen Wagen mindestens einen ausgewachsenen Zugochsen brauche, strahlten seine Augen. So einen Zugochsen hatte er selbst einmal. Gleich bestellte er einen 7er für sich, einen 5er für den Sohn und ein 3er Cabrio für den Enkel. "Die Autos ließ er mit einer roten Schärpe wie ein Hochzeitsgeschenk verpacken und sich nachsenden."
Eine besondere Qualität des Buchs ist, dass es selbst bei Geschichten wie dieser dem routinierten Impuls zur Ironie oder Geringschätzung widersteht, mit dem man in der üblichen Beurteilungsmaschinerie leicht Einverständnis herstellen kann und sich fremde Erfahrungen bequem vom Leibe hält. Hier dagegen wird die fremde Erfahrung erst mal ganz ernst genommen und stehengelassen, wie sie ist, ganz ohne Augenzwinkern: "Einfach das Leder spüren, zu wissen, was wirklich Wert hat. Ist das nicht Glück?"
So erreicht der Autor eine erstaunliche Empathie und schafft es, die Leser viele sehr unterschiedliche chinesische Augenblicke nachfühlen zu lassen, als wären sie selbst mittendrin, ob es nun das Gefühl ist, von gedungenen Schlägern aus der seit Jahren gemieteten Wohnung vertrieben zu werden, das Gefühl der Geborgenheit, das nicht nur junge Frauen bei ihrem Kult alles Niedlichen überkommt, oder das Gefühl des Hasses, das viele Chinesen Japan gegenüber kultivieren. Einfühlung heißt nicht unbedingt Affirmation. Dass die Gefühlsmuster nicht aus dem Nichts kommen, sondern gesellschaftliche Ursachen haben, weiß Hernig; deshalb fügt er bisweilen historische und soziologische Exkurse an, die jedoch der antiabstrakten Grundausrichtung des Buchs etwas zuwiderlaufen. Bei Verallgemeinerungen wie "Indien brilliert in der Verneinung der stofflichen Welt, China in ihrer Bejahung" steckt er wieder in den Fängen gedanklicher Konstruktionen, die er eigentlich hinter sich gelassen hatte. Andererseits macht die Erörterung etwa der Beweggründe des allgegenwärtigen Zorns kurz vor den Machtverhältnissen, also der Kommunistischen Partei Chinas, halt, ohne die aber so emotional aufgeladene Phänomene wie Ungleichheit oder Zukunftsangst in China nicht zu verstehen sind. Doch der Anspruch des Buches ist ja auch nicht, die Analyse des Systems zu ersetzen. Der Bauch gibt schon zu denken genug; immer wieder kommt der Autor auf die frappierende Einfachheit und Direktheit der chinesischen Gefühle zu sprechen - eine Einfachheit, wie man ergänzen kann, die für so komplizierte Wesen, wie es zum Beispiel die Deutschen sind, gar nicht so leicht zu verdauen ist. Was daraus nun politisch folgt, wäre Stoff für einen weiteren Essay.
MARK SIEMONS.
Marcus Hernig: "Chinas Bauch". Warum der Westen weniger denken muss, um den Osten besser zu verstehen.
Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015. 227 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wir Deutschen sind viel zu kompliziert: Marcus Hernig weiß, wie man zum Chinesenversteher werden kann.
Viele Deutsche, die einmal in China waren, finden, dass es eine Kluft gibt zwischen dem, was man in den deutschen Medien über das Land lesen kann, und ihrer eigenen Erfahrung dort. Woran liegt das? Auch die Schreibenden haben ja meistens die Erfahrung Chinas gemacht, und eine willentliche Verzerrung der Realität durch die deutschen Medien anzunehmen, wie das etwa chinesische Politiker gern tun, würde einen Grad an Verschwörungsfähigkeit voraussetzen, der den meisten Journalisten ganz fremd ist. Kann es sein, dass dem China-Expertentum generell etwas entgeht, das sich nur dem an Vergegenständlichungen gar nicht interessierten Amateur erschließt?
Die Antwort, die der Autor Marcus Hernig in seinem Buch "Chinas Bauch" gibt, ist so verblüffend wie bestechend: Wer eine Ahnung von China bekommen will, sollte nicht bloß auf Ideen achten, sondern auf Gefühle. "Warum der Westen weniger denken muss, um den Osten besser zu verstehen", heißt es im Untertitel pointiert. In der Tat sind die Abstraktionen, mit denen man etwa die Politik beschreibt, zwar unverzichtbar, doch häufig suggerieren sie ein Bescheidwissen zu früh, weil auch die gleichen Begriffe in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich aufgefasst werden können.
So dienen sie oft bloß der Abgrenzung und der Bestätigung schon zuvor gefasster Urteile. Abstraktionen der Kultur oder der Philosophie wiederum, die das "andere" oder "Fremde" in China dingfest zu machen suchen, geraten rasch zum Klischee und eignen sich dann bestens für Instrumentalisierungen aller Art. So konzentriert sich Marcus Hernig lieber auf den "Bauch", und das hat in der Direktheit seiner Schilderungen eine Frische und Plausibilität, die das Buch in der Fülle der Chinakennerliteratur auffällig macht. Hernig orientiert sich am Kanon der sieben Gefühle, die das konfuzianische "Buch der Riten" im vierten vorchristlichen Jahrhundert aufstellt: Freude, Wut, Trauer, Angst, Liebe, Hass und Gier. Die einzelnen Gemütszustände handelt er nicht diskursiv ab, er nähert sich ihnen eher von der Seite her, indem er erzählt, und zwar nicht nur eigene Erlebnisse, sondern genauso historische Ereignisse und was sich im Internet tut.
Am besten gelingt das gleich im Eingangskapitel "Freude". Hernig schafft es zu zeigen, dass das Glück eines Essens auf dem Lande, das er da schildert, aus nichts anderem kommt als den knackig frischen Bohnen, dem rauchigem groben Tofu und dem kleinen, zarten, aber festen Pak-Choi-Gemüse - und aus keinerlei weiteren psychologischen oder ambientebedingten Zutaten. Diese "Freuden der Bauern" seien in der Sprache des World Happiness Report eher als die flüchtigen "affektiven Freuden" des Alltags einzuordnen denn als "evaluatorische Freuden", die die Zufriedenheit über ein geglücktes Leben und dessen Umfeld im Ganzen ausdrücken: "Wer chinesisches Glück empfinden will, muss bereit sein, dieses immer wieder neu zu suchen - dauerhaft wird es sich nie einstellen."
Dies illustriert auch die Anekdote vom Bauern Li, der durch Abtretung seiner Landnutzungsrechte an eine Ölgesellschaft zu Reichtum gekommen war. Mit Sohn und Enkel suchte er einen BMW-Laden in der nächsten großen Stadt auf. Mit dem, was ihm der Händler über die Autos und ihre Technik sagte, konnte er nichts anfangen, aber als der Verkäufer bemerkte, dass die Sitze des 7er aus Ochsenleder seien und dass man für einen Wagen mindestens einen ausgewachsenen Zugochsen brauche, strahlten seine Augen. So einen Zugochsen hatte er selbst einmal. Gleich bestellte er einen 7er für sich, einen 5er für den Sohn und ein 3er Cabrio für den Enkel. "Die Autos ließ er mit einer roten Schärpe wie ein Hochzeitsgeschenk verpacken und sich nachsenden."
Eine besondere Qualität des Buchs ist, dass es selbst bei Geschichten wie dieser dem routinierten Impuls zur Ironie oder Geringschätzung widersteht, mit dem man in der üblichen Beurteilungsmaschinerie leicht Einverständnis herstellen kann und sich fremde Erfahrungen bequem vom Leibe hält. Hier dagegen wird die fremde Erfahrung erst mal ganz ernst genommen und stehengelassen, wie sie ist, ganz ohne Augenzwinkern: "Einfach das Leder spüren, zu wissen, was wirklich Wert hat. Ist das nicht Glück?"
So erreicht der Autor eine erstaunliche Empathie und schafft es, die Leser viele sehr unterschiedliche chinesische Augenblicke nachfühlen zu lassen, als wären sie selbst mittendrin, ob es nun das Gefühl ist, von gedungenen Schlägern aus der seit Jahren gemieteten Wohnung vertrieben zu werden, das Gefühl der Geborgenheit, das nicht nur junge Frauen bei ihrem Kult alles Niedlichen überkommt, oder das Gefühl des Hasses, das viele Chinesen Japan gegenüber kultivieren. Einfühlung heißt nicht unbedingt Affirmation. Dass die Gefühlsmuster nicht aus dem Nichts kommen, sondern gesellschaftliche Ursachen haben, weiß Hernig; deshalb fügt er bisweilen historische und soziologische Exkurse an, die jedoch der antiabstrakten Grundausrichtung des Buchs etwas zuwiderlaufen. Bei Verallgemeinerungen wie "Indien brilliert in der Verneinung der stofflichen Welt, China in ihrer Bejahung" steckt er wieder in den Fängen gedanklicher Konstruktionen, die er eigentlich hinter sich gelassen hatte. Andererseits macht die Erörterung etwa der Beweggründe des allgegenwärtigen Zorns kurz vor den Machtverhältnissen, also der Kommunistischen Partei Chinas, halt, ohne die aber so emotional aufgeladene Phänomene wie Ungleichheit oder Zukunftsangst in China nicht zu verstehen sind. Doch der Anspruch des Buches ist ja auch nicht, die Analyse des Systems zu ersetzen. Der Bauch gibt schon zu denken genug; immer wieder kommt der Autor auf die frappierende Einfachheit und Direktheit der chinesischen Gefühle zu sprechen - eine Einfachheit, wie man ergänzen kann, die für so komplizierte Wesen, wie es zum Beispiel die Deutschen sind, gar nicht so leicht zu verdauen ist. Was daraus nun politisch folgt, wäre Stoff für einen weiteren Essay.
MARK SIEMONS.
Marcus Hernig: "Chinas Bauch". Warum der Westen weniger denken muss, um den Osten besser zu verstehen.
Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2015. 227 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main